AUGEN DER ANGST/PEEPING TOM
Michael Powells nahezu dialektische Meditation über das Wesen der Kamera und des Gesehen-Werdens
Mark Lewis (Karlheinz Böhm, hier als Carl Boehm) arbeitet als Kameramann bei einer Filmproduktion. Er hofft, selbst zum Filmemacher aufsteigen zu können. Privat fotografiert er pornographische Bilder. Was niemand weiß: Mark zieht nachts durch die Straßen, folgt Prostituierten, bietet ihnen Geld für Aufnahmen, die er mit seiner Stativkamera von ihnen machen will. Wenn sie ihm zusagen, tötet er sie während er sie filmt mit einem im Stativ versteckten Messer und hält so den Moment ihrer größten Angst und den ihres Todes auf Zelluloid fest.
Mark ist keineswegs auf seine Einnahmen mit den Nacktbildern oder sein Salär beim Film angewiesen. Ihm gehört das Haus, in dem er wohnt, er hat es von seinem mittlerweile verstorbenen Vater geerbt. So war es ihm auch möglich, unbeobachtet eine Dunkelkammer und ein geheimes Kino in seine Wohnung einzubauen, wo er seine Filme heimlich entwickeln und betrachten kann.
Die meisten Wohnungen und Appartements des Hauses sind jedoch über eine Agentur vermietet. So bewohnt das Erdgeschoss eine junge Dame namens Helen Stephens (Anna Massey) mit ihrer blinden Mutter (Maxine Audley). Gelegentlich trifft Mark Helen auf der Treppe und unterhält sich mit ihr. Ab und zu beobachtet Mark Helen und ihre Mutter auch durch das Fenster ihres Wohnzimmers, wenn er sich unbeobachtet wähnt.
Heimlich beobachtet er auch die Party, die Helen an ihrem Geburtstag gibt, was ihr allerdings auffällt. Sie sucht ihn in seinem Appartement auf und fordert ihn auf, sie auf ihre Party zu begleiten, doch Mark lehnt dies ab. Zwischen den beiden entsteht eine etwas intensivere Situation und Mark lässt Helen sogar in sein Refugium, wo er seine heimlichen Filme schaut.
Hier zeigt er ihr Filme, die sein Vater, ein berühmter Psychiater und Psychologe, einst von ihm gemacht hat. Darauf ist Mark als ein verängstigter Junge (Columba Powell) zu sehen, der gleichsam gequält wird, indem ihm eine große Eidechse ins Bett gesetzt wird und er flehentlich darum bittet, das Tier wegzunehmen, sein Vater jedoch – angeblich für ein wissenschaftliches Experiment – weiterhin mit der Kamera das schreiende Kind beobachtet. Sogar die Reaktionen des Kindes am Sterbebett seiner Mutter beobachtet der Vater mit der Kamera. Und auch ansonsten wurde der Junge permanent durch – teils heimlich angebrachte – Kameras beobachtet. Die Auswertung dieser Filme begründete einst die Reputation des berühmten Vaters.
Trotz dieses spontanen und zufälligen Treffens mit Helen ist und bleibt Mark ein ausgesprochen schüchterner junger Mann, dem es schwerfällt, soziale Kontakte zu knüpfen. Schon gar nicht ist an eine intime Beziehung zu einer Frau wie Helen zu denken, obwohl sie Mark durchaus ihr Interesse an ihm und seiner Geschichte signalisiert.
Auch Vivian (Moira Shearer), eine Kollegin vom Filmset, macht Mark eindeutige Avancen. Mit ihr soll er eines Abends nach Drehschluss heimlich Aufnahmen auf dem Set des Films machen, an dem sie arbeiten. Mark erklärt sich einverstanden, tötet Vivian dann aber während der Aufnahmen und versteckt die Leiche in einem Koffer am Set.
Am nächsten Morgen wird sie von der Hauptdarstellerin Diana (Shirley Anne Field) entdeckt, die dies zunächst für einen schlechten Scherz des Regisseurs hält, mit dem sie wegen einer Ohnmacht, die sie gegen die Absprachen und die Anweisungen des Drehbuchs spielen soll, im Clinch liegt.
Die Polizei kommt ins Studio. Jeder, der am Film mitarbeitet, wird befragt, auch Mark, der ununterbrochen seine Kamera laufen lässt und die Arbeit der Polizisten somit festhält. Er war auch nach dem Mord an der Prostituierten an den Tatort zurückgekehrt und hatte sich dort als Reporter ausgegeben und gedreht. Nun behauptet er gegenüber der Polizei, an einem Dokumentarfilm zu arbeiten. So erhält er das Recht, die Befragungen und Ermittlungen vor Ort zu filmen.
Schnell bringt die Polizei den Mord an der Prostituierten und den an Vivian miteinander in Verbindung. Die Gesichter beider Frauen weisen den Ausdruck äußersten Schreckens auf, beide Leichen weisen ähnliche Stichverletzungen auf.
Helen gelingt es, mit Mark auszugehen und kann ihn sogar überreden, seine Kamera ausnahmsweise nicht mitzunehmen. Auf dem Heimweg küsst Helen Mark flüchtig, der sich weder wehren kann, noch wirklich wehren will.
