BARRY LYNDON

Stanley Kubricks erratisches Meisterwerk

Teil I: Mit welchen Mitteln Redmond Barry zum Namen und Titel des Barry Lyndon kam

Barry Lyndon (Ryan O´Neal) ist ein junger irischer Bursche, dessen Familie dem verarmten Landadel angehört. Sein Vater hatte erst das Familienvermögen verloren, später sein Leben durch ein Duell mit einem Gläubiger.

Barry ist verliebt. Er begehrt seine Cousine Nora Brady (Gay Hamilton). Die aber ist John Quin (Leonard Rossiter) versprochen, einem englischen Offizier. Barry kommt dem Engländer immer wieder in die Quere, wird von diesem aber nicht ernst genommen. Schließlich beleidigt der junge Mann seinen Nebenbuhler derart, daß es zu einem Pistolenduell zwischen den beiden kommt.

Bei dem Duell erschießt Barry Quin. Daraufhin muß er fliehen. Seine Mutter, Mrs. Barry (Marie Kean), stattet ihn mit einem ordentlichen Sümmchen ihres Ersparten aus, sein Freund Jack Grogan (Godfrey Quigley), ebenfalls Angehöriger der Armee, gibt Barry noch den Tipp, daß der sich am besten ruhig verhalte, bis Gras über den Skandal gewachsen sei.

Auf dem Weg nach Dublin wird Barry von einem gefürchteten Banditen überfallen und all seiner Habe, inklusive seines Pferdes und des Geldes seiner Mutter, beraubt.

So landet Barry schließlich, da vollkommen mittellos, in der Armee des britischen Königs, für die er sich anheuern lässt. Barry kommt so auf den europäischen Kontinent, wo die Briten an der Seite Preußens im Siebenjährigen Krieg kämpfen.

Barry setzt sich trotz der rauen Sitten in der Armee durch, u.a. indem er es bei einer Prügelei mit einem weitaus größeren und stärkeren Soldaten aufnimmt. Barry besiegt seinen Gegner und gewinnt damit Ansehen bei seinen Kameraden. Zudem trifft er auch Grogan wieder, der sein Vorgesetzter wird. Durch ihn erfährt Barry auch, daß das vermeintliche Duell mit Quin fingiert war. Noras Familie wollte unbedingt verhindern, daß ihnen ein Mann, der 1500 Pfund im Jahr wert ist, durch die Lappen geht. Vorzutäuschen, Barry habe Quin getötet, sei der schnellste Weg gewesen, Barry loszuwerden. Nora und Quin haben mittlerweile geheiratet.

Barrys erste Begegnung mit dem „echten“ Krieg ist ein Scharmützel mit französischen Truppen. Die Briten marschieren in Reih und Glied auf die gegnerische Reihen zu und werden von diesen mit offenem Feuer erwartet. Fällt ein britischer Soldat, wird die entstehende Lücke sofort von seinem Hintermann aufgefüllt. Als eine Kugel Grogan erwischt, trägt Barry den Sterbenden aus dem Schlachtengetümmel.

Durch die Erfahrung ernüchtert, nutzt Barry die erstbeste Gelegenheit, der Armee zu entkommen. Er belauscht zwei badende Offiziere, klaut das Pferd, die Uniform und Ausrüstung des einen und gibt sich fortan für diesen aus. Angeblich sei er unterwegs nach Bremen, wichtige Depeschen überbringen.

Unterwegs gelangt Barry an einen Weiler, bei dem eine junge deutsche Frau (Diana Körner) lebt, mit der Barry für einige Tage Tisch und Bett teilt, bevor er weiter reitet.

Er trifft auf eine preußische Patrouille, die von Hauptmann von Potzdorf (Hardy Krüger) geführt wird. Dieser befragt den vermeintlichen Engländer und stellt fest, daß sie, wolle dieser wirklich nach Bremen (von dem Barry nicht weiß, in welcher Himmelsrichtung es liegt), könne man eine Weile gemeinsam reiten.

Je mehr v. Potzdorf ihn befragt, desto mehr verstrickt Barry sich in haarsträubende Lügen. Abends beim Essen ist Potzdorf dann überzeugt, es mit einem Hochstapler zu tun zu haben. Er lässt Barry verhaften und zwingt ihn in die Dienste der preußischen Armee.

Nun den weitaus übleren Methoden der preußischen Offiziere ausgesetzt, die ihre Regimenter mit harter Hand führen und mit ebenso harten Strafen (Spießrutenlauf) züchtigen, bemüht sich Barry um v. Potzdorfs Gunst, die er im Laufe der Zeit auch erlangt.

  1. Potzdorf führt Barry bei seinem Onkel, dem Postminister, ein, der den Chevalier Balibari (Patrick Magee), ein irischer Gentleman, der sich an den Spieltischen der Reichen und Mächtigen tummelt, im Verdacht der Spionage hat. Barry wird auf den Mann angesetzt. Doch schnell stellt Barry in einem Anfall nationaler Aufwallung fest, daß er einen Landsmann nicht hintergehen kann.

So hecken die beiden einen Plan aus, indem sie den Minister mit falschen Informationen füttern und machen Barry damit zu einem waschechten Doppelagenten. Zudem unterrichtet der Chevalier Barry in seinem Handwerk: Dem gekonnten Falschspiel an den Kartentischen. Als Team können die beiden enorme Erfolge erzielen. Dabei übernimmt Barry auch die Funktion des Geldeintreibers, der sich mit den Ausständigen mit dem Degen duelliert – und nahezu immer die Oberhand behält.

Als der Chevalier in ernsthafte Schwierigkeiten gerät, da er als Falschspieler enttarnt wurde, planen sie ihren Abgang aus Preußen. Dazu bedarf es eines echten Schmierenstücks, da die Preußen Barry kaum aus ihren Diensten entlassen würden. So gibt er sich bei der Verhaftung des Chevaliers als dieser aus und wird so bequem von einer preußischen Eskorte an die Landesgrenzen verfrachtet, während der echte Chevalier das Land bereits verlassen hat.

Nun beginnt eine Zeit des Reisens für Barry. Er und der Chevalier tingeln über die europäischen Königshöfe, wo sie als Spieler immer willkommen sind. Barry treibt weiterhin ausstehende Gewinne ein und erkämpft sich in etlichen Degenduellen einen Ruf.

In Belgien wird Barry auf eine sehr schöne und offenbar sehr reiche Dame aufmerksam. Er und der Chevalier haben sich schon länger überlegt, daß es an der Zeit sei, Barry gewinnbringend zu verheiraten. Da kommt Lady Lyndon (Marisa Berenson) gerade wie gerufen. Einziger Nachteil: Sie ist noch mit dem kranken und viel älteren Lord Lyndon (Frank Middlemass) verheiratet. Barry, der längst ein Verhältnis mit Lady Lyndon begonnen hat, schmeichelt sich zunächst auch bei seiner Lordschaft ein, wird aber, als dieser ihn offen als das verhöhnt, was er ist – ein irischer Aufschneider und Opportunist – , frech und beleidigt den Lord mehrfach. Nach einer dieser Attacken erliegt der Lord einem Herzinfarkt.

Nun steht Barrys offenem Werben um die Lady nichts mehr im Wege. Barry heiratet Lady Lyndon und nimmt sogar ihren (guten und bekannten) Namen an. Die Lady bringt aber nicht nur ihren guten Namen und ein ungeheures Vermögen in die Ehe ein, sondern auch den jungen Lord Bullington (Dominic Savage), der Barry nicht leiden kann, was auf Gegenseitigkeit beruht. Barry zeigt dem Jungen früh, zu welch harten Züchtigungen er bereit ist, um seinen Willen durchzusetzen.

Umso glücklicher ist Barry, als Lady Lyndon erneut schwanger wird und er mit Bryan (David Morley) nun einen leiblichen Sohn sein Eigen nennen darf. Barry hat es fast geschafft: Er ist in den gesellschaftlichen Schichten angekommen, in die es ihn immer gezogen hat. Schnell erkaltet die Liebe zwischen ihm und seiner Frau, doch ist sie ihm nach wie vor Türöffner in die Hallen der Mächtigen. Und dort muß Barry hin, um sich seinen letzten Wunsch zu erfüllen: Einen eigenen Adelstitel. Denn nur so kann er das Vermögen seiner Frau, auf welches er uneingeschränkten Zugriff hat, allerdings nicht, ohne daß sie seine Wechsel gegenzeichnet, seinem leiblichen Sohn vermachen. Stirbt die Lady, würde ihr Vermögen nach den momentanen Hierarchien an ihren Erstgeborenen, Lord Bullington, fallen.

 

Teil II: Enthält einen Bericht über das Unglück und die Katastrophen, welche Barry Lyndon widerfuhren

Um sein Ziel, den Adelstitel, zu erreichen, wird Barry zu einem Speichellecker am Hofe. Er setzt ungeheure Geldbeträge ein, um Kunstwerke, vor allem Gemälde, zu kaufen, die Besucher beeindrucken sollen, auch wenn er selbst von Kunst nichts versteht. Er stellt auch ein Regiment für König George III. auf, um es für diesen in den Krieg um die amerikanischen Kolonien zu entsenden.

Allerdings muß er wiederholt feststellen, daß all sein Trachten und Mühen von wenig Erfolg gekrönt ist, die alteingesessenen Lords und Peers ihn aber auch nicht sonderlich ernst nehmen. Immer wieder wird er auf seine niedere Herkunft und Abstammung aufmerksam gemacht.

Das häusliche Leben ist mittlerweile von Angst und Gewalt geprägt. Immer wieder kommt es zu brutalen Züchtigungen Lord Bullingtons (jetzt: Leon Vitali) durch den Stock. Nach einer dieser Strafaktionen wendet sich der Lord gegen seinen Stiefvater und droht diesem, sollte er jemals wieder die Hand gegen ihn erheben, werde er, Bullington, Barry töten.

Lady Lyndon, immer begleitet von ihrem geistlichen Faktotum Reverend Runt (Murray Melvin), zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Sie leidet nicht nur darunter, daß ihr Mann ihr seine Liebe verweigert und stattdessen etliche Mätressen unterhält, zudem gern die Bordelle der Umgebung ihres Landsitzes besucht, sondern auch fröhlich ihr Vermögen ausgibt.

Doch schließlich stellt sich Barry ihr, als sie im Bade sitzt, und bittet sie um Verzeihung.

Von nun an will er ein liebender Ehemann und vor allem Bryan ein guter Vater sein. Er liebt seinen leiblichen Sohn offenbar inbrünstig. Kaum kann er dem Jungen einen Wunsch verweigern, kommt es zwischen Bryan und Lord Bullington zu Zwistigkeiten, stellt sich Barry immer auf die Seite Bryans.

