DIE VERLOBUNG DES MONSIEUR HIRE/MONSIEUR HIRE

Patrice Leconte verfilmt George Simenon und legt ein wunderbares Plädoyer für die Schönheit, die Ästhetik, die Kunst vor

Eine junge Frau wurde ermordet. In den Fokus des Kommissars (André Wilms) gerät schnell Monsieur Hire (Michel Blanc), ein Sonderling, auf den die Beschreibungen einiger vermeintlicher Zeugen passen. Hire ist ein lokaler Schneider, der eher unbeliebt ist, dessen Geschäft jedoch gut läuft, da er seine Profession auch als Obsession betreibt: Hire ist ein Ästhet, der seiner Arbeit enorme Aufmerksamkeit schenkt, sowohl dem Material, als auch der Arbeit selbst. Ähnlich verhält es sich in dem sehr einsamen Privatleben des Schneiders: Seine intimen Begegnungen beschränken sich auf Besuche bei Prostituierten, mit denen er oftmals aber nur reden will, kommt es wirklich zum Geschlechtsakt, bleibt Hire dabei seltsam zurückhaltend, ja unbeteiligt. Einmal im Monat geht er zum Bowlen, das er erstaunlich gut beherrscht und wo er sich entgegen seinem zurückhaltenden Wesen auch durchaus in der Bewunderung anderer Gäste und seiner Mitstreiter sonnt. Doch lebt er lediglich in Gesellschaft seiner weißen Mäuse, die er, wenn eine von ihnen das Zeitliche segnet, mit äußerster Akkuratesse in ein schönes Stück Stoff zur letzten Ruhe bettet, liebevoll einwickelt und dann recht unbewegt in ihrem kühlen Grab im nahegelegenen Kanal entsorgt.

Monsieur Hire liebt das Betrachten schöner Dinge, er verehrt die Kunst der klassischen Musik – Brahms ist sein bevorzugter Komponist – und er kocht und genießt gutes Essen. Der Tod jedoch interessiert ihn nicht. Dennoch bleibt er für den Kommissar der erste Verdächtige.

Nachts beobachtet Hire eine junge Frau, die im Haus gegenüber eingezogen ist. Alice (Sandrine Bonnnaire) wird zu seiner Obsession. Mit Brahms Klängen im Ohr folgt er ihren Bewegungen, ihren Gesten, ihrem Leben. Eines Nachts hat er gesehen, wie ihr Freund, Emile (Luc Thuillier), kam und Bluspuren von seiner Kleidung abwusch und eine Handtasche bei Alice zurückließ. Hire ist sich also darüber bewusst, daß der wahrscheinliche Mörder der jungen Frau Alices Freund ist. Während einer gewittrigen Nacht entdeckt Alice schließlich den sie beobachtenden Voyeur, der für sie unmittelbar eine Gefahr darstellt, muß sie doch davon ausgehen, daß er die Vorgänge mit Emile gesehen hat. In einer der folgenden Nächte stellt sie sich so in seinen Blick und schaut zurück, daß er begreift, daß sie ihn entdeckt hat.

Der Kommissar zweifelt zwar an seiner Theorie, daß Hire wirklich der Täter ist, zugleich greift er aber zu immer rabiateren und auch hilfloseren Methoden, den Mann doch zu überführen. Während eines öffentlich durchgeführten Versuchs, bei dem Monsieur Hire immer wieder die selbe Strecke rennen muß, damit die Polizei die zeitlichen Angaben eines Zeugen überprüfen kann, wird er dem Gespött seiner Nachbarn und teils auch seiner Kunden preisgegeben, die  sich über Monsieur Hire echauffieren und auch darauf abheben, daß dieser ja eigentlich ein Jude sei und man ja wisse, was man von diesen…usw. Als der Kommissar Hire einmal mehr in seinem Atelier aufsucht, und ihn in verfängliche Gespräche zu verwickeln sucht, dabei auch erwähnt, daß Hire möglicherweise Kunden verlöre, weist dieser darauf hin, daß er und „seinesgleichen“ immer schon damit hätten leben müssen, weiterzuziehen. Er möge die Menschen nun einmal nicht und sie mögen ihn nunmal auch nicht, klärt Monsieur Hire den Kommissar auf.