Derweil ist Mrs. Stephens misstrauisch gegenüber Mark geworden. Trotz ihrer Blindheit weiß sie, dass Mark sie und Helen öfters durch das Wohnzimmerfenster beobachtet. Als Mark nun an diesem Abend mit Helen heimkommt, wartet Mrs. Stephens in seinem Appartement auf ihn. Sie konfrontiert ihn mit ihrer Ahnung und es kommt zu einer durchaus freundlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Mark, der unter enormen inneren Druck steht, schaltet den Film an, der den Mord an der Prostituierten und jenen an Vivian zeigt, ohne die Tonspur laufen zu lassen. Mrs. Stephenson spürt, wie aufgewühlt Mark ist und lässt ihn wissen, dass sie, wenn er sich Helen nähere, ausziehen werde. Mark erklärt ihr, Helen niemals zu fotografieren oder zu filmen, ihr niemals etwas anzutun. Damit verrät er sich mehr oder weniger gegenüber Helens Mutter.
Ein Psychiater wird von der Polizei an das Set des Films gebracht, da die Ermittler hier den Schlüssel zu dem Fall vermuten. Der Psychiater soll vor allem Mit Diane reden, da sie etwas zu wissen scheint, was sie jedoch nicht preisgeben kann oder will. Eher zufällig kommt der Mann auch mit Mark ins Gespräch. So findet er heraus, wer Mark ist und dass er dessen Vater kannte. Als er den Polizisten seine Ergebnisse mitteilt, erklärt er, Mark habe die Augen seines Vaters.
Die Polizisten folgen Mark und beschatten ihn. So stoßen sie auf das heimliche Atelier, wo er die pornographischen Aufnahmen macht. Hier fotografiert er Milly (Pamela Green), deren Gesicht auf einer Seite wunderschön, auf der anderen jedoch fürchterlich entstellt ist. Mark scheint von dieser Entstellung fasziniert. Es gelingt ihm, das Haus unentdeckt zu verlassen. Schon wenig später findet die Polizei Millys Leiche. Der Verdacht gegen Mark erhärtet sich.
Helen ist in Marks Appartement eingedrungen, weil sie seine Filme, aus denen er solch ein Geheimnis macht, sehen will. So entdeckt sie, was Mark den jungen Frauen antut, die er fotografiert und filmt. Mark stellt sie und nun hat Helen doch deutlich Angst vor ihm. Er erklärt ihr, dass er den Moment festhalten will, in dem die Frauen begreifen, was mit ihnen geschieht. Er hat einen Spiegel auf seiner Kamera angebracht, in dem die Frauen sich selbst betrachten müssen, während er sie mit dem Messer im Stativ ersticht.
Mark hält auch Helen das Messer an den Hals, doch kann er nicht zustechen. Die Polizei dringt ins Gebäude ein. Mark verfolgt schon lange einen Plan: Als krönenden Abschluss seiner „Dokumentation“, die in seinen Augen mindestens die Qualität derer seines Vaters entsprechen soll, wirft er sich in das Stativ seiner Kamera, während diese läuft. Mark richtet sich selbst und filmt sich dabei. Helen bricht weinend über seiner Leiche zusammen.
Peeping Tom – das ist im Englischen der Voyeur, der geheime Betrachter, der verborgene Seher. Es ist aber auch eine Figur, die durch das Sehen erblindet, eine Figur, die für den ihr verbotenen Blick bestraft wird. Benannt ist sie nach einer wesentlichen Figur der Legende von Lady Godiva, die einst nackt durch die Stadt ritt, welcher ihr Mann viel zu hohe Steuern auferlegt hatte, um ihn so dazu zu bewegen, seine Untertanen weniger zu drangsalieren. Das leidende Volk sah nicht hin und ersparte der Schönen so die Scham. Nur ein Bürger konnte sich an dieses stille Abkommen nicht halten, er schaute – und verlor sein Augenlicht. Schauen als Verbrechen, Erblinden als Strafe – allerdings ein schon recht altes Motiv in der Literatur, denkt man bspw. an die Figur der Medusa in der griechischen Mythologie.
Es wird nicht von ungefähr gewesen sein, dass Michael Powell seinem Film PEEPING TOM (1960) dessen vielsagenden Titel gab. Auch wenn das Sehen und Gesehen-Werden hier zunächst für die Gesehenen zur Strafe wird, da der von Karlheinz Böhm gespielte junge Mann namens Mark Lewis die weiblichen Objekte vor seiner Kamera umbringt und sie in ihrem Todeskampf filmt oder fotografiert. Doch die spezifische Dialektik des Films lehrt den Zuschauer, dass es sich ganz so einfach nicht verhält. Es entstand eine 1960 schwer auszuhaltende Ambivalenz, die zudem mit mal recht offenen, mal eher subtilen sexuellen Konnotationen aufgeladen ist. Powells Film schlug mit Wucht bei den Kritikern ein – wenn auch nicht zum Guten. Der Film wurde in Großbritannien skandalisiert und musste geschnitten werden, ebenso erging es ihm in einigen anderen europäischen Ländern. Es dauerte, bis die Kritik – aber auch die Filmwissenschaft – die Bedeutung des Werks in dessen ganzer Tragweite begriff.