Bei einem Hauskonzert kommt es zu einem Skandal. Während Lady Lyndon, von einem Kammerorchester begleitet, einige geladene Gäste und ihren Mann mit ihrem Cembalo-Spiel erfreut, kommen Bryan und Lord Bullington in den Saal. Bryan trägt die Schuhe des Lords, was auf den Holzdielen ein ungeheures Geklapper erzeugt. Lady Lyndon muß ihren Vortrag abbrechen. Bullington stellt sowohl sie als auch Barry zur Rede und beklagt bitterlich, daß seine Mutter ihn nie geliebt habe und zudem Bryan in seinen Schuhen sehen wolle. Daraufhin bricht aus Barry der pure Zorn hervor und er geht mit den Fäusten auf Lord Bullington los. Es bedarf mehrerer Männer, um den Wüterich zurückzuhalten. Barry droht, Bullington wie einen Hund auf der Straße zu erschlagen.

Nach diesem Eklat verlässt Bullington das Schloß und schwört, nicht wiederzukehren, solange „dieser Hochstapler“, wie er Barry zu nennen pflegt, dieses verlassen habe oder unter der Erde liege.

Barry heißt diese Entwicklung natürlich willkommen. Denn nun kann er sich ganz auf das häusliche Leben mit Gattin und (eigenem) Kind konzentrieren. Allerdings muß er erleben, wie sich die Gesellschaft von ihm zurückzieht, selbst bisherige Gönner sich nicht mehr mit ihm in der Öffentlichkeit sehen lassen wollen. Die Art und Weise, wie Barry Lyndon, der gemeinhin als Emporkömmling betrachtet wird, mit einem Lord qua Geburt umgegangen ist, hat Barry zur Persona non grata werden lassen.

Zu seinem kommenden Geburtstag wünscht Bryan sich ein eigenes Pferd, darf er bisher doch nur auf seinem Pony mit seinem Vater ausreiten. Einmal mehr kann Barry seinem Sohn nichts abschlagen. Barry kauft also ein Pferd und stellt dieses bis zu Bryans Geburtstag bei einem Schmied unter. Der Junge geht zum Schmied und erbettelt sich einen Ausritt. Als Barry dies erfährt, reitet er wie vom Wahnsinn getrieben hinter seinem Sohn her, doch auf dem Weg begegnet er einer Abordnung aus dem Dorf. Bryan ist vom Pferd gestürzt und schwer verletzt.

Die kommenden Tage sind von Bangen und Wehen erfüllt. Immer wieder fragt Bryan, ob er sterben müsse, immer wieder versichert Barry ihm unter Tränen, daß „sein kleiner Liebling“ gewiß nicht sterben werde. Eines Abends, sowohl Barry als auch Lady Lyndon sitzen an Bryans Bett, nimmt der Junge beider Hände und bittet sie, sich nie wieder zu streiten, damit sie sich alle im Himmel wiedersehen könnten. Dann stirbt Bryan.

Barry verfällt in Folge mehr und mehr dem Alkohol. Die Trauer macht aus ihm ein Wrack. Niemand schert sich um den armen Teufel, niemand steht ihm zur Seite. Lady Lyndon verfällt einer tiefen Depression, weshalb Barrys Mutter für einige Zeit die Geschäfte auf dem Landsitz der Lyndons übernimmt. Sie führt ein strenges Regiment und entlässt unter anderem Reverend Runt, der dies vehement verhindern will und Barrys Mutter erklärt, sie könne ihn vielleicht von der Gehaltsliste streichen, ihm aber niemals die Freundschaft zur Lady verbieten.

Lord Bullington wird derweil von den Vorgängen im Schloß unterrichtet. Er erfährt, daß seine Mutter mehr und mehr verfällt, daß Barry immer größere Schulden anhäuft und das gesamte Vermögen der Bullingtons/Lyndons durchzubringen droht.

So sucht Lord Bullington Barry eines Tages in dessen Club auf, wo Barry trunken in einem Sessel schläft. Bullington fordert Satisfaktion. Es soll zu einem Pistolenduell kommen. Barry ist einverstanden.

In einer alten Kirche treffen sich die Kontrahenten mit ihren jeweiligen Adjutanten. Quälend langsam werden die Pistolen geladen, wird der Abstand festgelegt, werden die Regeln erklärt. Bullington ist dem Duell nervlich offensichtlich nicht gewachsen. Als er – der zuerst schießen darf – schon beim Spannen der Pistole einen Schuß abgibt und dieser als regelgerecht qualifiziert wird, spürt er sein letztes Stündlein schlagen. Doch Barry erweist sich dieses eine Mal als Edelmann und schießt in den Boden. Alle atmen auf, da sie die Sache nun für erledigt halten, doch Bullington will eine zweite Runde. Diesmal trifft er und verletzt Barry schwer an einem Unterschenkel.

Barry wird in ein nahegelgenes Wirtshaus gebracht, wo ihn seine Mutter besucht. Der Wundarzt teilt ihm mit, man müsse den Unterschenkel amputieren, um Barrys Leben zu retten.

Tage später wird Bullington bei Barry vorstellig und unterbreitet ihm den Vorschlag, gegen eine nicht geringe Jahresrente England für immer zu verlassen und Lady Lyndon nie wieder zu behelligen.

So geschieht es. Barry verlässt gemeinsam mit seiner Mutter das Land. Was weiter aus ihm wurde, so erklärt uns die Voice-Over, die den gesamten Film begleitet, wisse man nicht genau, er soll aber seine Reisen durch Europa und sein früheres Leben als Spieler wieder aufgenommen haben. Allerdings nicht mehr mit den früheren Erfolgen.

Lady Lyndon stellt einen Scheck aus. Es ist die Jahresrente für ihren ehemaligen Gatten. Das Datum auf dem Scheck bezeugt das Jahr 1789.

 

Epilog: Nachwort – Es war während der Regentschaft Georges III., daß die vorerwähnten Personen lebten und stritten, gut oder böse, schön oder hässlich, arm oder reich, sie alle sind nun gleich.

Für viele Filmwissenschaftler und Filmkritiker, die sich mit dem Werk des Regisseurs Stanley Kubrick beschäftigen, steht insgeheim fest, daß der erste „echte“ oder „wahre“ Kubrick-Film 2001: A SPACE ODYSSEY (1968) gewesen sei. Die daran anschließenden A CLOCKWORK ORANGE (1971), BARRY LYNDON (1975) und THE SHINING (1980) das Hauptwerk darstellen, FULL METAL JACKET (1987) und EYES WIDE SHUT (1999) das Spätwerk. Es stimmt, daß mit dem philosophischen Science-Fiction-Film 2001: A SPACE ODEYSSEY eine Phase im Schaffen Kubricks begann, die einem engeren Programm zu folgen schien, eine Phase, in der man als aufmerksamer Zuschauer von Film zu Film Verweise und Überschneidungen feststellen kann, die Hinweise auf Kubricks ästhetische, kulturelle und anthropologische Ansichten geben. Am deutlichsten ist dies anhand der Gestaltung einzelner Sequenzen abzulesen.

Jener Raum, in dem der Astronaut Bowman sich am Ende von 2001: A SPACE ODYSSEY wiederfindet, nachdem er etliche Minuten lang durch einen psychedelischen Lichttunnel gefallen ist, und wo er dann auf sich selbst in dreierlei Inkarnationen seines immer älteren Ichs trifft, ist mit Möbeln der Epoche Louis XVI. bestückt. Diese umfasst in etwa den Zeitraum von 1760 bis 1790 und fällt damit in die Zeit der Kulturentwicklung der (Hoch-)Aufklärung und die Spätphase der Kunstepoche des Barock. In stilisierter Form tauchen die Kostüme dieser Epoche in verschiedenen Momenten von A CLOCKWORK ORANGE wieder auf. BARRY LYNDON allerdings befasst sich dann direkt mit der entsprechenden Epoche, bzw. gibt vor, die Epoche detailversessen auszustellen, auch wenn Kubrick nicht Kubrick wäre, wäre es denn so einfach.

 

Das Spannungsverhältnis von Barock und Aufklärung als Merkmal des Kubrick´schen Hauptwerks

Es stimmt, daß es keine immanente Begründung gibt, warum diese Stilelemente in den beiden früheren Filmen verwandt werden[1]. Sie scheinen also auf ein Interesse, vielleicht eine Obsession des Künstlers Kubrick hinzudeuten. Das Spannungsverhältnis des Barock, der vor allem durch das Erleben von Massensterben (und unkontrollierten Massentöten) sowie das Gefühl des Ausgeliefertseins des Menschen gegenüber einem nicht erklärbaren Schicksal geprägt war, einem Zeitalter, das selbst die Natur als böse zu betrachten begann und in allen möglichen Erscheinungen Vorboten des Unheils oder Omen einer nahenden Zukunft sah,  und der Aufklärung als Zeitalter der Vernunft, der Ratio, des unbedingten Willens zum Wissen, scheint für Kubrick als philosophisch denkendem Menschen und Künstler von besonderer Bedeutung gewesen zu sein. Die Aufklärung wendet sich gegen das unmündige Subjekt und will es aus seiner (selbstgewählten) Unmündigkeit befreien. Sie gibt strenge moralische Regeln vor, die nicht mehr religiöser Natur sind, sondern strengem philosophischem Denken entspringen. Sie verherrlicht Wissenschafts- und Technikglauben und beginnt das bis heute andauernde Spiel von Klassifikation, Kategorisierung und Normierung der Welt und des Lebens. Sie will die Natur in dem Sinne beherrschen, daß sie deren Gesetze durchdringt und versteht und sie, wenn möglich, dem Menschen nutzbar macht. Aber es ist auch der Beginn des bürgerlichen Zeitalters und des Endes des Absolutismus, der Feudalherrschaft in Europa. Es ist der Aufbruch demokratischen Denkens, entwachsen einem erstarkenden Bürgertum, welches in seiner Frühform auch die beiden historischen Großereignisse der Epoche – die amerikanische und die Französische Revolution – in gewissem Sinne mitträgt. Sie verfolgt aber auch strenge ästhetische Konzepte, wie man bspw. anhand der gerade in der frühen Aufklärung beliebten Theorien zum Theater, dem Roman oder der Lyrik erkennen kann. Aber – folgt man Denkern wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder auch einem Michel Foucault – die Aufklärung trägt bereits den Kern der triebhaften Entfesselung, des Massenmords in Serie, der technischen Massenvernichtung durch und in Todesfabriken wie Auschwitz schon in sich, da ihr rigoroser moralischer Impetus das (atavistische? triebhafte?) Wesen des Menschen mißachtet und diesen damit in ein (zu) enges Korsett vernunftbetonten Reglements zwängt, das er früher oder später sprengen musste. Dialektik der Aufklärung. Negative Dialektik.

