AUF VERSCHLUNGENEN PFADEN/THE RETURN OF THE NATIVE

Ein eher akademisches Lesevergnügen

Eustacia liebt Wildeve – zumindest so lang, wie dieser auch von anderen Frauen, allen voran Thomasin, begehrt wird. Der „Rötelmann“, Diggory Venn mit Namen, liebt Thomasin, würde seinen Gefühlen jedoch niemals Ausdruck verleihen. Und dann kommt Clym Yeobright heim und Eustacia beschließt, diesen zu lieben, ohne ihn je zu Gesicht bekommen zu haben. Denn Clym – jener „Native“, der Thomas Hardys siebten (oder sechsten, je nach Zählung der Veröffentlichung) Roman den Originaltitel THE RETURN OF THE NATIVE (1878; Dt. hier: AUF VERSCHLUNGENEN PFADEN/2015) verlieh – eilt der Ruf des Lebemanns voraus, hat er die vergangenen Jahre doch in Paris verbracht. Und Paris, das ist für Eustacia gleichbedeutend mit der Welt, die ihr unerreichbar erscheint. Eustacia nämlich fühlt sich in der Heide, in Egdon Heath, wie gefangen und träumt von Aus- und Aufbruch in die Welt, gleichsam das Leben hinein, das ihr hier, wo sie bei ihrem Großvater, dem Kapitän Drew, lebt, verwehrt bleibt.

Schon die Aufzählung des Liebesreigens, der den Leser erwartet, sollte verdeutlichen, dass wir es hier mit einem wahren Karussell der Gefühle zu tun haben, aber auch, dass die Anordnung einem Laborversuch ähnelt. Und einige wesentliche Figuren wurden noch gar nicht erwähnt, obwohl ihre Rollen maßgeblich für Verlauf und Wendepunkte der Handlung verantwortlich sind. Allen voran Mrs. Yeobright, Clyms Mutter, die sowohl Thomasins Hochzeit mit Wildeve missbilligt, als auch die spätere Vereinigung ihres Sohnes mit Eustacia. Dieses Missbilligen, der Blick auf den oder die anderen, die Frage nach Stand und Entsprechung – all diese Aspekte spielen hier in Hardys Text hinein und wirken doch seltsam aufgesetzt. Was bspw. einen Mann wie Wildeve – zugegeben, „nur“ ein Wirt – für eine junge Frau wie Thomasin so unmöglich erscheinen lässt, kann der Text nie wirklich überzeugend vermitteln. Mrs. Yeobrights Missbilligung bleibt eine Behauptung und erscheint somit letztlich wie eine Laune. Und mit Launen – vor allem was die junge Ms. Eustacia betrifft – scheint man es in THE RETURN OF THE NATIVE vor allem zu tun zu haben. Ein Umstand, der die Lektüre ab und an schwer erträglich macht.

Thomas Hardy war immer einer der aufmerksamsten Beobachter seiner Zeit und schließlich, was vor allem seine späten Werke auszeichnen sollte, auch einer der schärfsten Kritiker der viktorianischen Moralvorstellungen hinsichtlich Sexualität und Klassen-, bzw. Standesbewusstsein. Doch hier scheint es ihm vor allem auf Menschliches und Allzumenschliches angekommen zu sein. Und beschäftigt man sich dann mit dem Roman auf der literaturwissenschaftlichen Ebene, stößt man schnell darauf, dass Hardy eine nahezu antik-klassische Form wählte, um seinen Stoff anzuordnen und die Schicksalhaftigkeit besonders herauszustellen, der seine ProtagonistInnen unterliegen. Entgegen vieler seiner sonstigen Romane und Geschichten, schränkt in diesem Falle genau das Schicksalhafte, die Anordnung, der Laborversuch, das Lesevergnügen aber deutlich ein. Denn einerseits ist alles, was schließlich geschieht – und es wird, wie bei Hardy üblich, dramatisch – recht vorhersehbar, andererseits fehlt dem Roman trotz seiner teils atemberaubenden Beschreibungen der Landschaft und der jahreszeitlichen Naturveränderungen – der Zeitraum, den die Kernhandlung einnimmt, umfasst ziemlich genau ein Jahr – eben doch der gesellschaftspolitische Anspruch und die damit sonst bei Hardy so genaue Beobachtung des viktorianischen Englands und jener Veränderungen gerade des ländlichen Raums, die seine Erzählungen so häufig ausmachen. Es fehlt der Gegensatz zwischen der Beobachtung des Landes, der Wildnis, die Egdon Heath darstellt, dem Vergehen der Zeit in einem Natur-Zyklus, und den Veränderungen in der Gesellschaft, im Sozialen. Wohl beobachtet Hardy die Veränderungen und Wandlungen der einzelnen Personen, bleibt aber, anders als in seinen großen Romanen, die psychologischen Erklärungen meist schuldig.

