BETTY

Claude Chabrols vielfach übersehenes Meisterwerk - Beginn seines Alterswerks...

Die junge, höchst attraktive Betty (Marie Trintignant) treibt trunken durch die Pariser Nacht. Ein distinguierter Herr nimmt sie im Auto mit nach Versailles, wo im Lokal „Le Trou“ die Schönen und Reichen sich treffen. Die völlig betrunkene Betty merkt nicht, daß ihr Begleiter ein offensichtlich obsessiver Fetischist ist, doch der Maître d´ Mario (Jean-François Gerreaud) springt Betty freundlich zur Seite und errettet sie aus den Fängen ihres Begleiters. Laure (Stéphane Audran) setzt sich zu Betty und die beiden kommen ins Gespräch. Schließlich bricht Betty volltrunken zusammen.

Sie erwacht in einer Suite in dem Hotel, in dem Laure Dauergast ist. Die alternde Witwe, ehemalige Krankenschwester und Gattin eines Chefarztes, nimmt die junge, undurchschaubare Betty unter ihre Fittiche. Betty scheint ernsthaft krank zu sein, doch weder sie, noch Laure wissen, woran Bettys Schwäche liegt. Auch Laure ist eine harte Trinkerin, doch Erfahrung und ihre medizinischen Kenntnisse ermöglichen es ihr, sich weitestgehend zu beherrschen und ihren Zustand zu kaschieren. Betty und Laure trinken einen Tag und eine Nacht; als sie neuerlich erwacht, wird Betty Ohren- und dann auch Augenzeugin, wie Mario und Laure im Nebenzimmer miteinander schlafen.

Laure bietet Betty an, eine Weile bei ihr im Hotel zu bleiben, Betty stimmt zu und lässt ihr Hab und Gut aus Paris kommen. Bei weiteren Trinkgelagen kommt nach und nach Bettys Geschichte zutage: Als Kind Opfer eines Mißbrauchs, wuchs sie im ländlich geprägten Frankreich auf. Später heiratete sie einen Sprössling der Pariser Elite, mit dessen Wahl seine Leute nie einverstanden waren. Betty fühlte sich in der Ehe wie gefangen und betrügt ihren Gatten bei jeder sich bietenden Gelegenheit, fast zwanghaft könnte man sagen. Es sei nunmal so, es sei ihre Natur, erklärt sie Laure. Doch zugleich spürt man, daß sie tief unglücklich mit sich und ihrem Lebenswandel ist.

Betty berichtet, daß sie, als sie von ihrem Mann und dessen Mutter in flagranti mit einem Liebhaber erwischt wurde, einen Vertrag unterschreiben musste: Man werde sie finanziell so ausstatten, daß sie das einmal gewohnte Leben weiterführen könne, allerdings dürfe sie ab nun ihre beiden Töchter nicht mehr sehen. Nie mehr. Betty, am Ende ihrer Kräfte, hatte den Vertrag unterschrieben und war dann, den Scheck über eine gewaltige Summe immer bei sich, in die Trunkenheit gestürzt, in der wir sie anfangs kennen gelernt haben. Betty bricht während ihrer Erzählung, erneut schwer alkoholisiert, zusammen. Diesmal scheint es ernst, Laure holt einen Arzt. Doch Betty weigert sich, in ein Krankenhaus zu gehen. Während sie sich dank Laures aufopferungsvoller Pflege und Zuwendung langsam erholt, taucht ihr Mann Guy (Yves Lambrecht) im Hotel auf. Er will Betty überreden, zurück zu kommen, er habe mit seiner Mutter gesprochen, man sei bereit, ihr zu verzeihen. Doch Betty lehnt ab. Sie liebe ihn nicht mehr, habe ihn vielleicht nie geliebt, sie wolle nicht zurück in diese Ehe.

Nachdem sie soweit wieder hergestellt ist, daß Laure sie allein lassen und nach Paris fahren kann, nutzt Betty die Abwesenheit der Freundin, um bei erstbester Gelegenheit Mario, der ihr zuvor allerdings eindeutige Zeichen gegeben hatte, zu verführen. Noch während Laure in Paris weilt, zieht Betty aus dem Hotel aus und bei Mario, in der Wohnung über dem Lokal, ein. Sie ist glücklich, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Als Laure ins Hotel zurückkehrt und bald erfährt, mit wem Betty das Haus verlassen hat, verlässt sie Versailles ohne einen näheren Abschied von irgendwem und zieht zurück nach Lyon, woher sie stammt und wo sie einst sogar mit Teilen von Bettys angeheirateter Verwandtschaft bekannt gewesen ist.

In einem Kaffeehaus sitzen Bettys ehemalige Schwiegermutter und eine Freundin beisammen, das Gespräch kommt auf Laure, die „verschwunden“ war, dann in die Stadt zurückgekehrt sei und nun tot in ihrer Wohnung gefunden wurde. Nein, die Todesursache kenne man nicht…

Betty säubert mit einem Käscher das Aquarium im Lokal. Sie fischt die toten Tiere aus dem Wasser. Sie macht Ordnung.