Dies ist der Ansatzpunkt, den Kubrick wählt. Überspringt er in 2001: A SPACE ODYSSEY in einer einzigen Einstellung mal eben ca. 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte und koppelt somit die Entdeckung eines Knochens als Waffe in der Auseinandersetzung zweier affenartiger Stämme und damit die Entdeckung von Machtstrukturen, welche damit einhergeht, an die Technologiegeschichte, indem er aus dem in die Luft geworfenen Knochen in einer geschickten Montage ein sich anmutig durchs All bewegendes Raumschiff werden lässt, widmet er sich in A CLOCKWORK ORANGE u.a. einer der zentralen Fragen der Aufklärung, nämlich jener nach dem freien Willen als Voraussetzung des Menschen zum selbstbestimmten Subjekt. In beiden Fällen deutet sich aber auch mal mehr, mal weniger ein Diskurs zur Ästhetik an, die Frage danach, ob in der (radikalen) Kunst eine Möglichkeit zur Transzendenz liegt, ein Ausweg aus, eine Synthese der Dialektik von Geist und Körper, Ratio und Trieb. Sind diese sich antithetisch verhaltenden Elemente menschlichen Daseins und das daraus hervorgehende Dilemma überhaupt zu synthetisieren? Kann man all die menschlichen Schwächen – die Aggression und Gewaltbereitschaft, den Neid, die Mißgunst, die Lust an Ranküne, Kabale und Intrige, den Trieb als Ausdruck emotionalen Strebens, letztlich auch die Freiheit zum Bösen – mit strengem Regelwerk, staatlicher Aufsicht, gar durch technische Vorrichtungen einhegen?

Es sind dies Meta-Fragen, die sich nun durch das Werk des Meisterregisseurs ziehen und die sich auf die eine oder andere Art und Weise auch in den Spätwerken, mal spezifisch (Krieg), mal allgemeingültig (Liebe und Sexualität), finden lassen. Fragen, die sich aber, sieht man genau hin, auch schon in früheren Werken wie THE KILLING (1956), PATHS OF GLORY (1957), LOLITA (1962) oder DR. STRANGELOVE OR HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB (1964) aufdrängen. Doch – und das hat die Kritik gesehen und festgehalten – nie war Kubrick diesen Fragen im Kern so nah und der Regisseur damit so sehr bei sich, wie in BARRY LYNDON. Und selten hat die Kritik, die nie sonderlich zimperlich mit Kubrick und seinen Filmen umging, weniger mit dem Ergebnis anfangen können, wie hier. Liest man die Sekundärliteratur (oder zumindest Teile davon, ist die zu Kubrick und einzelnen Werken doch schier unüberschaubar), spürt man geradezu, wie sich Wissenschaftler und Theoretiker mit diesem Werk quälen, das so erratisch, hermetisch und abweisend daherkommt.

 

BARRY LYNDON als Literaturverfilmung

Wie nahezu alle Werke Kubricks, ist auch BARRY LYNDON zuerst und vor allem eine Literaturverfilmung. Lagen LOLITA, 2001: A SPACE ODYSSEY und A CLOCKWORK ORANGE zeitgenössische Werke zugrunde, konnte der Regisseur bei allen drei Werken sogar die Autoren der Vorlagen einbinden und am Entwurf der Drehbücher beteiligen, griff Kubrick nun erstmals auf ein klassisches Werk zurück.

THE MEMOIRS OF BARRY LYNDON, ESQ., WRITTEN BY HIMSELF erschien 1844 als dritter Roman von William Makepeace Thackeray. In der Literaturwissenschaft nahm das Werk nie einen sonderlich hohen Stellenwert ein, Thackeray wird bis heute vor allem mit seinem Nachfolgewerk, VANITY FAIR (erschienen 1847/48), identifiziert. Allerdings war der Autor in seiner Zeit einer der meistgelesenen in Großbritannien, gleich nach Charles Dickens, den er zeitlebens ebenso bewunderte wie er ihn beneidete.

Die Geschichte des irischen Junkers Redmond Barry, der sich durch Opportunismus, Intrigen, Dreistigkeit und ein gerüttelt´ Maß an Gewaltbereitschaft und Skrupellosigkeit eine gesellschaftliche Stellung zu erkämpfen sucht; dem dies gelingt; der aber im Laufe seines Lebens auch alles Gewonnene wieder aufs Spiel setzt und verliert – was sich symbolisch in seiner Karriere als professioneller Spieler an den Tischen und Höfen der Reichen und Schönen im Europa seiner Epoche spiegelt – wird gern als Schelmenroman betrachtet. Wenn eines der Merkmale dieser spezifischen literarischen Gattung die Nichtentwicklung des Helden ist, der nahezu unbeleckt von den Zeitläuften durch eine sich wandelnde Welt wandert, dann kann man dies in Bezug auf den Roman vor allem daran festmachen, daß Barry am Ende genau dort angelangt ist, wo er zu Beginn des Buchs seinen Ausgang nimmt: In bitterer Armut, gedemütigt und verachtet. Doch liest man den Roman genau, muß man feststellen, daß Thackeray seinem Helden (oder Anti-Helden?) durchaus Entwicklungspotential zugesteht. Denn der entwickelt sich zumindest von einem heißblütigen jungen Mann, der sich unvermittelt in ein Duell stürzt, da er eine Dame liebt, die bereits einem englischen Offizier versprochen ist, zu einem durchtriebenen Opportunisten, der seine durchaus bösartigen Anlagen erst im Laufe des Romans voll entwickelt.

 

Literaturverfilmung und Erzählperspektive: Zum Gebrauch der Voice-Over in BARRY LYNDON

Thackeray schreibt seinen Roman aus der Perspektive dieses Barry Lyndon, wie der Originaltitel ja schon ankündigt. Dieser Erzähler, der, als alter Mann im Schuldturm sitzend, auf sein Leben zurückblickt, ist allerdings kein zuverlässiger Berichterstatter, wie er dem Leser bereits auf den ersten Seiten des Werkes mehrmals kundtut. Und richtig – Barrys Angaben, vor allem die zeitlichen, hauen oft nicht wirklich hin; man erhält den Eindruck, daß subjektive Lebenszeit und historische Zeit nicht übereinstimmen. Aber auch betreffs seiner Abenteuer, der historisch verbürgten Personen, die er im Laufe seiner Wanderjahre durch Europa getroffen zu haben behauptet, all der Damen, die er gefreit haben will, der Duelle, die er erfolgreich bestanden zu haben vorgibt, kann man sich nie sicher sein. Barry ist ein Prahlhans, ein Angeber, ein Aufschneider sondergleichen.

Kubrick konnte diese Perspektive nicht übernehmen. Er begründete dies vor allem mit der „Objektivität der Bilder“. Es sei nicht möglich, dem Zuschauer Bilder zu präsentieren, die er glauben müsse und zugleich eine narrative Voice-Over anzudienen, deren Aussagen offensichtlich dem Geschehen auf der Leinwand widersprechen. So baut er einen auktorialen Erzähler ein, der das Geschehen auf der Leinwand teils kommentiert, teils ergänzt und teils auch vorwegnimmt. Es gibt wahre Glaubensstreitigkeiten zum Nutzen und Wehen der Voice-Over. Bedeutet ein externe Erzählerstimme im Film nicht meist, daß der Regisseur seinem Material nicht vertraut? Sollten nicht Bilder für sich selber sprechen?

Tatsächlich sind Kubrick solche Fragen meist egal. Er nutzte eine Voice-Over in einigen seiner Filme, in A CLOCKWORK ORANGE ist es Alex, der Hauptprotagonist selbst, der uns die Geschichte erzählt. Das hatte im Vorgänger zu BARRY LYNDON vor allem den Zweck, das Nadsat, jene Kunstsprache, die Anthony Burgess für seinen dystopischen Roman entworfen hatte, glaubwürdig in den Film einzuführen. Zudem konnte Kubrick den Zuschauer zu einem Gefährten und auch einem Komplizen von Alex machen. Dadurch wurde das Publikum zu einem Komplizen auch bei den Überfällen und Vergewaltigungen, bis hin zu dem Mord, den Alex schließlich begeht und der ihn dann ins Gefängnis bringt. Und es wurde zu seinem „Bruder“, wie er den Zuschauer einige Male („Oh meine Brüder“) anspricht und damit auch zu einem Leidensgenossen in allem, was Alex im Gefängnis und vor allem nach seiner Behandlung widerfährt. Kubrick macht also auch mit der Voice-Over den Zuschauer mitschuldig, nimmt ihn in eine Art Gefangenschaft, führt ihn nah an seine Hauptfigur heran.

Die Voice-Over wird so zu einem integralen Bestandteil des filmischen Erzählens. Doch sind die Dinge bei BARRY LYNDON anders gelagert. Der Dreiklang aus Bildern, Erzählstimme und vor allem der bei Kubrick immer ausgesprochen wichtigen Musikauswahl, erschafft erst den Gesamtkosmos, den der Film darstellt und der eben keine adäquate Wiedergabe der Epoche ist (obwohl, worüber noch zu sprechen sein wird, die Darstellung schon von äußerster Akkuratesse geprägt ist). Vielmehr ist es eine Studie, vielleicht eine Abhandlung, ein hochkomplexes aber im Grunde ebenso hoch abstraktes Werk über eine Epoche und ihre ästhetischen Grundzüge als Ausdruck einer Geisteshaltung. Und in diesem Zusammenhang steht BARRY LYNDON dann eben in direkter Verbindung zu seinen Vorgängern. Allerdings nutzt der Regisseur die Voice-Over hier, um Distanz zwischen seinen Film und den Zuschauer zu bringen. Auch das Teil des ästhetischen Spiels.

Die Verwendung der Voice-Over selbst steht schon in diesem Zusammenhang. Denn sie objektiviert das Geschehen ebenso, wie es laut Kubrick auch die Bilder bereits tun. Diese Objektivierung entspricht eben auch dem Geist der beschriebenen Zeit. Denn Objektivität (was auch immer dies, gemessen an moderneren philosophischen Überlegungen, auch sein mag), strenge Messbarkeit, Symmetrie – alles im Sinne der Wissenschaft – waren ja gerade entscheidende Merkmale der Philosophie der Aufklärung. Doch erfüllt die Voice-Over im Kontext des Films (und im Kontext einer Literaturverfilmung) auch andere Funktionen. Sie strafft, sie vermittelt Entwicklungen, die zu zeigen viel Aufwand und wenig Ertrag gebracht hätte.