Bedeutung erlangte PEEPING TOM schließlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Wie der Titel und die mit ihm verbundenen Assoziationen bereits suggerieren, hat der Zuschauer es mit einer Meditation über das Sehen, das Gesehen-Werden (und also eine Objektivierung) ebenso zu tun, wie er einen Thriller präsentiert bekommt, dessen Bösewicht und seine Motivlage völlig neuartig waren: Ein normal wirkender junger Mann, allseits beliebt in seinem Arbeitsumfeld als Kameramann beim Film, sicherlich ein wenig schüchtern, mordet nachts Prostituierte und schließlich sogar ihm bekannte Statistinnen, um deren Todeskampf und mehr noch den Schrecken in ihren Augen festzuhalten, wenn sie begreifen, dass ihr Ende gekommen ist. Schon hier – der Film zeigt den ersten Mord direkt zu Beginn – wird die Kamera und der durch sie sexualisierte Blick ebenso offen thematisiert, wie die Tötung durch das im Stativ der Kamera versteckte Messer, ergo den Phallus, sexualisiert wird. Zu allem Überfluss werden diese als „krankhaft“ betrachteten Handlungen im Verlauf des Films auch noch psychologisch gedeutet und der Täter damit zwar nicht entschuldigt, jedoch erklärt und seine Handlungen nachvollziehbar gemacht. Auch er ist ein Opfer. Auch er war ein Objekt. Powell arbeitet diese spezifische, bereits erwähnte Dialektik des Sehens und Gesehen-Werdens systematisch aus, wobei er auch vor dem Zuschauer nicht halt macht und ihn einbezieht. Sicherlich ein weiterer Grund für die Ablehnung, die der Film erfuhr.
Vielleicht erkennt man diese Ebene des Films erst nach einiger Zeit, möglicherweise erst nach mehrmaligem Betrachten. Denn zunächst schockieren die Story und die darin versteckten psychoanalytischen Ansätze, durch die der Film als Psychothriller, mehr noch als Horrorfilm betrachtet wurde. PEEPING TOM ist seinem Erscheinungsbild nach jedoch in weiten Teilen ein romantischer Film, der einen jungen Mann präsentiert, der in seiner Schüchternheit und der damit einhergehenden Unsicherheit gefangen scheint, dem es kaum gelingt, wirkliche Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, gleich ob Frauen oder Männer. Ein junger Kerl, der als Kameramann arbeitet, dies jedoch eigentlich nicht nötig hat, da er ein Erbe besitzt und in einem Haus lebt, welches ihm gehört und in welchem er einzelne Zimmer und Wohnungen vermietet. Dass er ein Problem hat, dass er sogar zum Mörder geworden ist und erneut morden wird, offenbart der Film uns wie beschrieben relativ früh, womit die Spannung weniger der Frage entwächst, wer der Täter ist, als vielmehr aus der Konstellation und der Konfrontation mit anderen Figuren – allen voran der jungen Helen und ihrer erblindeten Mutter, die im Erdgeschoss des Hauses leben – und der Frage, ob Mark Lewis vor der Liebe Halt machen wird.
Denn Helen scheint sich ernsthaft für ihn zu interessieren, sogar dann noch, als sie bemerkt, dass mit ihrem neuen Bekannten etwas nicht ganz stimmen mag. Powell nimmt sich viel Zeit, die Beziehung der beiden zueinander aufzubauen und deren Entwicklung zu zeigen. Dabei wird Mark Lewis meist als schwach, mindestens aber als zurückhaltend gezeigt. So gestalten sich jene Szenen, in denen die Annäherung der beiden gezeigt wird zumeist ebenfalls zurückhaltend, vorsichtig, tastend, wodurch das Zarte betont wird, das sich hier anbahnt, zugleich aber auch die immer noch vorherrschende Moral in einem England kurz vor der Beatlemania und dem Beginn der Swingin´ Sixties. Diese Moral wird als eng, bevormundend und überkommen – kurz: als äußerst puritanisch – gekennzeichnet, zugleich ist dies aber auch eine Moral, gegen die die jungen Leute, die der Film zeigt, bereits aufbegehren oder bereits nicht mehr ernst nehmen.
Powell setzt weder auf Schocks, noch auf grelle Momente, wie es sein Landsmann Alfred Hitchcock in PSYCHO (1960) tat. Ein Film, zu dem PEEPING TOM immer wieder in Relation gesetzt wurde und wird; ein Film, der im gleichen Jahr erschien und seinerseits immensen Einfluss auf den Horrorfilm haben sollte, vor allem, weil er ebenfalls kein mythisches Monster präsentierte, sondern mit dem jungen Norman Bates, einem Motel-Besitzer, einen Mörder, der direkt nebenan wohnen könnte, einen Menschen, den jeder mag, dem niemand ein Arg zutrauen würde und dessen Taten deshalb umso grauenhafter wirken. Genau diese Strategie verfolgt auch PEEPING TOM. Statt aber mit Effekten, verstört Powell sein Publikum eher mit der Offenlegung der Motivik hinter den Morden, mit der Kälte und mit der Perfidie nicht nur des eigentlichen Täters, sondern auch jener, deren Opfer dieser selbst wurde.