Man kann viele Werke des 19. Jahrhunderts nach wie vor mit Lust und Zugewinn – auch zur reinen Unterhaltung – lesen. Manche allerdings sind letztlich nur noch als Studienobjekte für die Wissenschaft interessant. Leider muss man Hardys THE RETURN OF THE NATIVE letzteren zuschlagen. So großartig und psychologisch genau viele seiner Figuren oftmals sind – gerade die Frauenfiguren in FAR FROM THE MADDING CROWD oder JUDE THE OBSCURE, von TESS OF THE D´URBERVILLES natürlich ganz zu schweigen (auch wenn der Verfasser dieser Zeilen zugibt, ein ganz besonderes Faible für Bathsheba Everdene aus dem erstgenannten Werk zu haben) – so durchschaubar sind sie hier und auch, wenn ihre Motivationen stimmen mögen, merkt man ihnen an, dass der Autor sie oft rein funktional definiert, bestimmt und nutzt. So ist dem Leser schnell klar, dass Eustacia ein typisches Exempel jener jungen (weiblichen) Menschen ist, die sich in der Provinz gefangen fühlen, die ausbrechen, die Welt sehen und erobern wollen und für die – die Literatur ist schließlich voll von ihnen – oftmals der geeignete Gatte den einzigen Ausweg bedeutet. Können junge Männer zumindest zur See fahren oder, meist, sich dem Militär zuwenden, so sind die Frauen doch eben Gefangene eines engen kulturellen Korsetts, das wenig Möglichkeiten für sie vorsieht. So ist vielleicht nachvollziehbar, dass Eustacia sich in einen Mann verliebt, den sie nie gesehen, von dem sie lediglich gehört hat. Clym Yeobright, der aus Paris zurückkehrt, auf Urlaub, wie nicht nur Eustacia, sondern durchaus auch seine Mutter annimmt, bringt eben jene Weltläufigkeit in die Heide, die dieser komplett abzugehen scheint. Dennoch wirkt diese Liebe doch wie die Laune einer an sich schon sehr launischen jungen Dame. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass, bevor Clym auch nur Erwähnung findet, wir schon einige von Eustacias Launen erleben durften. Launen, die dem Leser (auch der Leserin?) schlicht auf die Nerven fallen.

Es ist natürlich Hardys technischem Talent als Schriftsteller zu verdanken, dass er genau diesen Clym Yeobright nun also als einen Mann einführt, der all dem, wofür Paris im Buch und in Eustacias Vorstellung steht, abgeschworen hat. Er, der sein Geld – kein Vermögen, jedoch ein gutes Auskommen – im Diamanten- und Juwelenhandel verdiente, und damit auch der ganze Stolz seiner Mutter, möchte sich wieder in seiner Heimat, in den abgelegenen Ebenen des südlichen Wessex County niederlassen und am liebsten, auch wenn ihm bisher jede Befähigung dazu fehlt, eine Schule gründen, die es ihm erlaubt, auch den Kindern der Ärmsten, der Arbeiter und Tagelöhner, eine vernünftige Bildung und damit eine gute Grundlage für zukünftige Aufstiegsmöglichkeiten zugutekommen zu lassen.