Zur Differenz des Romans und der Verfilmung

Kubrick hatte das Drehbuch alleine geschrieben und dementsprechend sehr genau überlegt, wie er den Film anlegt, wie er sich zum Buch abgrenzt, auf welche Episoden er Wert legte, welche er weglassen konnte. So straffte er das ausufernde Werk in allen Teilen und Abschnitten. Wobei auffällt, daß Kubrick Barrys innere Entwicklung, wenn die denn im Film überhaupt stattfindet, ausschließlich durch die Voice-Over vermittelt, die damit oft in äußerster Diskrepanz zu den Bildern steht, die sie begleitet. Thackeray, dessen Grundton ein ironischer ist, legt viel Wert auf die Schilderungen des Siebenjährigen Krieges und all jener militärischen Operationen, die das 18. Jahrhundert trotz aller Aufklärung und Wissenschaftsgläubigkeit prägten. Barry ist Zeitzeuge dieser Entwicklungen, zunächst in der britischen, dann in der preußischen Armee. Diese Aspekte greift auch Kubrick auf und zeigt den Krieg, den Thackeray klar anprangert, als unmenschlich und als ein Spiel der Mächtigen mit den Leben ihrer Untertanen, als ein ebenfalls durch seine Zeit geprägtes Spektakel. Die deutlichste Veränderung zum Buch ist aber das Ende. Kubrick lässt den Film, wie uns eine Großaufnahme eines Schecks, den Lady Lyndon unterschreibt, mitteilt, im Herbst 1789 enden. Also im Jahr der Französischen Revolution. Über sein weiteres Leben, so die Voice-Over, könne man nichts berichten, Barry habe später sein Wanderleben wieder aufgenommen und sei an die Spieltische Europas zurückgekehrt, allerdings ohne die früheren Erfolge. Im Buch erfahren wir weitaus mehr und genauer, wie es mit Barry weiterging. Auch das abschließende Duell zwischen Barry und seinem Ziehsohn, ist eine reine Erfindung Kubricks. Es kommt im Buch so nicht vor. Wie bei A CLOCKWORK ORANGE, ließ der Regisseur in seiner Bearbeitung erneut das letzte Kapitel des zu bearbeitenden Romans schlicht außen vor.

In diesem spezifischen Fall schafft die Voice-Over Distanz zum Protagonisten, eine Distanz, den das Buch eben gerade nicht zulässt. Dort ist der Leser immer auf die prekäre Glaubwürdigkeit des Erzählenden angewiesen, der Film seinerseits nimmt maximale Distanz zu seiner Hauptfigur ein. Kaum könnte die Diskrepanz zwischen dem Barry Lyndon des Buches und dem des Films größer sein. Während der Barry im Buch der bereits beschriebene Aufschneider ist, der sich immer wieder in Duelle stürzt, Satisfaktion fordert, mit allerhand Tricks seinem Onkel, dem Chevalier, zur Hand geht bei dessen Betrügereien am Spieltisch, während dieser Mann aufbraust und durchaus das große Wort schwingt, spielt Ryan O´Neal Barry Lyndon nahezu unbewegt. Der Barry Lyndon des Films ist wie ein leeres Gefäß, eine Projektionsfläche – fragt sich nur für wen? Die Epoche? Kubrick? Für uns, die Zuschauer? O´Neal verzichtet nahezu auf jegliche Mimik. Barry schaut fast immer gleich, lediglich – aber wesentlich – sind es seine Augen, die Blicke, die etwas über sein Innenleben verraten. So kommt dieser Film-Barry dem Helden eines Schelmenromans im Grunde näher, als es der Buch-Barry je könnte. Der Film-Barry wird ein Beobachter seiner Zeit, ein Wanderer durch eine Epoche, anhand dessen Lebenslauf es einem Künstler wie Stanley Kubrick möglich ist, ein Statement abzugeben, eine Untersuchung zu führen, eine Meditation über eine Zeit und ihre Ideen vorzulegen und zugleich ein Sittengemälde zu produzieren.

Zugleich fällt aber auf – auch das in Widerspruch zur Vorlage – , daß die Aufklärung als solche im Film nie Erwähnung findet. Der Film-Barry ist ein Mensch (Mann) seiner Zeit, der wenig Interesse an kulturellen und geistigen Ergüssen hat. Er ist ein Mann der Tat, der kaum Kenntnis nimmt von den kulturellen Entwicklungen seiner Epoche, es sei denn, es geht um Mode, Pferde oder das Spielen – alles auch Möglichkeiten, sich in einer Gesellschaft hochzudienen, die für Emporkömmlinge wenig übrighat; zumindest solange wir von der adligen Gesellschaft sprechen.

Der Barry Lyndon des Buches hingegen nimmt häufig Bezug auf das Geistesleben seiner Zeit, Allerdings verachtet er es, stellt wesentliche Persönlichkeiten – Samuel Johnson, Edward Burke u.a. – als verschwenderische, weinerliche Männer aus, die sich ihrerseits gern aushalten lassen und sich Geistesergüssen hingeben, die für Barry keine Rolle spielen. Spät im Roman dann nimmt der Erzähler direkten Bezug auf die Veränderungen, die durch die Epoche hervorgerufen wurden und verdammt diese, weil sie das Leben der Gentlemen, also der Lords und Peers, nicht das des einfachen Mannes, nicht das der neu entstandenen bürgerlichen Klasse, zerstört habe.

Barry Lyndon ist ein Mensch, der selbst nicht weiß, welch tiefgreifende Veränderungen die Zeit, in der er lebt, mit sich bringen. Auch dies – man erinnere sich an die letzte Einstellung des Films mit dem Datum 1789 – ist Teil des Kubrick´schen Spiels, wenn er uns zu verstehen gibt, daß wir wissen, was der Protagonist selbst nicht weiß, weil wir über eine historische Perspektive verfügen, die der Zeitgenossen kaum haben kann. Es mag auch dies ein Grund gewesen sein, daß Kubrick, der nach eigener Aussage die Geschichte mochte, die dem Roman zugrunde liegt, auch weil sie einen uneindeutigen Helden präsentiert, Thackerays Roman als Vorlage für seinen Film wählte. Dem Zuschauer die historische Perspektive zu präsentieren, ist für das später noch genauer zu untersuchende Wechselspiel, die Korrespondenz zwischen Film, Roman, historischer Wirklichkeit und philosophischem Denken, ausgesprochen wichtig. Kubricks Ebene ist im Wesentlichen allerdings einmal eine ästhetische.

 

Ästhetik und l´art pour l´art

In der Literatur wie in den zeitgenössischen Kritiken zu BARRY LYNDON fällt auf, wie wenig viele Kritiker mit dem Film anfangen konnten, sich zugleich aber vor allem in seiner ästhetischen Darstellung verlieren. Und sicher ist dies auch das Erste, was beim Betrachten ins Auge sticht. Kubrick bietet Bildtableaus, die es so sicher nur selten auf der Leinwand zu bestaunen gab. Der Perfektionist Kubrick konnte ausschließlich on location drehen, der Film bietet nicht eine Studioaufnahme, keine Bauten und Kulissen. So durfte Kubrick sogar in der DDR in Schloß Sanssouci drehen, das u.a. für ein Bild der Berliner Straße Unter den Linden gelten musste. Für die Kostüme wurden weltweit nicht nur Originale gesucht, sondern auch Stoffe, die denjenigen des 18. Jahrhunderts entsprachen und die zur Herstellung genutzt wurden. Je nach Quellenlage sollen letztlich im Film nur zwei Originalkostüme genutzt worden sein, andere berichten von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Originalen und extra für den Film hergestellten Kleidern.

Die Bildgestaltung ist streng, oft symmetrisch angelegt, sie folgt sehr genauen ästhetischen Prinzipien, vor allem aber stellt Kubrick in einer Detailversessenheit, die ihresgleichen sucht, Gemälde, Stiche und Karikaturen nach, die der Zeit entsprachen, die der Film umfasst. Bilder von Constable und Gainsborough standen Pate für die Aufnahmen Irlands und der englischen Landschaften, in der Figurenzeichnung griff Kubrick vor allem auf Stiche und Karikaturen von William Hogarth zurück.

Ähnlich wie es Phiz für die Werke Charles Dickens tat, schuf auch Hogarth ein satirisches Bild seiner Zeitgenossen. Dieses findet sich in etlichen Szenen in BARRY LYNDON wieder. Die Gesellschaft, die diese ausgesprochen genauen Szenenbilder bevölkert, ist ein Zerrbild und entspricht somit ebenfalls einem ästhetisierten Bild. Wenn auch einem hässlichen. Doch Kubrick hatte schon in A CLOCKWORK ORANGE einer „Ästhetik des Bösen“ (Karl Heinz Bohrer) gefrönt und seinen Film diesem Teil der Kunstgeschichte gleich selbst eingeschrieben, indem er einen im de Sade´schen Sinne „bösen“ Film schuf, der sein Publikum „infizierte“. Das machte einen Teil des Skandals aus, den der Film einst hervorgerufen hatte. Alex DeLarge, der Vergewaltiger und Mörder, als radikaler Künstler, der das Verbrechen, gar das Töten, aller moralischer Bewertung entzieht und zu einer Performance macht, einem künstlerischen Akt. Ein radikaler ästhetischer Akt, eine Bewegung, die der Film selbst in seiner Art der Bildgestaltung, der Montage und vor allem der indifferenten Ansprache des Publikums durch Alex, nachvollzieht, sich aneignet. Wodurch er selber zu einem „bösen“ Akt wird.

Von dieser Radikalität wendet sich Kubrick nun, in BARRY LYNDON, vordergründig erst einmal ab. Geht es in A CLOCKWORK ORANGE vor allem um die Auseinandersetzung des Individuums mit einer Gesellschaft, die seinen Willen brechen will, wenn auch vermeintlich im Sinne des „Guten“, studiert Kubrick nun eine Gesellschaft, die am Anfang dieser Entwicklung steht, einer Gesellschaft, die aufgrund ihres philosophischen Hintergrunds beginnt, den Menschen in enge Moralkorsette und sehr genaue Regeln und Normen zu pressen. Und ästhetische Konzepte entwickelt, die dem entsprechen. So entsteht zunächst ein Film der Oberflächen. Diesen Oberflächen scheinen die Figuren zu entsprechen. Auch sie sind rein äußerlich, scheinen ein Museum zu bevölkern, fast entfremdet in einer Umwelt, die entweder – wenn es sich um die Natur handelt – feindlich oder gebändigt erscheint, oder – handelt es sich um kulturelle Gegenstände wie Häuser, Schlösser, Gegenstände – selten funktional erscheint, sondern nur um ihrer eigenen äußerlichen Schönheit Willen existiert.

L´art pour l´art, eine (angebliche) Haltung, die Kubrick schon seit 2001: A SPACE ODYSSEY immer wieder vorgeworfen worden war. Er baue Tableaus, Bildwelten, in denen der Mensch im Grunde keine Rolle mehr spiele, was auch Ausdruck seiner tiefsitzenden Misanthropie sei. Kubrick habe keinen Zugang zur Psyche, das Personal seiner Filme existiere lediglich in Versuchsanordnungen, die immer dem Willen und Wesen des Regisseurs entsprächen. Einmal davon abgesehen, daß dies ein Vorwurf ist, den man letztlich jedem Regisseur, von Hitchcock bis Godard, von Eisenstein bis Antonioni, machen könnte, trifft er in Kubricks Fall auch schlicht nicht den Kern seines Werkes. Denn Ästhetik, Kunst, wird im Welt- und Menschenbild des Regisseurs zu einer vielleicht letzten Möglichkeit, den Menschen zu erretten. Allerdings stimmt es, daß in Kubricks Welt- und Menschenbild all das, was wir heute als Errungenschaften der Aufklärung verstehen, vor allem die moralischen und ethischen Konzepte von Menschenwürde und Menschenrechten, zwar keine untergeordnete Rolle spielen, allerdings immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden und Kubrick den Menschen immer wieder an dem Widerspruch aus Ratio und dem, was wir „die Natur des Menschen“ nennen, also seinen Trieben, Wünschen und unbwußten Motiven, scheitern lässt.