Marks Vater, ein Wissenschaftler, hat ihn seine Kindheit hindurch zu Experimenten missbraucht. Der Mann, ein Psychiater, forschte zur Angstthematik. Um bestimmte Thesen zu überprüfen, wurde Mark immer wieder nachts geweckt und teils widerwärtigen Versuchen ausgesetzt: Mal wird ihm Schlaf entzogen und er wird zugleich mit grauenerregenden Bildern konfrontiert, mal erwacht er und eine Echse kriecht über die Bettdecke auf den verängstigten Jungen zu. Marks Vater jedoch hilft dem Kind keineswegs, sondern zeichnet all dessen Angst, all seine Reaktionen mit einer Kamera auf. Auf der Tonspur hört man den Jungen flehen und den Vater beschwichtigen, manchmal in höhnischem Tonfall. Es ist die Kombination aus Angst und Aufzeichnung, die zu Marks Trauma wurde und die er wieder und wieder rekonstruiert. Mit diesen Experimenten konnte Marks Vater reüssieren und eine Karriere als berühmter Psychologe aufbauen, sein Sohn ist dazu verdammt, die Angst immer wieder in den Augen der anderen zu suchen.
Karlheinz – oder, wie es hier im Vorspann hieß: Carl – Böhm, der hier sehr bewusst gegen sein Image als Kaiser Franz Joseph in den SISSI-Filmen (ab 1955) anspielte, gibt einen bemitleidenswerten Menschen, einen Mann, dessen Taten wir nicht gutheißen können oder wollen, dessen Leid und Leiden an jenen Verbrechen, die sein Vater wiederum einst an ihm, einem da noch unschuldigen Kind, beging, wir aber verstehen. Dadurch unterscheidet er sich wesentlich von Hitchcocks Norman Bates, der zwar im Nachklapp des Films ebenfalls kurz von einem Psychiater erklärt wird, der aber – so suggerieren es nicht nur die Bilder am Ende des Films, als er allein in seiner Zelle sitzt und kurz der Totenschädel seiner Mutter sein Gesicht überdeckt – längst als an das Böse verloren gelten kann.
Mark wirft sich, nachdem er gegenüber Helen seine Taten eingestanden und ihr von den väterlichen Experimenten erzählt hat, in das Stativ der eigenen Kamera und richtet sich somit selbst. Eine Handlung, die Norman Bates im Traum nicht in den Sinn käme. Während Hitchcocks Mörder also quasi für immer hinter Schloss und Riegel verschwindet, hält auch Powell sich an die Konventionen des Genres, das bis dahin keinen Mörder mit seinen Taten davonkommen ließ. Doch ist sein Film – vor allem in seiner Zeit – auch deshalb so verstörend, weil der Mörder sich hier zwar selbst richtet, aber auch und gerade in dieser Situation als leidender Mensch, nicht als Unmensch, gar als Ungeheuer, geschildert wird. Anstatt auf den Schock-Effekt zu setzen, anstatt einen wilden Psychopathen zu präsentieren und den Zuschauer nachhaltig zu verstören, gräbt sich Powells Film ins Bewusstsein des Zuschauers hinein und setzt sich dort fest. Seine Geheimnisse gibt er erst nach und nach preis. Powells Film führt integral vor Augen, wie man – nicht zuletzt durch Manipulation – das Publikum zu Mitgefühl mit vermeintlichen Monstern verleiten kann und zugleich konfrontiert er dieses Publikum mit der Frage, was uns eigentlich zu dem macht, was wir sind?
Diese Frage führt zum Kern des Films selbst, denn PEEPING TOM ist vor allem ein Film über das Sehen und Gesehen-Werden und das (eben dialektische) Verhältnis des einen zum anderen. Mark ist Kameramann beim Film, professionell erstellt er also bewegte Bilder wie jene, die wir im Kinosaal sehen, wenn wir den Film betrachten. Sein Gehalt bessert er mit anzüglichen, teils pornographischen Aufnahmen auf, die er über einem Tabakladen in einem improvisierten Atelier herstellt. Seine heimliche und eigentliche Leidenschaft aber sind jene Filme und Fotos, die er während der Morde erstellt. Es sind Snuff-Filme, wie sie heute genannt werden, Filme, die wirkliche Morde, echte Tötungen zeigen. Hier ist der Fotograf der absolute Herrscher, ja der Gott des Blicks. Er bemächtigt sich der lebenden Objekte vor der Kamera – wobei das Thema Pornographie bereits auf die Objektivierung der Frauen im Bild generell hinweist, zugleich aber auch den Aspekt ausleuchtet, dass wir alle uns immer auch gern produzieren, uns zeigen, unsere fünfzehn Minuten des Ruhms suchen und der Objektivierung damit Vorschub leisten; darüber hinaus scheint Powell schon ein Gespür dafür gehabt zu haben, dass es auch Gewalt-Pornographie gibt, ein Aspekt des Pornographischen, der in der Wissenschaft und von der Kritik erst später näher betrachtet werden sollte – und führt sie in den Grenzbereich des Todes, in einen wortwörtlichen Augen-Blick, in dem der Film und/oder die Fotografie authentisch zu werden scheint, in welchem die Repräsentation und der Moment, in dem das Repräsentierte erfasst und schließlich wiedergegeben wird in eins fallen, zur Deckung kommen. Powell geht aber noch einen Schritt weiter. Denn der einzige Zuschauer, das einzige Publikum, das diese Filme und Bilder (zunächst) zu sehen bekommt, ist der Fotograf/Täter selbst – und wir, die wir seinen geheimen Sessions in seinem Privatkino beiwohnen. So wird nicht nur aus dem Täter ein Voyeur seiner eigenen Begierden, sondern auch aus uns, die wir uns den Film PEEPING TOM anschauen. Das voyeuristische Moment ist dem Kino – vielleicht mehr noch als der Fotografie – seinem Wesen nach aber eingeschrieben und PEEPING TOM führt seinem Publikum genau diesen Aspekt gnadenlos vor Augen, ja, er kostet ihn geradezu aus, bringt ihn auf seinen Kern.