Dieses Anliegen Clyms deutet noch am ehesten auf Hardys sozial- und gesellschaftspolitische Ambitionen hin, auch wenn es nie zur Gründung der Schule kommt, da Clym sich zunächst die erforderlichen Kenntnisse nicht nur pädagogischer Natur aneignen muss. So erscheint sein Wunsch – bei aller guten Absicht, die dahinterstecken mag – eher wie ein schwärmerisches Anliegen. Dass er, als eine Augenkrankheit ihn daran hindert mit seinen Studien fortzufahren, bereit ist, sich als Ginsterstecher zu verdingen und damit die Arbeit eines Tagelöhners zu verrichten, ehrt ihn sicherlich, lässt ihn aber einmal mehr wie ein komplett aus der Zeit gefallenes Subjekt erscheinen. So endet er am Schluss des Romans als Wanderprediger. Wohl kaum seine Bestimmung, jedoch ein angemessener Abschluss seiner moralisch besseren Karriereversuche.

Wildeve, jener Mann, der lange ein Verhältnis mit Eustacia unterhielt, sie dann für Thomasin fallen ließ und später, sobald die Ehe mit der so unschuldig wirkenden Cousine Clyms vollzogen ist, wieder zu seiner einstigen Liebe zurückkehrt, ist eine interessant austarierte Figur, der Hardy ein gerüttelt Maß an Ambivalenz einzuschreiben vermag, doch ist das Ende des Romans, welches für diese beiden romantisch Liebenden so tragisch schließt, dann doch zu überkandidelt melodramatisch, als dass der Leser sich allzu lange bei den tieferen Motiven einer Figur wie Wildeve aufhalten mag.

Wirklich interessant ist letztlich vor allem Diggory Venn, der Thomasin still liebt, kein Wort sagt und sich seines Standes als „Rötelmann“ nur allzu bewusst ist. Die „Rötelmänner“ waren meist fahrende Händler, die Rotstein verkauften, ein Färbemittel, welches die Bauern nutzten, um ihre Schafe zu markieren. Der alltägliche Umgang mit dem Pulver führte dazu, dass die Händler selbst nach und nach die rötliche Farbe annahmen, drang der feine Staub doch in jede Pore, in die Haare und die Kleider sowieso. So ist Venn, wann immer er auftaucht – und Hardy gibt ihm in seiner Geschichte ein wenig die Funktion eines deus ex machina – immer gekennzeichnet. Natürlich missbilligt Mrs. Yeobright auch eine etwaige Verbindung ihrer Nichte mit Venn, solange dieser seinem Gewerbe nachgeht. Als er dieses niederlegt und sich erfolgreich als Farmer verdingt, ist Mrs. Yeobright bereits verstorben und kann so ihren Segen nicht mehr erteilen. Venn allerdings ist und bleibt die interessanteste Gestalt in diesem Ensemble, obwohl er zwar äußerlich die eindeutigste Wandlung durchläuft, innerlich jedoch immer derselbe zu bleiben scheint. Ein Edelmann.

Hardy weist im vierten Kapitel des sechsten Buchs explizit in einer Fußnote darauf hin, dass die Konzeption seines Romans ursprünglich eine andere gewesen sei und nie ein Happyend geplant war. Verlegerische, also letztlich kommerzielle Überlegungen seien verantwortlich gewesen, dass Venn Thomasin heiratete und damit zumindest für diese die Geschichte zu einem versöhnlichen Ende führte. Eine erstaunliche Notiz mitten in einem erzählenden Text. Doch beweist Hardy damit auch Mut: Er wollte eine klassische, der Antike nachempfundene Geschichte, die einem Uhrwerk gleich abläuft und ihrem bitteren Ende entgegenstrebt. Es ist dann eben genau diese Unerbittlichkeit, dieses Uhrwerk, welches dem Leser auf den ersten 40 bis 50 Seiten bewusstwird, welche das Lesevergnügen so deutlich einschränkt. Denn dadurch ist den Figuren doch zu Vieles vorherbestimmt und sind deren Verhalten und Entscheidungen zu absehbar, als dass Hardys Erzählung wirklich Spannung generieren könnte.

So bleibt die Lektüre von THE RETURN OF THE NATIVE ein eher akademisches Vergnügen, das es erlaubt, den Werdegang eines Meisters nachzuvollziehen. Wirkliche Spannung, echte Unterhaltung, ein wahres literarisches Vergnügen bleiben dem modernen Leser allerdings verwehrt.

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