Ästhetik als Ausdruck menschlicher Verfasstheit und unterdrückter Triebe

Genau das gilt auch für das gesamte Personal in BARRY LYNDON. Bei aller Formstrenge, der sich diese Menschen unterwerfen, was sich auch in den Perücken, den geweißten und geschminkten Gesichtern spiegelt, in den schon grotesk angebrachten Schönheitsflecken, sind auch sie doch immer wieder Opfer ihrer eigenen Lasterhaftigkeit, ihrer Bösartigkeit und vor allem ihrer Wollust. Nur emotionale Bindungen gehen sie so gut wie nie ein. Barrys Werben um Lady Lyndon ist ausschließlich seinem Aufstiegswillen und seiner Gier geschuldet. Kaum verheiratet (wobei Kubrick uns die Hochzeit vollends, weil unwesentlich, vorenthält), sehen wir die beiden Frischvermählten sprachlos nebeneinander in einer Kutsche sitzen, Barry schmaucht ein Pfeifchen und bläst, als sie sich über den Qualm beschwert, seiner Angetrauten eben diesen wortlos ins Gesicht. Seine ganze Verachtung gegenüber seiner Frau – aber auch ihrer gesellschaftlichen Stellung – in eine einzige Geste gepackt.

Wobei Kubrick uns auch hier mithilfe der Voice-Over das eben Gesehene noch einmal beschreibt und dabei tiefere Einblicke in sein Wesen und das Wesen einer solchen Ehe gibt. Wie auch in anderen Zusammenhängen, ist diese Erzählstimme der Geschichte, die in den Bildern erzählt wird, einmal mehr voraus. Am eklatantesten ist sie dies in Bezug auf Barrys Lebensglück. Denn während wir ihn in einer späteren Szene mit seinem leiblichen Sohn spielen sehen, den er ernsthaft zu lieben scheint (Barrys deutlichste Gefühle drücken sich am Sterbebett seines mit einem Pferd verunglückten Kindes aus), teilt uns die Stimme aus dem Off mit, daß Barry eben dieses Glück verwehrt bleiben und er einst ohne lebenden Nachwuchs sterben wird.

Auch alle anderen Personen im Film, die überhaupt eine wesentliche Rolle spielen – Lady Lyndon, der Chevalier, Barrys Ziehsohn Lord Bullington, aber auch Nebenfiguren wie Lady Lyndons erster Mann oder ihr brüderlicher Freund und Verbündeter, Reverend Samuel Runt – entsprechen diesem Bild. Sie sind blutleer, anämisch, aber nicht nur am Körper, sondern auch in Geist und Seele. Ihr Trachten scheint außerweltlich, ist de facto jedoch ununterbrochen auf sehr Weltliches gerichtet. Sie wollen Ehre und Wohlstand, eine Stellung, Satisfaktion, Macht, Geld oder Ruhm. Und alles, womöglich, für kleine Münze. So wird hier auch die Krämerseele vieler deutlich, die die Welt der Aufklärung bevölkerten. Man versteht, wie in dieser Zeit Kompendien entstehen konnten, wie sie bspw. Joseph Christoph Gottsched schrieb, eine Schlüsselfigur der frühen Aufklärung in Deutschland, wo auch BARRY LYNDON in weiten Teilen spielt. Mit all dem Wissensurst und der Entdeckerseele, die die Aufklärung beherrschten, brach sich eben auch die Kleinkrämerei Bahn, machte sich bürgerlicher Mief bemerkbar[2].

 

Die totale Ästhetisierung

Und schließlich ist da die Gewalt, die Kubrick anhand dreier, sich teils wiederholender, Beispiele zeigt und deren Beherrschung, die einer Beherrschung der Triebe gleichkommt, ebenfalls dem normativen Geflecht ihrer Epoche entstammt. Es sind Duelle, der Krieg und Züchtigungen, die Kubrick exemplarisch nutzt, um diese Einhegung zu vermitteln.

Duelle

Mehrfach sehen wir Duelle. Sowohl solche mit der Pistole, als auch mit dem Degen geführte. Der Film beginnt mit dem Duell von Barrys Vater, das ihn das Leben und die Familie Wohlstand, Ruhm und Ehre kostet. Desweiteren gibt es das im Buch nicht erwähnte, im Film in fast quälender Langsamkeit und Genauigkeit vorgeführte Duell zwischen Barry und seinem Stiefsohn Lord Bullington. Und mehrfach duelliert sich Barry im Auftrag seines Onkels mit Schuldnern, die ihre Ausstände beim Spiel nicht zahlen wollen. Während die Pistolenduelle zu wirklichem Leid führen, sind diese Degenduelle wie gesellschaftliche Ereignisse inszeniert, bei denen der Unterlegene grundsätzlich aufgibt, bevor Schlimmeres passieren kann. Gewalt als Mittel der Satisfaktion, jedoch zum Ritual erstarrt. Dieses rituelle Element jedoch bestimmt vor allem auch das Duell mit Lord Bullington. Ewig werden die Regeln erklärt, werden die Pistolen vorbereitet. Genauestens wird die Entfernung zwischen den Duellanten abgemessen. All dies, während die Betreffenden dabeistehen und im Falle Lord Bullingtons Blut und Wasser schwitzen vor Angst.

Gerade anhand dieser Figur kann Kubrick den doppelten Wahnsinn aufzeigen, der dem ganzen Vorgang zu eigen ist. Da ist zum einen die ritualisierte Tötung selbst, auf die ein Pistolenduell im Normalfall hinausläuft – auch, wenn Barry später erfahren muß, daß sein eigenes Duell mit Captain John Quin, bei welchem es um Barrys Cousine ging, in die er in Jugendjahren fürchterlich verliebt war, und dessen Ausgang Grund und Motiv für seine Flucht und die anschließenden Abenteuer in den Armeen des Kontinents ist, ein fingiertes war. Symbolische Vorwegnahme seines Lebensweges, in dem Betrügereien und Hochstapelei zum Handwerk zählen, um die eigene gesellschaftliche Position zu verbessern. Doch anhand dieses Duells kann man auch noch einmal den (ebenfalls rituellen) Druck sehen, der auf einem jungen Mann wie Bullington lag. Denn er muß seinen Stiefvater, der ihn öffentlich gedemütigt hatte und seine Mutter gänzlich in den Ruin zu treiben droht, herausfordern, will er sein Ansehen bewahren und weiterhin als Gentleman und vor allem nicht als Feigling wahrgenommen werden.

Die Art der Darstellung vor allem des letzten Duells des Films, kann allerdings auch ganz anders gelesen werden. Kubricks Filme sind, wie bereits dargelegt wurde, grundlegend und immer auch kritische Auseinandersetzungen mit der Entwicklung des Menschen als zivilisiertes Wesen. In BARRY LYNDON macht er sich auf sehr zurückhaltende, sehr leise, ironische Weise auch über einen Kult der Ehre und damit von Männlichkeit lustig, die etwas Bösartiges hat (wie ebenfalls viele seiner Filme). Einerseits wirken diese Männer in ihren Masken, gepudert und mit ihren Schönheitsmalen extrem effeminiert, andererseits sind die Rituale ihrer Männlichkeit, die natürlich auch und gerade in den Duellen zum Ausdruck kommen, übertriebene Merkmale einer gebändigten, vielleicht domestizierten Männlichkeit. Wenn Kubrick dann dieses Duell in endloser Entschleunigung darstellt, zugleich Lord Bullingtons Angst und Panik so deutlich zeigt und Barry – hier immerhin einmal wirklich „heldisch“ – in den Boden schießen lässt, weil er seinen Stiefsohn nicht töten will, dann evoziert das Erinnerungen an eines der berühmtesten Pistolenduelle der Filmgeschichte, das 1975 den meisten Kinogängern noch gut im Gedächtnis gewesen sein dürfte: Jenes endlos zerdehnte Ende in Sergio Leones C`ERA UNA VOLTA IL WEST (1968), bei dem Charles Bronson und Henry Fonda einander gegenüberstehen, sich umkreisen, die richtige Position suchen und Fonda dabei herauszufinden versucht, wer ihm da eigentlich nach dem Leben trachtet. Was bei Leone dramatischer, pathetischer und abschließender Höhepunkt einer Rachegeschichte epischen Ausmaßes ist, wird bei Kubrick zum Ausdruck unterdrückter Ängste, unterdrückter Gewaltbereitschaft, aber auch einer offenbaren Müdigkeit aufgrund sich immer wiederholender Rituale. Gerade in diesem Duell wird die ganze Enge und normative Strenge der Epoche noch einmal überdeutlich ausgestellt.

Der Krieg

Diese Ordnung, die genaue Vorstellung eines Regelwerks, offenbart sich auch im Krieg. Mehrfach sehen wir Marschszenen, vor allem aber Barrys erste Begegnung mit dem „wirklichen“ Krieg ist aufschlußreich. Da marschiert ein englisches Bataillon gegen eine französische Stellung. Langsam, in Reih und Glied, dem langsamen Takt der Trommel folgend. Die Franzosen schießen ihre Salven in die Reihen der britischen Truppen und reißen beträchtliche Lücken, die sofort durch den Hintermann gefüllt werden. Als seien diese Männer alle längst entweltlicht, als marschiere der Tod selbst, eine Zombiearmee, da auf, marschieren die Soldaten immer weiter, den eigenen Tod nicht einfach in Kauf nehmend, sondern gleichsam erwartend, ihn fast schon hinnehmend. Auch sie nur noch Zeichen eines ästhetischen Spiels. Ein Spiel, das die Mächtigen untereinander spielen.

Der Siebenjährige Krieg, oftmals als der erste echte „Weltkrieg“ bezeichnet, da er auf mindestens zwei Kontinenten und auf den Weltmeeren ausgefochten wurde, war vielleicht der letzte seiner Art. Die offene Feldschlacht, bei der die Truppen in eine klare Schlachtordnung gepresst wurden, der Angriff und die Verteidigung nach klaren Regeln und festgelegten Ritualen – all das sollte es so nicht mehr geben. Hier aber drückt sich eben nicht nur Herrschaftswille aus, sondern auch eine Ästhetik des Krieges, des Tötens und getötet Werdens, die in sich pervers anmutet. Man muß an all die Zitate denken, die einem im Lauf der Beschäftigung mit Kriegen schon untergekommen sind, u.a. jenes von Robert E. Lee aus dem Hundert Jahre später ausgefochtenen amerikanischen Bürgerkrieg, der in Anbetracht der Unionstruppen, die in Fredericksburg Stunde um Stunde, Reihe um Reihe, einen Anstieg hinaufmarschierten und von den Sezessionstruppen unter Feuer genommen wurden, gesagt haben soll, wäre er nicht so schrecklich, man könne den Krieg geradezu lieben. Es ist die Schönheit des Grauens, wenn Hunderte oder gar Tausende von Männern unerschrocken über offenes Feld, ihre Uniformen in der Sonne blinkend und strahlend, aufeinander zu marschieren. Auch dies eine „Ästhetik des Bösen“.