Im Kino beobachten wir Menschen, die scheinbar nicht wissen, dass wir ihnen bei ihrem Treiben zusehen. Was Hollywood mit der berühmten „vierten Wand“ bezweckte, wird auf der Metaebene aber zum Bumerang. Die „vierte Wand“ ist jene imaginäre Abgrenzung zum Publikum, die dem Zuschauer suggerieren soll, etwas „Wirklichem“ beizuwohnen. Er soll in die Geschichte gesogen werden und ganz im Film aufgehen, nicht aber darüber reflektieren, dass er gerade einen Film schaut. Die Kamera ist demnach inexistent. Selbstreflexion war des klassischen Hollywoods Sache nicht. Dass ein Schauspieler direkt in die Kamera und also dem Publikum direkt ins Auge sah, war nahezu undenkbar und wurde, kam es einmal vor, als eher unglückliches Experiment wahrgenommen[1]. Hollywood experimentierte aber nie wirklich gern, zu wichtig waren Umsatz und Gewinn. Der Hollywood-Film war immer, von allem Anfang an, eine kommerzielle Industrie. Fängt man aber an, darüber nachzudenken, was man eigentlich macht, während man einen Film schaut, stellt man früher oder später fest, dass Hollywoods Art, den Betrachter zwar in die Story hinein zu saugen, ihn aber von der direkten Kommunikation auszuschließen, ihn also nicht wirklich in das Geschehen einzubeziehen, erst recht den voyeuristischen Effekt verstärkt. Der Zuschauer wohnt dem Geschehen auf eine ähnliche Art und Weise bei, wie es der Spanner tut, der unterm Küchenfenster hockt und die Hausfrau beim Backen – oder intimeren – beobachtet.
Einmal mehr war es Alfred Hitchcock, der schon früh genau diesen Aspekt filmisch thematisierte, wenn auch in eine seiner typischen Thriller-Handlungen und eher spielerisch leicht, fast humoristisch verpackt. In REAR WINDOW (1954) ist es James Stewart, der, durch einen Beinbruch an den Rollstuhl und damit an die Wohnung gefesselt, durch das Objektiv seiner Kamera – er soll professioneller Fotograf sein – den Hinterhof seines Hauses beobachtet und dabei nicht nur auf einen Mord stößt, sondern auch auf allerlei Eigenarten der Leute, die man sonst nur mal kurz auf der Straße oder beim Kaufmann um die Ecke trifft. Hier wird der Kamera ein phallischer Effekt zugeschrieben, sie ist ein männliches Machtinstrument, da sie der Figur, die Jimmy Stewart verkörpert, einen Vorteil und damit Macht über die von ihm Beobachteten verschafft. In PEEPING TOM ist dies eben nicht nur die Kamera, sondern erst recht das Messer, welches Mark Lewis aus dem Stativ ausfahren lassen kann und dessen Macht tatsächlich tödlich ist, nicht nur allegorisch oder symbolisch. Man sieht, dass Powells Film in vielerlei Hinsicht auf Hitchcocks Werk rekurriert. Das voyeuristische Moment spielt seinerseits in PSYCHO wieder eine Rolle, denn bevor er, verkleidet als seine eigene Mutter, zur Tat schreitet, beobachtet Norman Bates das Objekt seiner Begierde durch ein Loch in der Wand. Klassischer Voyeurismus, bei dessen Ausübung wir es noch mit „Norman“ zu tun haben, während die mörderische Tat dann „Mrs. Bates“ ausführt, Normans zweiter Charakter. Mark Lewis nimmt diesen Umweg nicht. Bei ihm fallen der Blick, die Tat und der Blick auf die Tat in eins.