Es kommt schließlich zu einer Begegnung zwischen Moinsieur Hire und Alice, bei der er ihr recht schnell verdeutlicht, daß er durchaus weiß, was passiert ist und er nahezu alles sehen kann, was in ihrer Wohnung vorgeht. Doch sagt er ihr auch, daß er nicht vorhabe, etwas zu verraten. Er würde, denn er verachtet Emile, er verachtet das Verbrechen und  die niederen Beweggründe, denn letzten Endes hat Emile ein reines Beschaffungsverbrechen begangen. Er brauchte Geld. Er, Monsieur Hire, würde Emile also sofort denunzieren, doch fürchtet er um Alice, die wahrscheinlich als Mitverschwörerin, mindestens als Mitwisserin verurteilt würde. Und er, Monsieur Hire, habe sich in sie, Alice, verliebt. Mehr noch: Er liebe sie, er begehre sie, er wolle sein Leben ihr widmen. Alice zeigt sich von Hires Ehrlichkeit und den zärtlichen Gefühlen, die er für sie hegt, angetan, ja berührt. Ohne ihn wirklich erregen zu wollen, deutet sie ihm bei weiteren Begegnungen – sowohl bei ihm in der Wohnung, wo sie sich einmal sogar ohne sein Wissen Zutritt verschafft, als auch in der Öffentlichkeit – an, daß sie seine Gefühle in gewisser Weise erwidert.

Schließlich bittet Monsieur Hire sie, mit ihm in sein Haus nach Lausanne zu kommen, wo die beiden gemeinsam ein neues Leben beginnen könnten. Emile setzt sich ab und lässt damit auch Alice sitzen, wodurch Hire seine Chancen, von der jungen Frau erhört zu werden, erhöht sieht. Er gibt ihr eine Karte  für den Zug, schließt sein Atelier, ordnet seine Angelegenheiten, verstaut Emiles Regenmantel, den er an sich genommen hatte, in einem Schließfach, schreibt einen Brief an den Kommissar, in dem er diesem darlegt, wie die Dinge sich verhalten, und setzt seine Mäuse aus, um Alice am Bahnhof zu treffen.

Doch sie erscheint nicht. Monsieur Hire kehrt nach hause zurück, wo der Kommissar auf ihn wartet. Alice ist ebenfalls anwesend. Der Kommissar hält die Handtasche in Händen, die er hier, in Hires Wohnung, gefunden habe – Beweis dafür, daß Hire der Mörder des Mädchens gewesen sei. Alice hat ihn informiert und angezeigt, daß sie wisse, daß Monsieur Hire Geheimnisse habe. Verzweifelt blickt sie Hire an, sich ihrer Schuld und der sich daraus ergebenden Schlechtigkeit voll bewusst, ihn und seine Gefühle vollkommen auszunutzen. Doch tut sie dies, um Emile zurück zu gewinnen, den zu lieben sie nice aufgehört hatte. Hire schaut sie an, begreift, versichert ihr, daß er ihr nicht böse sei, sie habe ihm die schönsten Momente seines Lebens beschert, flieht, klettert aufs Dach, rutscht ab und hält sich einen Moment an der Regenrinne fest. Dann lässt er los und fängt im Fallen einen Blick von der hinter dem Fenster seiner Wohnung stehenden Alice ein. Er schlägt im Hof auf und stirbt sofort.

Der Kommissar liest nun erst den Brief und man hört Monsieur Hires Stimme, die den genauen Sachverhalt zu dem Mord darlegt, erklärt, wo der Mantel als Beweisstück deponiert ist, der Schlüssel des Fachs läge dem Brief bei, und die dann darum bittet, daß der Kommissar trotz seiner anders lautenden Aufgaben und Befehle ihn, Monsieur Hire, und Alice einfach ziehen lasse.

Alice bricht weinend zusammen.

Die 1980er Jahre neigten sich ihrem Ende entgegen und mit den 90ern sollten nicht nur politisch große Umwälzungen auf Europa zukommen, sondern auch kulturell. Mit der Öffnung der Grenzen und den nun einströmenden Einflüssen Osteuropas veränderten sich auch lieb gewonnene Routinen und Festlegungen. So zum Beispiel die Trennung von sogenanntem Unterhaltungs- und Mainstreamkino und dem damals noch virulenten Autorenkino, in die sich vor allem das europäische Kino seit den 1950ern hatte teilen lassen.

In eben diese Zeit fällt einer der letzten großen Triumphe des europäischen Autorenkinos, dessen Regisseur bis dato gar nicht als Vertreter des selbigen aufgefallen war. Patrice Lecontes MONSIEUR HIRE (1989) ist dessen Einstieg in den „ernsthaften“ Film, in die Welt des Films als Kunst. Die Adaption eines Simenon-Romans, der nicht den Kommissar Maigret in den Mittelpunkt stellt, sondern sich abseits der berühmtesten Figur des Autors bewegt, wirkt formal zwar wie ein Kriminalstück – Mord, ein Kommissar, ein Verdächtiger, der sich zunehmend verdächtiger zu benehmen scheint – entpuppt sich aber zusehends als das Psychodrama zweier Menschen, die, kaum zueinander passend, eine scheinbar aussichtslose Liaison eingehen, bis einer der beiden merkt, daß er nur mißbraucht wurde – oder, besser: vielleicht mißbraucht wurde. Nach und nach werden dem Zuschauer Abgründe der menschlichen Seele enträtselt und schließlich stehen nicht nur die Motive, sondern auch die Beziehungen dieser Menschen zueinander nahezu nackt vor dem Publikum zur Schau.