Aber es kommt hier eben auch Herrschaftswille zum Ausdruck, denn es ist, gerade in Zeiten des Absolutismus, das Vorrecht der Mächtigen, diese Männer aufeinander und in den sicheren Tod zu hetzen. Thackeray, bei aller Unsicherheit der Erzählerposition, die er einnimmt, prangert im Buch immer wieder die Praktiken an, die diesen Kriegen zugrunde lagen. Wie Männer aus ganz Europa in die Armeen gepresst wurden, wie gerade die deutschen Kleinfürsten Teile ihrer Truppen verkauften und später auf dem nordamerikanischen Kontinent aufmarschieren ließen, wo diese, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging, die englischen Kolonialkriege gegen die Aufständischen um George Washington ausfochten. Diese Männer waren, sobald sie die jeweilige Uniform trugen, nur noch Menschenmaterial, eine Ware und zudem Schachfiguren, die man auf den Schlachtfeldern verteilen und herumschieben konnte. Das, was in der neoliberalen Spätaufklärung des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts in ökonomischen Zusammenhängen gern als „Humankapital“ bezeichnet wird.

Wie so Vieles in BARRY LYNDON – das Dekor, die Kostüme, die Manieren und manierierten Gesten und Verhaltensweisen – scheint auch der Krieg nur ein Spiel zu sein. Kubrick kann so die – im Film ja nie explizit erwähnten, vom Regisseur beim Publikum als Kenntnis aber vorausgesetzten – Regeln und Gedanken der Aufklärung als „bürgerliches Zeitalter“ auch auf dieser Ebene in Frage stellen. Obwohl man sich der Vernunft, dem Logos, verschrieben hatte und sich zivilisiert gab, obwohl Friedrich II. als Repräsentant des „aufgeklärten Absolutismus“ galt und sich am Hofe gern mit Philosophen und Künstlern umgab, wurden in dieser Epoche schreckliche, blutige und letztlich unnötige Kriege geführt. Auch und gerade vom Preußenkönig.

Die Züchtigung

Es wurde oben bereits in anderem Zusammenhang erwähnt – die Aufklärung hatte immer auch einen pädagogischen, einen erzieherischen Aspekt. Barry, der eine rudimentäre Erziehung auf dem Lande genossen hat, der zwar in eine Klasse aufgestiegen ist, der er sich naturgemäß zugehörig fühlt, die er aber nicht versteht, weil er weder über die Bildung verfügt, die dafür nötig wäre, noch über den Pli, sich hier auf natürliche Weise zurecht zu finden und zu bewegen, kann in der Erziehung der eigenen Kinder – wobei dies sein Stiefsohn Lord Bullington und ein selbst mit Lady Lyndon gezeugter Junge sind – nur auf die Mittel zurückgreifen, die er kennt. Also züchtigt er sie. Vor allem Lord Bullington. Zweimal sind wir bei diesen Strafaktionen zugegen. Einmal wird der noch kindliche Bullington mit sechs Stockhieben auf den Allerwertesten bestraft, später der mittlerweile fast erwachsene Jugendliche, mit dem gleichen Ritual und der gleichen Anzahl von Schlägen.

Auch diese Gewaltanwendung folgt einem festgelegten Ritual, auch hier wird streng die Form gewahrt. Sechs Schläge für den kleinen Jungen, sechs Schläge für den nahezu Erwachsenen. Durchgeführt wird die Bestrafung ebenfalls strengen Regeln folgend. Alles in dieser Welt ist ritualisiert, ist fremd und entfremdend für den Betrachter. Allein die Geschwindigkeit, mit der Barry seine Streiche führt, ist enervierend. Und entspricht dem Tempo des gesamten Films ebenso, wie es die Langsamkeit des Duells und der langsame Vormarsch der britischen Truppen auf die französischen Linien tun.

Die Gewalt bricht sich Bahn und der Film verlässt die Distanz

Wenn die Duelle, wie auch das Kartenspiel und die im Film gezeigten Feste, den strukturierenden Charakter des Films bestimmen, dann zerstört Kubrick diese Einheit mehrfach. Der Blick der Kamera, wie so oft bei Kubrick, ist ein distanzierender, der ganze Film nimmt einen, wie Christoph Hummel es nennt, „Zeige-Gestus“ ein[3]. Er stellt aus – eine Epoche, aber eben auch sich selbst. Dazu später mehr. John Alcotts Kamera bleibt sehr häufig in der Distanz, selbst Szenen, die mit einer Detailaufnahme beginnen, werden durch einen, oft extrem verlangsamten, Zoom in die Distanz geschoben. So kann Kubrick einerseits die Dekors „enthüllen“ und auch die Kostspieligkeit seiner Produktion ausstellen, doch vor allem kann er immer wieder Distanz zwischen dem, was die Leinwand zeigt, und dem Zuschauer selbst herstellen. Eine Distanz, die uns zwingt, die zeitliche Differenz wahrzunehmen, die uns von der dargestellten Epoche trennt, obwohl sie uns – Beginn der Bürgerlichkeit, Beginn demokratischer Bewegungen, Beginn des Nachdenkens über das Individuum und seine Rechte – doch so nah erscheint.

Mehrfach unterbricht Kubrick also diesen Modus, beide Male sind es Szenen brachialer und unmittelbarer Gewalt. Einmal ist es Barrys Initiation in der Armee, wofür er sich mit einem weit überlegen wirkenden Kameraden schlägt und siegt. Ein anderes Mal ist es jener Moment, nachdem Lord Bullington ein Kammerkonzert seiner Mutter im Schloß stört, dabei seinen kleinen Halbbruder in seine Schuhe steckt und eine bittere Klage gegen den Stiefvater und seine ihn offensichtlich nicht liebende Mutter richtet. Barry ist außer sich und fällt über seinen Stiefsohn her, prügelt wie von Sinnen auf ihn ein. In beiden Fällen verlässt der Film vollends die distanzierte und distanzierende Perspektive und geht mit der Handkamera, von Kubrick selbst geführt, direkt in die Situationen hinein.

Als Zuschauer spüren wir dadurch etwas Unmittelbares, etwas Zorniges und Animalisches, das sich Bahn bricht. Zugleich aber sind wir fast erleichtert, daß uns endlich eine solche Szene in einer filmischen Grammatik geboten wird, die wir gewohnt sind. Barrys atavistische Züge kommen zum Ausdruck, es bricht sich Bahn, was wir immer schon für menschlich gehalten haben und Kubrick gibt seinem Hang zu Misanthropie nach und zeigt uns dieses Wesen, den Mensch, bar aller erzieherischen Normen und bar aller zivilisatorischen Einschränkungen. So „zivilisiert“ die Gewalt im Duell ist, so ästhetisch aufgewertet sie in der Schlacht wirkt, so ritualisiert die Bestrafung eines ungehorsamen Kindes auch sein mag: Hier zeigt sich das Wesen der Gewalt in seiner ganzen brutalen Primitivität.

Mag die Prügelei in der Armee selbst noch einem Ritual gehorchen, laut dem sich ein „neuer“ Kamerad eben gegen die Altgedienten durchzusetzen habe, die Art des Rituals ist aber in seiner rohen Brutalität jedem zivilgesellschaftlichen diametral entgegengesetzt. Doch spätestens bei Barrys Ausbruch im Salon, während des Konzerts (besser: nach dessen so harscher Beendigung), werden wir Zeugen eines reinen, unkontrollierten Ausbruchs reiner, eliminatorischer Gewalt. Barry können all die angeeigneten Sitten, Manieren und Umgangsformen, die ihm nicht „natürlich“ zu eigen sind, nicht mehr stoppen, seinen Zorn und den daraus entwachsenen Furor zu zügeln. Es bricht sich eben jener Mann Bahn, der Barry im Grunde ist, immer war und ja auch immer sein wird: Ein ungehobelter Bursche vom Land. Und in gewisser Weise wird hier auch deutlich, daß dieser Landbursche die Gesellschaft, in die er so unbedingt aufsteigen, der er so unbedingt angehören will, verachtet.

 

BARRY LYNDON: Ein filmisches Meisterwerk

Stanley Kubrick mutet seinem Publikum – wie auch schon in 2001: A SPACE ODYSSEY – einiges zu. Was an BARRY LYNDON neben den erlesenen, genau strukturierten Bildern sofort auffällt, ist das Tempo des Films. Denn – es wurde weiter oben bereits in Bezug auf das Duell zwischen Barry und seinem Stiefsohn thematisiert – BARRY LYNDON bedient sich eines Tempos, das schon als provokant aufgefasst werden kann. Das bezieht sich keineswegs nur auf die oft statisch wirkende Mise en Scene, die starre Kamera, die aus der Entfernung auf das Geschehen blickt, den Rhythmus von Schnitt und Montage, sondern auch auf die Bewegung innerhalb der Mise en Scene selbst. Statuarisch wirken die Menschen darin, wie Fremdkörper oft. Und auch ihre Bewegungen sind langsam, äußerst präzise, nie hektisch oder fahrig. Durchbrochen wird dieses Schema in den oben geschilderten Szenen, wenn Kubrick plötzlich zur Handkamera greift und den Zuschauer direkt in das Getümmel und die Unübersichtlichkeit einer Prügelei wirft. Umso mehr fällt die sonstige Beherrschtheit der Figuren auf. Diese Beherrschtheit korrespondiert einmal mehr mit den Konventionen der Epoche. Man ist beherrscht, man hat sich im Griff, man ist zivilisiert und vornehm. Diese Eigenarten erlauben weder plötzliche Bewegungen, noch plötzliche Emotionen, die diesen Bewegungen zugrunde liegen könnten.

BARRY LYNDON aber ist darüber hinaus ein Film, der sich selbst – vielleicht ist es besser zu sagen: Das Schauen, den Blick – thematisiert. Und zwar als Kunstwerk. Vielleicht sind die Vorwürfe, Kubrick schaffe Kunst um der Kunst Willen, nicht gänzlich von der Hand zu weisen, auch wenn er dieses l´art pour l´art immer in weitreichendere Diskurse einzubetten versteht.