Der Zuschauer im Kino wird grundsätzlich in einen Kollektiv-Voyeurismus einbezogen, dem er sich mit dem Kauf der Kinokarte ergeben, dem er – ob wissentlich oder nicht – zugestimmt hat. Er hat sich mit dem Betreten des Kinosaals damit einverstanden erklärt, zum heimlichen Betrachter zu werden. Und Hollywoods Methode, die Kamera unsichtbar zu machen, ihre Anwesenheit bei allem, was vor dem Objektiv geschieht, zu negieren, wird somit plötzlich zu einer subtilen Einladung des geheimen Guckens. Verbotene Spiele – ebenso verboten und tabuisiert, wie Mark Lewis´ heimliche Aufnahmen, die in ihrer Authentizität des absoluten Augenblicks, dem des Todes, das Todestabu aufbrechen. Marks Aufnahmen sind möglicherweise die ehrlichsten, die er in seinem ganzen Leben als Fotograf und Kameramann zustande gebracht hat, vor allem im Vergleich zu den ausgesprochen künstlichen Situationen, in denen er die Modelle seiner erotischen Bilder ablichtet – zugleich sind sie aber, wie der Blick auf Lady Godiva, gefährlich, gefährlich zerstörerisch. Sie zerstören den Betrachter ebenso, wie sie die gezeigten Opfer wieder und wieder zerstören. Der Blick auf diese Bilder ist ein Blick, der erblinden lässt, weil wir Gefahr laufen, Fakt und Fiktion zu vermischen, blind zu werden für die Realität, geblendet von dem Sog, den diese Bilder zu erzeugen in der Lage sind. Bricht die Wirklichkeit ein – wie es bspw. Helens Reaktion auf Marks Taten darstellt – hilft nur noch die radikale Tat, den Widerspruch zwischen der Traumwelt und der Realität auszuhalten. In Marks Fall ist das dann der Suizid.
Unsere Seele verliert etwas Wesentliches, wenn wir den sterbenden Frauen in die Augen blicken. Unschuld vielleicht. Die Unschuld, die Mark seinen Opfern nimmt, wenn er sie direkt aus ihrem Leben reißt, dabei ihr Vertrauen in ihn ausnutzend. Und genau da trifft Eros auf Thanatos, bedient PEEPING TOM ein Ur-Thema fast aller mythischen Geschichten. Liebe und Tod, mehr noch Sexualität und Tod, laufen in Marks Wirklichkeitswahrnehmung zusammen. Er schläft mit keiner dieser Frauen, obwohl sie entweder Prostituierte sind oder ihm deutlich ihr Interesse signalisieren. Stattdessen penetriert er sie mit dem Messer an seinem Stativ. Doch sehen wir ihn nicht erregt, vielmehr scheint er erst im Tod und der Wahrnehmung der Angst der anderen ein Gefühl für sich selbst und sein Leiden zu entwickeln. Er schaut und sein Blick ist zugleich vom Bösen infiziert, wie es auch ein böser Blick ist, der seinerseits infiziert.
Dass Mark pornographische Aufnahmen herstellt, ist folgerichtig. Pornographie ist in ihrer so offensichtlichen Künstlichkeit bei gleichzeitiger Realität des gezeigten Aktes (wenn wir von Hardcore-Pornographie reden, die hier allerdings nicht behandelt wird) vielleicht der authentischste Film, die „wahrste“ Aufnahme, die es geben kann, jenseits des Snuff-Films. Und sich pornographisch zum Objekt zu machen – wobei man den Begriff „Pornographie“ sehr weit fassen sollte, keineswegs nur auf das Sexuelle bezogen, vergleiche die Anmerkungen oben zur Gewalt-Pornographie – ist auch ein Einverständnis (immer vorausgesetzt, wir reden eben nicht von exakt dem, was Mark produziert, also Snuff-Filme, in denen das Dargestellte immer erzwungen ist, ein wesentlicher Bestandteil ihres Wesens). Poussieren wir vor einer Kamera, ist es das gleiche Einverständnis, das wir erteilen, uns zu einem Objekt zu machen. Vielleicht ist das Aktfoto letztlich die ehrlichere Art des Poussierens. Powell gibt dies zumindest zu bedenken. Mark selbst hingegen ist unberührt von der Erotik dessen, was er fotografiert, seine Sinnlichkeit ist die des Todes. Des absoluten, eigentlich nicht reproduzierbaren Moments, den er jedoch mit seinen Filmen wieder und wieder zu reproduzieren sucht. Eines der Modelle, die er fotografieren soll, wird uns eine gesamte Szene hindurch immer nur von einer Seite gezeigt, bis Mark sie auffordert, ihr Gesicht zu zeigen. Als sie sich daraufhin zu ihm – und uns, in diesem Moment also bewusst in die „objektive“ Kamera von Otto Heller – dreht, offenbart sie eine fürchterlich entstellte Gesichtshälfte, die wir zuvor nicht sehen konnten. Mark aber zeigt sich fasziniert, nicht angeekelt oder verschreckt. Seine Zärtlichkeit – und seine Faszination – gilt immer dem Morbiden.