Leconte inszeniert ein ästhetisches Meister-Spiel, in dem Oberflächen Oberflächen durchdringen, indem sie sich ineinander spiegeln, in dem alles präzise ist, Geschmack und Manier die beherrschenden Tugenden darstellen. Monsieur Hire, der eigentlich Irovic heißt – in Abweichung zum Buch, das Hires jüdischen Glauben, bzw. sein Judentum, denn einem Glauben, außer dem an die Schönheit, hängt Monsieur Hire eher nicht an, bewusst herausstellt – ist ein Ästhet, einsam und arrogant, an anderen kaum interessiert. Ein Schneider, der die Stoffe liebt, wie er das Parfum liebt, wie er die Schönheit der Genauigkeit bewundert und in den kleinsten Handlungen – dem Einwickeln einer toten Maus, die er dann doch „nur“ in den Kanal wirft – eben diese Genauigkeit auch in Gesten und Handlung unendlich präzisiert und damit perfektioniert. Dieser Monsieur Hire ist ein Rätsel, das nichts zu ergründen preisgibt, ein leeres Gefäß, das sich mit Rätselhaftem anfüllt. Leconte vollzieht diese Bewegung der Narration filmisch mit: Erst zur Hälfte des Films wird uns vermittelt, daß der Inspektor – und wir mit ihm – falsch liegt.

Es ist eine filmische Meisterleistung, wie Leconte durch das Verschieben  der Bildachsen, die leichte Anhebung  der Kamerawinkel und eine Veränderung des Lichts, dem Film subtil und dennoch wesentlich eine komplette Neuausrichtung gibt, die der Zuschauer eher spürt, erahnt, als daß er sie bemerken würde. Eben noch fürchteten wir mit dem Film scheinbar um Alice, jetzt beginnen wir, um Monsieur Hire zu fürchten, denn so bedrohlich er eben in der von Michel Blanc so perfekt verkörperten Undurchlässigkeit seiner Oberflächen, dieser aschfahlen Haut, dem perfekten Anzug, wirkte, so verletzbar wirkt er ab dem Moment des Bekenntnisses zu seiner Liebe. Und wir werden am Ende des Films mit dieser Befürchtung richtig gelegen haben. Fast banal mutet die Weisheit an, daß wer liebt, eben immer auch ausnutzbar, verletzlich und letztlich blind ist. Die Traurigkeit – denn es ist mehr als reine Melancholie – des Films, die uns schon in den ersten Momenten ergreift, da wir in ruhig dargebotenen Bildern der Leiche einer jungen Frau ansichtig werden, wird tiefer und tiefer, je mehr wir begreifen, was sich wirklich zugetragen hat und welch fürchterliche Konsequenzen dies haben kann, haben wird. Daß Monsieur Hire zu dem Ende kommt, zu welchem Roman und Film ihn bringen, trägt  ebenfalls bei zu dieser Melancholie, denn zu zwangsläufig ist es, zu schicksalsergeben nimmt Hire es in Kauf. Andererseits – Monsieur Hire hat lange, bevor wir ihn kennenlernen und seiner Geschichte gegenwärtig werden, begriffen, was einem Menschen wie ihm, einem, „den die Leute nicht mögen und der sie auch nicht mag“, in einer Gesellschaft wie seiner zustoßen kann. In seiner Bildung, seiner Akkuratesse, seiner Weltwahrnehmung und seines Zugriffs auf die Welt ist dieses Ende, ein Liebesende, in seiner Zwangsläufigkeit wohl auch Ausdruck einer ästhetisch gelungenen Erzählung. Hire wird seine letzten Momente in freiem Fall und mit einem letzten, langen Blick auf Alice, als richtig begriffen haben. Denn es rundet eine Narration mit dem ihr zustehenden Ende ab. Wie man ein Essen mit einem Schuß hiervon oder davon den letzten Kniff gibt, so erfüllt sich Monsieur Hires Schicksal ebenfalls in einem ästhetisch perfekten Zirkel.