Einige Kritiker wollten in diesem Film weniger ein Sittengemälde des 18. Jahrhunderts sehen, denn vielmehr eine Art Abhandlung über die Kunst der Epoche, darüber, wie diese Epoche sich selbst sah, wie sie sich selbst in aus der Distanz wahrnahm. Da mag einiges dran sein. Eindeutig, auch dies wurde bereits erwähnt, nimmt Kubrick Bezug auf die bildende Kunst jener Zeit. Er zitiert mit Constable und Gainsborough zwei der führenden englischen Maler, wenn er sie nicht gar imitiert. Die Figuren wirken in ihrem Erscheinungsbild und Gebaren aus den Karikaturen Hogarths entwickelt, sieht man die Berliner Szenen, denkt man sofort an zeitgenössische Stiche. Die Bewegung der Figuren darin wirkt oftmals falsch, wie ein Stilbruch gegenüber diesen so gründlich berechneten (goldener Schnitt) und austarierten Bildern. Fast möchte man sie entfernen, um sich ganz den Landschaftsaufnahmen und der Art und Weise hinzugeben, mit der der Regisseur und sein Kameramann die Gebäude, die Wege, die Parks und Gärten in Szene setzen. Ästhetik an ihrem Endpunkt: Des Menschen entledigt, genügt sie sich schließlich selbst.

Und natürlich sind da die spektakulären Innenaufnahmen, entweder bei Tageslicht oder bei Kerzenschein gedreht, ohne zusätzliches künstliches Licht. Dies ist der Punkt, für den BARRY LYNDON berühmt wurde. Legion die Geschichten, wie Kubrick die Produktion lahmlegte, weil er auf ein speziell für die NASA entwickeltes Objektiv wartete, das es erlauben würde, Innenszenen nur bei Kerzenlicht zu drehen. Dies hatte es zuvor so noch nicht auf der Leinwand gegeben. Anders als in 2001: A SPACE ODYSSEY, kann man die spektakulären Tricks und Effekte hier weniger bewundern, da sie nie Selbstzweck sind, sondern immer die Geschichte, die Handlung, den Aufbau der Szenen unterstützen. Wenn im früheren Film das Raumschiff gleich nach der Einführungssequenz auf den Mond zugleitet und dann an eine Raumstation andockt, zeigt Kubrick dies zu den Tönen des Donauwalzers in einer Länge, die zweifelsohne auch einfach dem Schauen selbst gewidmet ist. Der Zuschauer soll sich diesen Bildern hingeben und in den meditativen Sog geraten, welcher den ganzen Film bestimmt, ausmacht, ja, der der Film ist. Hier würde dann der Vorwurf des l´art pour l´art vielleicht zutreffen, wobei zu fragen wäre, wieso ein Film nicht auch einfach das Sehen als solches thematisieren sollte? Ähnliche Vorwürfe haben Regisseure wie Tarkowskij, der von Kubrick verehrte Ingmar Bergman oder jene, die von Kritikern wie Pauline Kael als Vorbilder auch für BARRY LYNDON ausgemacht wurden (Dreyer, Bresson, Ozu) in ihrer Karriere eher selten bis gar nicht zu hören bekommen.

In BARRY LYNDON jedoch dienen diese Aufnahmen und die sie besorgende Technik viel eher der Unterstützung sowohl der Handlung, als auch des sich dahinter verbergenden Diskurses. Die kerzenerhellten Räume, oft mit Weitwinkel gefilmt, haben etwas Klaustrophobisches. Sie wirken eng, durch das Kerzenlicht noch enger, zudem erhalten die Bilder eine flache Struktur, die Tiefenschärfe geht verloren und die Räume bekommen dadurch eine noch bedrückendere Atmosphäre. Exemplarisch wäre jene Szene zu nennen, in der Barry und sein Onkel, der Chevalier, einander an einem Spieltisch gegenübersitzen und sich unterhalten. Der Zuschauer kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier zwei Menschen in einer viel zu kleinen, viel zu engen Kiste sitzen, deren Fluchtpunkt lediglich künstlich geschaffen wurde.

Kubrick kann also durch die Nutzung dieser Technik noch mehr Distanz zwischen Film und Zuschauer bringen, kann uns noch stärker in eine reine Beobachterposition zwingen. Diese Position korrespondiert ihrerseits wieder mit dem gemächlichen Tempo des Films, denn wir sind uns gerade aufgrund dieses Tempos ihrer immer allzu bewußt. Gepaart mit der Voice-Over, deren Sinn und Zweck ja bereits ausführlich besprochen wurde, ergibt sich so für den Zuschauer eine reine Metaposition, die er einnehmen muß.

Hinzu kommt als drittes kulturelles Diskurs-Element die Musik, wie immer bei Kubrick scheinbar zielgerichtet ausgesucht und eingesetzt, folgt man jedoch seinen eigenen Angaben, eher zufällig ausgewählt, rein nach (momentanem) Geschmack des Regisseurs. Definitiv ist sie anachronistisch zur erzählten Epoche, scheut sich Kubrick doch nicht, auch Schubertstücke auszuwählen, die also der Handlungszeit zeitlich nachgeordnet wären. So, wie der Erzähler uns Dinge mitteilt, die anachronistisch zum im Bild Gezeigten (wir sehen Barry mit seinem Sohn spielen, während wir davon hören, daß er arm und kinderlos sterben wird) sind, so verführt uns die Musik immer wieder dazu, die zeitliche Zuordnung des Films zu verlieren. Damit unterläuft Kubrick aber strategisch die Annahme, daß wir es hier mit einem akribischen Zeitgemälde zu tun hätten.

Nein, wir haben es mit einem Film zu tun, der sich seines Film-Seins immerzu bewusst ist. Und da man annehmen sollte, daß Stanley Kubrick sich sehr genau mit der Theorie seines Metiers auseinandergesetzt hat, sollte man ebenfalls annehmen, daß er sehr wohl wusste, daß es zwar eine „Objektivität der Bilder“ geben mag, diese sich aber immer nur selbstreferentiell auf eben diese Bilder beziehen kann. Christian Metz und andere Filmtheoretiker haben uns gelehrt, daß die Bilder des Films immer einer eigenen Grammatik unterliegen und spätestens mit Schnitt und Montage jegliche „Objektivität“ dessen, was wir auf der Leinwand sehen, nicht mehr gegeben ist. Jean-Luc Godard gab einst das Bonmot zum Besten, die Fotografie sei die Wahrheit, Film demzufolge die Wahrheit, vierundzwanzig Mal in der Sekunde, was sich auf die einstige, heute nicht mehr gültige, Bildfolge pro Sekunde bei einem herkömmlich produzierten Film bezog.

Wenn Kubrick nun also für seinen Film eine Erzählhaltung in Anspruch nimmt, die die Subjektivität des Romans und seiner unsicheren Erzählstimme negiert und sie durch die „objektive“ Voice-Over ersetzt, die der „Objektivität der Bilder“ entspreche, ist dies natürlich auch schon ein Spiel mit dem Wesen des Films, seines Verhältnisses zu einer behaupteten „Realität“ – vor allem, wenn es sich bei dem betreffenden Film um ein Historienwerk handelt, das für sich die detailgenaue Reproduktion dieser Epoche in Anspruch nimmt, dabei aber vor allem gewisse ästhetische und bildnerische Verfahren der Epoche reproduziert – und damit auch ein Spiel mit den ästhetischen Ebenen eines Films. Denn da gibt es natürlich die reine Bildebene, also das, was wir sehen, wenn wir den Film betrachten. Aber ein Film bleibt ein Film, auch wenn nahezu jedes Detail im Bild, in der Mise en Scene, genauestens einer Wiederherstellung einer gewissen Epoche behauptet. Diese Behauptung ist und bleibt eben das – eine Behauptung.

 

BARRY LYNDON als Beitrag eigenen Rechts in einem die Zeiten überspannenden kulturellen Diskurs

BARRY LYNDON ist ein Film, der ununterbrochen ausstellt, daß er teuer war, daß seine Macher sich enorme Mühe gegeben haben, dem Publikum ein Meisterwerk der Ausstattung, des Dekors, der Kostüme, Masken, Gesten und Blicke einer Epoche zu bieten. Ausschließlich an Originalschauplätzen gedreht, unter ausschließlich natürlichem Licht, teils mit Originalkostümen der beschriebenen Epoche ausgestattet, unter genauester Beachtung der mimischen und gestischen Bewegungen der Figuren, bleibt dies aber eben doch immer ein Film. Und Kubricks plötzliche Wechsel zur Handkamera in einigen entscheidenden Szenen, sind nicht nur inhaltliche Aussagen hinsichtlich der entfesselten Gewalt in diesen Szenen, sondern auch Hinweise an das Publikum, es mit einem Film, mit Kameraarbeit, mit Schnitt und Montage, letztlich mit hochartifizieller Manipulation zu tun zu haben. So zurückhaltend und behutsam John Alcott die Kamera in den allermeisten Szenen und Momenten des Films führt, seine langsamen Zooms, die fast bedächtigen Schwenks, die er anbietet, fast immer auch dazu geeignet, uns die Kamera vergessen zu lassen, so werden diese durch Kubricks kurze Einsätze der Handkamera konterkariert.

Kubrick schreibt seinen Film damit direkt in einen ästhetischen Diskurs ein, der sich zwischen bildender Kunst, Musik, der Literatur seit Jahrhunderten entspinnt und ununterbrochen weitergeführt wird. Und an dem teilzunehmen Kubrick auch für die Fotografie und mehr noch den Film, diese originäre Ausdrucksweise des 20. Jahrhunderts, begehrt. BARRY LYNDON wird damit aber auch zu einem Meta-Film, dessen Inhalt fast zweitrangig ist. Und der sich eher mit Kubricks eigenen Diskursen einlässt und mit seinen direkten Vorgängern korrespondiert, weniger aber mit einer realistischen Erzählung über das 18. Jahrhundert. Es ist die Diskrepanz zwischen der Moderne und ihren Anfängen in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die hier sowohl gezeigt als auch verhandelt wird. Und deren Abstand vermessen wird, Inhaltlich wie auch kulturell und eben auch technisch. Oder medial, wenn man so will. Und zugleich vermisst BARRY LYNDON auch den Abstand dieses Jahrhunderts der Vernunft, als das das 18. Jahrhundert so gern bezeichnet wird, zu der Epoche des Barock, die ihr gesellschaftlich vorausging, mit der die Aufklärung sich kunstgeschichtlich aber überschnitt. Und deren Übergang vom einen ins andere in der Geistesgeschichte der Menschheit einen solch enormen Bruch darstellte.