Zwei Menschen schließlich zeigt Mark seine Filme. Dies sind Helen und deren erblindete Mutter. Helen sieht die Filme in jener kathartischen Schlussszene, die damit endet, dass Mark sich schließlich selber richtet. Er versucht, Helen zu töten, kann es aber nicht – und so siegt schließlich doch die Liebe. Helen ist unschuldig, ist in ihrer Sensibilität in der Lage, Marks eigene Beschädigung und seine Angst zu spüren. Sie möchte ihn retten, doch er flieht gleichsam vor ihr und stürzt sich in eines seiner todbringenden Stative. Anders sieht es bei Helens Mutter aus. Diese spürt, dass etwas mit dem jungen Mann nicht stimmen kann. Sie verschafft sich Zutritt zu seiner Wohnung, erwartet ihn dort und stellt ihn zur Rede. Mark, aufgepeitscht und innerlich vibrierend nachdem er den Abend mit Helen verbracht hat, kann nicht warten und startet die Projektoren. Mrs. Stephens sitzt nun also blind zwischen all den Bildern der Gewalt. Hier ist die Blindheit plötzlich keine Strafe mehr, sondern vielmehr Schutz. Ein weiterer dialektischer Prozess, den Powell seinem Film einschreibt. Denn dass sie die – tonlosen – Filme nicht sehen kann, ist der Grund, dass Mark sie leben lässt. Vielmehr verspricht er ihr, Helen niemals etwas anzutun. Ein typisches Versprechen, das junge Männer auf Freiersfüßen den Eltern ihrer Angebeteten geben und welches hier einen doppelten Boden bekommt, den wir verstehen, nicht jedoch Mrs. Stephens selbst, also die Adressatin dieser Aussage. Wir, die Zuschauer, werden in diesem Moment zu Marks Verbündeten. Ein weiterer Skandal, den der Film selbstbewusst auslöst.
Powell konfrontiert sein Publikum mehr als andere Filme zu seiner Zeit mit der Rolle, die der Zuschauer als solcher einnimmt. Auch wenn er dies hinter einer für heutige Zeiten nicht mehr allzu aufregenden Kriminalstory verbirgt, geht er in dieser Konfrontation recht weit. Er zeigt auf, wie wir durch das Sehen selbst unsere Unschuld verlieren, wie wir uns bewusst in die Fänge der Manipulation begeben und in seiner Drastik beweist er, dass wir damit Opfer und Täter zugleich sind. Betrachtet durch Objektive, die 1960 merklich zugenommen hatten, betrachtet und definiert durch Kameras – echte und imaginierte – antizipiert PEEPING TOM die These des französischen Theoretikers Jean Baudrillard, dass wir uns alle immer vor imaginierten Kameras bewegen, immer schon die Aufnahme, deren Objekt wir werden sollen, antizipierend. Die Massenmedien entfremden uns zusehends von dem, was wir Wirklichkeit nennen, in Ermangelung besserer, treffenderer Begriffe. Sei entfremden uns von uns selbst. Michael Powell, der 1960 bereits auf eine lange Karriere beim Film zurückblickte, bietet eine wahrlich schaudermachende Meditation über das Wesen seiner Profession.
Dass er mit der Motivation, die er seinem Mörder zugrunde legt, keineswegs so abwegig daneben lag, wie die damalige Kritik es gern darstellte, beweist ein anderes, vielleicht banales Detail zu Powells Film. Mark als Opfer des eigenen Vaters und dessen wissenschaftlicher Versuche darzustellen, mag 1960 – der Wissenschaftler war entweder ein Mad Scientist, der ein Monster erschaffen will und damit Gott spielt, wie Doktor Frankenstein, oder aber ein ruhiger, besonnener Mann, dem es gelingt, eine grundlegende Bedrohung, eine Pandemie bspw., zu besiegen – war gewagt, da es den technik- und Wissenschaftsglauben der 50er Jahre in Frage stellte. Ein Psychologe, der zur Lösung der Mordfälle hinzugezogen wird, weist die Ermittler darauf hin, dass Mark die „Augen seines Vaters“ habe, den der Psychologe persönlich kannte. Vielleicht also auch den Blick des Vaters – kalt, analytisch, brutal. Der Blick des kühlen Verstandes auf ein Objekt, unter Umständen auch einmal ein Kind. Dieses aber beginnt, den kühlen Blick mit der schwarzen Romantik zu verbinden. Und mordet. Anstößig! Abwegig! für die zeitgenössische Kritik. Doch als 1991 der Serienmörder Jeffrey Dahmer endlich gefasst wurde und Psychologen wie Psychiater die Chance hatten, den scheinbar unauffälligen, durchaus schüchternen jungen Mann zu vernehmen, stellte sich unter anderem heraus, dass er von seinem Vater nahezu ausschließlich durch das Objektiv einer Kamera wahrgenommen wurde – wodurch es unfassbar viel Material dieses angeblichen „Monsters in Menschengestalt“ als Kind gab. Ein völlig entfremdetes Wesen. Und ein naher Verwandter von Mark Lewis.
Mark ist ein ebenso entfremdeter junger Mann, schon durch seine soziale Situation – er hat geerbt, er ist reich, er ist „Besitzer“ – von den Gleichaltrigen getrennt, der abnorme Bedürfnisse entwickelt und sich selbst immer wieder zur Ordnung zu rufen scheint, seiner Veranlagung nachzugehen. Und doch gibt Mark sich hin, er tötet mit einem seiner Modelle und einer befreundeten Statistin aus den Studios zwei Bekannte, die auf ihn als Täter hinweisen können. So erfüllt Mark auch das heute vielleicht schon als Klischee betrachtete Verhalten von Serienmördern, die angeblich zum Ort ihrer Taten zurückkehren, geradezu eine Sehnsucht entwickelnd, enttarnt und gefasst zu werden. Nicht zuletzt, damit der Druck, unter dem sie innerlich stehen, nachlässt. Diesen Druck drückt Böhm in der Rolle eindeutig aus und Powell lässt ihm die Freiheit, diesem Aspekt Ausdruck zu verleihen.