Alles in MONSIEUR HIRE ist Geheimnis: Die Figuren hegen Geheimnisse voreinander, wie sie sie vor sich selbst verbergen. Der Film selber nutzt das Prinzip des Kriminalstücks, um wiederum seine Geheimnisse nur langsam und nie zu schnell und nie zu viel preiszugeben. Dem Kriminalstück ist es darum zu tun, das Geheimnis zu lüften, doch sein Wesenskern ist natürlich das Geheimnis an sich, denn ohne ein solches käme nie etwas in Gang. Natürlich ist der Mord, der alles in Gang setzt, ohne den die Verwicklungen, die zu Monsieurs Untergang führen werden, so nie geschehen wären, eine Verletzung der Ordnung, doch vor allem ist er eine Verletzung der Geheimnisse: Ohne den Mord bliebe alles unter der Decke des Geheimnisses, vielleicht des geteilten Geheimnisses. Denn seine Entdeckung durch Alice ist nicht dem Mord geschuldet, es ist seiner Mißachtung der bisher geltenden Vorsichtsmaßnahmen geschuldet. Monsieurs Hires Voyeurismus ist keine ordinäre, mit schneller Befriedigung verbundene sexuelle Perversion, sein Blick auf Alice ist nicht einmal ein primär sexualisierter. Sein Blick auf sie ist, wie alles, das er tut, alles was er sagt, ein Zeugnis des Ästhetizismus seines Wesens.

Patrice Leconte unterstützt mit seiner Inszenierung nicht nur in diesen Schlußminuten des Films Monsieur Hires Haltung einer feindlich gesonnenen Welt gegenüber. Selbst als Leiche auf dem Pflaster ist Hire noch ein „schöner“ Anblick, das Blut so rot in Kontrast zum Grau der Straße, des Asphalts, einer Welt ohne Gnade oder Mitleid. Was anders als die Schönheit ließe sich einer solchen Welt entgegensetzen? Verfolgt man die Schlußtitel des Films, fällt nicht nur auf, daß selbst im Vergleich mit heutigen Independent-Produktionen erstaunlich wenige Menschen an einem Film wie diesem mitarbeiteten, sondern auch, daß allein für den Auf- und Ausbau der Mise en Scène fünf Verantwortliche aufgezählt werden. Und man hat seit dem ersten Bild des Films verstanden, warum das so sein musste. In Aufbau und Nutzung des kadrierten Raums, im Verhältnis der im Bild dargestellten Objekte zueinander und wie sie sich im Wechselverhältnis mit der Kamera verhalten, in den Spiegelungen und Überblendungen, die Leconte nutzt wird wirklich gar nichts mehr dem Zufall überlassen. Gegen den Wunsch des Regisseurs im Studio gedreht, wird das Künstliche, die Ästhetik um ihrer selbst willen zum Prinzip des Films und somit auch eine mit Monsieur Hire sich verbündende Haltung.  Ästhetik schlägt Realität. Mit diesem Prinzip macht der Film sich mit Monsieur Hire gemein. Selten wurden Oberflächen, wurde das Außen so genutzt, um das Innen der Figuren auszustellen, wie hier und zugleich ihm sein Recht auf die rein ästhetische Funktion, das Auge zu erfreuen, zugestanden. Zumindest mit solch inszenierter Zartheit wird diese Haltung, wird dieses Prinzip selten vertreten worden sein.

Der im Film angebotene und zunächst den Zuschauer unheimlich dünkende Voyeurismus wird gerade mit dieser Haltung – einer radikal-ästhetischen Haltung, die selbst das Leben unter die Regeln des schönen Scheins und des schönen Gelingens stellt – zu einer eigenen Kategorie der Annäherung an das „schöne Objekt“ – im Film eine Frau, für uns, im Zuschauerraum des Kinos, der Film selbst. Der Film an sich, wenn man so will. Patrice Leconte ist ein unfassbar schöner, unglaublich trauriger Film gelungen, der auf eine bedingungslose Weise die Kunst, die Schönheit, die Ästhetik in ihr ureigenes Recht setzt und damit auch den Film als ästhetischen Reiz – in einem abgewandelten Godard-Zitat als „24 mal Schönheit in der Sekunde“ zu beschreiben – behauptet. Simenons Geschichte um den traurigen, die Schönheit liebenden Schneider bietet dafür ein nahezu perfektes Vehikel. Im Kriminologischen kann sich das Geheimnis der Schönheit umso mehr entfalten, da es hier der Strenge einer formalen Entdeckung folgt. So ist dies nicht nur die vielleicht beste Verfilmung eines Werks des großen George Simenon, es ist auch ein Plädoyer für die Schönheit, den Wert der Kunst und den des Films. Wundervoll.

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