Historische Dialektik und ästhetischer Diskurs durchdringen einander

Wenn Barry als Romanfigur Aufstieg und Fall erlebt, so vollzieht er, ohne dies zu wissen, da er ein Zeitgenosse der historischen Ereignisse ist, auch eine historische Bewegung nach, da sein Ziel – der Hochadel, dessen vollwertiges Mitglied er zu werden hofft – ebenfalls den historischen „Abstieg“ erlebt. So ist Kubricks Ende des Films – eine weitere deutliche Änderung gegenüber Thackerays Roman – für seine Zwecke und in seinem Sinne angemessener. Denn sie scheint sein Weltbild zu bestätigen: Nichts ist planbar, der Mensch ein Geworfenes, die Welt möglicherweise determiniert, zumindest aber das Leben. Und einer gnadenlosen Dialektik unterworfen, die in ihrer geistesgeschichtlich modernen Form ja ebenfalls erst dem 19. Jahrhundert entstammt. Alles Streben bleibt also Makulatur, da wir letztendlich niemals wirklichen EInfluß darauf haben, was uns widerfährt. Willst du Gott zum Lachen bringen, mache einen Plan. Denn selbst, wenn wir alle unsere Ziele erreicht zu haben scheinen – was in Barrys Fall nicht so ist; der ersehnte Adelstitel bleibt ihm trotz aller Speichelleckerei und allen Bemühungen bei Hofe verwehrt; Lady Lyndon verstößt ihn nach dem Duell mit seinem Stiefsohn, das ihn, Barry, zudem auch noch ein Bein kostet; er nimmt, laut Voice-Over, seine unruhigen Reisen durch Europa wieder auf, kehrt an die Spieltische zurück, allerdings ohne seine Erfolge von einst zu wiederholen, die er gemeinsam mit seinem Onkel, dem Chevalier, feiern konnte – hat die Geschichte selbst vielleicht schon eine ganz andere Wendung genommen, einen eigenen Plan, der alles menschliche Streben überflüssig macht. Die Jahreszahl 1789 steht wie eine Chiffre am Ende des Films für genau diese Volte.

Dies ist der gesellschaftspolitische, der historische, der metaphysische Aspekt des Films. Der kulturelle, vielleicht kunsthistorische Aspekt des Films ist aber eben Kubricks Beharren darauf, daß der Film den herkömmlichen Künsten gleichberechtigt zur Seite stehen kann. So ist BARRY LYNDON als Kunstwerk zu betrachten; ein Kunstwerk, das von seinem Erschaffer – und in Kubricks Fall steht vollkommen außer Frage, daß der Regisseur im klassischen Sinne der Künstler hinter dem ist, was wir später auf der Leinwand sehen – ganz bewußt so konzipiert wurde und also auch als solches zu erkennen sein muß. Mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts, also dem bewegten Bild, stellt Kubrick ausgewiesene Werke des 18. Jahrhunderts nach, beweist aber nicht nur, daß der Film zur perfekten Imitation fähig ist, sondern beweist eben auch, daß er mit der Bewegung, die er in diese klassischen Werke hineinprojiziert, eine eigene Magie entfalten kann. Die klassische Malerei bekommt in diesem Film eben keine Konkurrenz, sondern einen gleichberechtigten Partner an die Seite gestellt, der sie neu sichtbar macht, ihren Stellenwert einerseits hervorhebt und andererseits zugleich sein eigenes Recht einfordert. Und behauptet. Die Bildebenen der klassischen Malerei und die des Films korrespondieren in einem Film wie diesem auf Augenhöhe miteinander. Und jener Moment, in dem wir uns beim Betrachten der Bilder durch die in ihnen stattfindende Bewegung gestört fühlen, ist exakt jene Bruchstelle in der Wahrnehmung, die unser Schauen mittlerweile so prekär macht. Und die der Regisseur Kubrick, der einen Film dreht, welcher sich ununterbrochen mit Malerei beschäftigt, exakt herausarbeitet und erfahrbar macht. Und ihn zugleich als wesentliches Merkmal des Übergangs – vielleicht symbolisch all der Übergänge dieses Films, der inhaltlich eine Kreisbewegung vollzieht, endet Barry doch so, wie er begonnen hat – markiert und definiert.

Das Spiel der Diskurse

Daß Kubrick auf so scheinbar einfache, leichte, und doch hintergründige und sehr genau bedachte Art und Weise die Musik in dieses Spiel zu integrieren versteht, beweist, wie ernst er diese Korrespondenz durch die Zeiten und Epochen, über Jahrhunderte hinweg, nimmt, wie viel ihm die Historizität eines solchen Dialogs bedeutet. Und mit der Voice-Over, die so seltsam anachronistisch wirkt, bezieht Kubrick schließlich auch die Literatur in diese Diskurse mit ein und gibt auch ihr damit ein eigenes Recht. Denn die Voice-Over bestätigt, wie wir gesehen haben, oftmals, was wir sehen, unterläuft aber gelegentlich auch die von Kubrick behauptete „Objektivität“ der Bilder. Sie greift den Geschehnissen voraus oder teilt uns etwas mit, das zwar stimmen mag, weil es in den Bildern weder belegt noch widerlegt wird, das aber nicht zu der vermittelten Stimmung und Atmosphäre des aktuellen Bildes, der aktuellen Mise en Scene, der aktuellen Szene passt. Das verstört, weil die Synchronisation zwischen Bild und dem Kommentar nicht zu stimmen scheint. Wir werden dem Gezeigten entfremdet, wir fangen an, den Bildern zu mißtrauen.

Und zudem erhält die Voice-Over als literarischer Bezug im Film eine ungeheure Macht, weil sie allein schon in der Lage ist, uns die Diskrepanz zwischen etwas Realem und einem Bild, zwischen Repräsentiertem und seiner Repräsentation, zwischen Signifikat und dem Signifikanten zu verdeutlichen. Darin kommt auch ein ihr auch von Stanley Kubrick schon durch die Wahl seiner Stoffe zugebilligter Sonderstatus zum Ausdruck. Denn Literatur funktioniert immer über die Abstraktion, anders als die Bilder eines Films, die immer unmittelbarer, aber immer auch manipulativer sind. Was wir sehen, sind eben immer nur Bilder, Abbildungen, Repräsentationen, niemals sehen wir, wie es „wirklich war“ oder wie etwas „wirklich ist“. Und genau das gilt auch für ein Gemälde von Hogarth oder Constable. Auch sie schufen lediglich Abbildungen. Repräsentationen, auf die sich dann ein Filmemacher des 20. Jahrhunderts als Quelle beruft.

Stanley Kubrick, ein ausgewiesener Kenner klassischer Literatur, ein Musikliebhaber, ein Fotograf und Filmemacher, spinnt in BARRY LYNDON, der von einigen Kritikern als sein persönlichstes Werk betrachtet wird, ein ungeheuer dichtes Netz aus verschiedenen Diskursen, die auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Dabei gelingt es ihm, die Wege aufzuzeigen, auf denen sich diese Diskurse – ob ästhetischer, politischer, kultureller oder historischer Natur – kreuzen, nachvollziehbar zu machen, wie sie sich beeinflussen, spürbar werden zu lassen, wie sie einander bedingen.

Ein komisches Moment, das sich in Entfremdung begründet

Da für Kubrick das Kino aber eben auch eine Kunstform der Emotion ist, einen Erlebnismoment kreieren kann, der uns erhebt, weil er eben nicht nur den Intellekt anspricht, sondern auch gefühlt werden kann und muß, sollte man nicht unterschlagen, daß BARRY LYNDON bei all seiner Kunstfertigkeit, all seinem Überwältigungspotential, auch eine komische Seite hat. Im gleichen Maße, in dem Kubrick bewußt ist, wie groß die Differenz zwischen dem späten 20. Jahrhundert und jener Epoche ist, in die er sein Publikum entführt, so sehr ist er sich bewußt, wie diese Epoche auf den zeitgenössischen Zuschauer wirken muß. Und Kubrick spielt damit. Das so enorm verlangsamte Tempo des Films lässt uns eben auch all die Manieriertheiten, all die kleinen Gesten und Blicke, die Empörung, Verrat und Verletzung ausdrücken und oft doch eher wie eine gewollte, fast kokette Zurschaustellung dieser Gefühle wirken, mit Staunen wahrnehmen. Und in diesem Staunen liegt dann auch immer die Möglichkeit, zu lachen. Denn diese Figuren einer so fernen Zeit wirken auf uns wie Roboter, wie Marionetten an den Fäden und in den Fängen ihrer eigenen Normen und Konventionen.

Doch sollte man BARRY LYNDON niemals mit all den als Komödie angelegten Mantel-und-Degen-Filmen der 60er und 70er Jahre verwechseln oder sie ihnen einreihen. Es ist kein Unterhaltungsfilm, es ist kein Film, der einlädt in ihm zu verweilen, sich ihm hinzugeben. Vielmehr ist es ein ununterbrochener Affront, ein Skandalon, so wie es LOLITA, wie es 2001: A SPACE ODYSSEY, wie es ganz besonders A CLOCKWORK ORANGE schon waren. So, wie in letzterem die Gewalt zu unserer Nemesis wurde, wie wir gezwungen wurden, uns damit auseinandersetzen zu müssen, daß uns diese Orgien choreographierter Zerstörungswut unterhalten und eben auch zum Lachen bringen können, so wird das Lachen bei BARRY LYNDON zu einem Instrument, unserer Entfremdung Ausdruck zu verleihen, die letztlich eine Entfremdung von uns selbst ist. Denn wir sehen auf der Leinwand einer Geschichte zu, die aus jenen Tagen stammt, denen auch wir die Geburt der Moderne zuschreiben – und die uns doch so fremd ist.

 

BARRY LYNDON ist im besten Sinne ein filmisches Kunstwerk, ein Wurf, ein Meisterstück. Es ist ein Film, der sein Publikum fordert, es auch auf-fordert, das Sehen, in jeder Hinsicht, zu üben und zu schärfen. Es ist ein Film, auf den man sich einlassen muß, der einem dann aber – Mal für Mal, daß man bereit ist, sich ihm auszusetzen – mehr Details, Blicke, Perspektiven, Einstellungen, Bildkompositionen und Tableaus, bietet. Nicht viele Filme können dies für sich in Anspruch nehmen. So sollte man ihn von Zeit zu Zeit betrachten und staunen ob der Vieldeutigkeit, der Vielschichtigkeit und Komplexität, die er bietet. Und natürlich sollte man ihn ein jedes Mal genießen, man sollte sich diesen Bildern hingeben, in ihnen schwelgen, wie man es in einer Ausstellung seltener Malerei mit großen Werken täte.

 

[1] Vgl.: Jansen, Peter W.: BARRY LYNDON in: Hummel, Christoph; Jansen, Peter W; Pauli, Hansjörg; Prinzler, Hans Helmut: STANLEY KUBRICK. München/Wien 1984; S.158.

[2] Nicht daß hier der Eindruck entstünde, Gottsched sei ein Krämergeist gewesen, auch wenn man das aus heutiger Sicht bei der Lektüre vor allem seiner strengen Regeln für das Theater denken könnte. Dem Autor dieser Zeilen ist Gottscheds Beitrag und Bedeutung gerade in der frühen deutschen Aufklärung, die eben auch immer ein pädagogisches Werk  mit einer didaktischen Note gewesen ist, wohl bewußt. „Aufklärung“ halt….

[3] Jansen, S. 165ff.

 

Literatur

Hummel, Christoph; Jansen, Peter W.; Pauli, Hansjörg; Prinzler, Hans Helmut: STANLEY KUBRICK. REIHE FILM 18. München/Wien, 1984.

Kirchmann, Kay: STANLEY KUBRICK. DAS SCHWEIGEN DER BILDER. Marburg, 1993.

Seesslen, Georg; Jung, Fernand: STANLEY KUBRICK UND SEINE FILME. Marburg, 1999.

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