Und schließlich schleicht sich auch die Erinnerung an jene Weisheit der indigenen Bevölkerung der Vereinigten Staaten ins Bewusstsein des Zuschauers, die ungern fotografiert wurde und behauptete, das aufgezeichnete Bild stehle dem Fotografierten – also dem Objekt des Bildes – die Seele. Womit das Objekt erst recht verdinglicht wird. Mark, unter dauernder Beobachtung durch seinen Vater, wurde ganz offenbar die Seele geraubt. Und er sucht sie in jeder einzelnen der geheimen Aufnahmen, die er von sterbenden Frauen macht. Mark ist ein Seelensucher und ein Seelenfresser. Er sucht nach Erlösung im Weiblichen und will es zugleich bestrafen – möglicherweise stellvertretend für die Mutter, die ihn nicht beschützt hat/beschützen konnte/beschützen wollte? – und kann und wird sie nicht finden. So ist erst – auch das eine eher konventionelle Betrachtungsweise – der Freitod, der Selbst-Mord, die maximale Selbst-Bestrafung eine Erlösungstat.
Powell bietet ein weitsichtiges und vielschichtiges thematisches Spektrum und dabei ein letztlich zutreffendes Psychogramm eines mit den Anforderungen der Moderne nicht Zurechtkommenden. Das Psychogramm eines jungen Mannes, der sich verloren hat, der verloren wurde und der in den Bildern, die er erstellt, das eigene Ich, seine Seele eben, eine Wahrheit und – man denke an Helen und die Rolle, die sie spielt – die Liebe sucht. Reflektiert – im wahrsten Sinne des Wortes – wird dies alles durch das Leitmedium des 20. Jahrhunderts, die Kamera.
PEEPING TOM mit seiner traurigen Veröffentlichungsgeschichte verschwand bald hinter Hitchcocks PSYCHO, ein Film, dem – wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht – weitaus größere Wirkungsmacht zugeschrieben wird, hinter dem sich Powells Film aber keinesfalls zu verstecken braucht. In gewisser Weise sind Mark Lewis und Norman Bates zwei Teile ein und derselben Persönlichkeit, die zukünftig das Grauen in den Horrorfilm bringen sollte: Steht Norman für das Bedrohliche, Fremde und Beängstigende jenes weiten Feldes namens Psychologie und Unterbewusstsein, welches sich in jedem einzelnen von uns auftut, deckt Mark Lewis jenes Terrain ab, auf dem wir lernen müssen, dass wir alle nicht gefeit sind, Opfer unserer Geschichte und dessen zu werden, was sie aus uns macht. Und der damit einhergehenden Erkenntnis, dass wir alle Täter sein/werden können, was die Ablehnung, die der Film erfahren musste, umso besser erklärt. Sich von Norman Bates zu distanzieren fiel und fällt nun wahrlich nicht schwer. Mark hingegen ist ein Getriebener, ein Verfolgter, dem es nicht mehr gelingt, seine Bedürfnisse zu kontrollieren. Doch zugleich ist er bemitleidenswert und wir erkennen in ihm – und das entsetzt uns erst recht – eine Schwäche, wie wir sie alle, wenn auch mit weniger radikalen Folgen, irgendwann einmal in uns erkennen mussten. Auf seine Weise mindestens so furchterregend in dem heruntergekommenen London der ausgehenden 50er Jahre wie Norman in seinem Wüsten-Motel, außerhalb der Zeit und aller weltlicher Zusammenhänge. Mark ist sehr viel mehr als sein amerikanischer Verwandter im Hier und Jetzt verankert, was ebenfalls zur Ablehnung des Films beigetragen haben dürfte. Denn dieses London kannte zumindest der britische Betrachter. Marion Crane, die unglückliche Dame aus PSYCHO, die Norman zum Opfer fällt, scheint hinter den irren Regenmassen, die sie nachts durchfährt, in eine andere Zeit, ein anders Land, einen Nicht-Ort versetzt zu werden. Die Hölle, möglicherweise.
Doch sind beide, Norman Bates wie Mark Lewis, im Grunde bemitleidenswerte Figuren, nur scheint Mark – eben durch sein konventionelleres Ende, die Selbstrichtung – noch größere Hoffnung auf irgendeine Art von Erlösung zu haben. So kommt der Protestant Powell – vielleicht und erstaunlicherweise – zu einem versöhnlicheren Ende denn der Katholik Hitchcock. So oder so haben beide Filmemacher auf ihre je ganz eigene Weise jeweils dazu beigetragen, dass sich das Genre des Horrorfilms, aber auch das des Thrillers grundlegend wandelte und immer menschlichere und damit auch erschreckendere Figuren hervorbrachte. Wahrscheinlich ist Hitchcocks Film dabei dem Publikum eher im Gedächtnis geblieben, Filmemachern hingegen dürfte Powells Film mehr zu denken gegeben haben.
[1] LADY IN THE LAKE (1947), ein Film Noir von Robert Montgomery, ist eines der wenigen Beispiele, in denen bspw. durchgehend die subjektive Kamera eingesetzt und diese somit zu einem Bestandteil der Handlung wurde. Der Film gilt heute als interessantes aber misslungenes Experiment und wurde auch in seiner Zeit nicht gut aufgenommen.