Kann man in der Karriere eines Künstlers den Übergang einzelner Phasen ineinander in der Rückschau genau markieren? Weiß man, wo das drängende Frühwerk in die gesetzte mittlere Phase der Konsolidierung mündet, wann jener scheinbar schicksalhaft auftretende Abschnitt beginnt, in der sich entscheidet, ob es einem Künstler gelingt, sein Werk zu vollenden oder ob er in reiner Eigenreferenzialität versinkt, gar zum Plagiator seiner selbst wird oder, wird diese Aufgabe positiv gemeistert, wann denn dann das Alterswerk beginnt, meist milde und reflexiv? Kann man diese Übergänge bestimmen? Wohl kaum. Und doch ist es irgendwann da, das Alter, und mit ihm auch das Alterswerk.

Im Falle von Claude Chabrol kann man, sollte ein Zeitpunkt bestimmt werden, da seine äußerst erfolgreiche mittlere Phase in eine kritische Phase kam und er dann gestärkt daraus hervorging, wohl die späten 80er Jahren anführen, als er fürs Fernsehen arbeitete und mit DR. M (1990) einen seiner schwächsten Filme vorlegte, danach auch Flauberts MADAME BOVARY (1991) keine einheitliche und damit überzeugende Adaption für die Leinwand bescheren konnte und Kritik an seinem Wirken laut wurde wie zuletzt Mitte bis Ende der 1970er Jahre. Erst 1995 konnte Chabrol sowohl bei Publikum als auch der Kritik wieder punkten, als er das Meisterwerk LE CÉRÉMONIE (dt. BIESTER) vorlegte und sowohl Isabelle Huppert als auch Sandrine Bonnaire zu darstellerischen Höchstleistungen antrieb. Mitten in diese Phase hinein fiel die wenig beachtete Verfilmung des George-Simenon-Romans BETTY (1992), einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1961.

Ein Film, wie eine fast stumm gesummte Melodie, wie ein gemurmeltes Gedicht, dessen Worte und Zeilen man kaum versteht und das, wenn man sich hinüberbeugt und lauscht, doch Sinn zu machen scheint. Ein friedlich dahinfließender, gleichförmiger Strom, der unter seiner kräuseligen Oberfläche jedoch Untiefen und darin allerhand Unbehaustes verbirgt. Ohne allzu dramatische Wendungen erzählt BETTY seine Geschichte geradlinig, vergleichsweise unaufgeregt, in eben jenem zurückhaltenden Stil, den Chabrol sich in den vorhergegangenen drei Dekaden angeeignet hatte. Wie eine Nebensächlichkeit zieht das Geschehen am Zuschauer entlang und vorbei, das stille Drama entwickelt sich wie selbstverständlich, geradezu zwangsläufig. Ebenso selbstverständlich wirkt die Anziehung, die die beiden Frauen aufeinander haben, wirkt die Freundschaft und Anteilnahme, die Laure der Jüngeren entgegenbringt. Und auch die Trinkgelage, denen beide Frauen sich gemeinsam und allein hingeben, wirken selbstverständlich. Neben allem andern, gelingt Chabrol hier auch das packende Portrait einer Trinkerin, besser: zweier Trinkerinnen, die das Trinken auf jeweils unterschiedliche Art zu einem Lebenskonzept erkoren haben. Die eine nutzt den Alkohol als Stütze, die andere als Maschine des Vergessens, um eben erst erlittenes Unrecht zu verdrängen – und den Ekel an sich selbst zu überwinden, zumindest momentweise. Verloren sind letztlich beide, daran lassen Buch und Regie keinen Zweifel aufkommen. Nur wird es der jüngeren gelingen, sich einen Hoffnugnsschimmer zu bewahren, indem sie mit Hilfe und schließlich auf Kosten der älteren Frau ihre Ängste erfolgreich bekämpft und zum Teil auch überwindet.

Die manchmal elfenhaft entrückt wirkende Betty, mal ein sensibel zartes, mal ein fast derb vulgäres Wesen, umgeben von einer Aura der Unnahbarkeit, unerreichbar für ihre Umwelt, scheinbar ein potentielles Opfer, wird von Laure erkannt. Sie nimmt sich Bettys an, lässt ihr eine Fürsorge angedeihen, die sich dem Zuschauer nicht unmittelbar erschließt, die aber begreiflicher wird, je besser wir Betty kennen lernen. Ihre Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber, ihre Skrupellosigkeit, der Mangel an Empathie für die Bedürfnisse anderer – alle diese scheinbar abstoßenden Eigenschaften evozieren gleichzeitig eine Schutzbedürftigkeit, die einen mitfühlenden Charakter wie den Laures zwangsläufig ansprechen muß. Aus dem, was zunächst wirklich eine Freundschaft werden könnte, entspinnt sich nach und nach eine fein austarierte Abhängigkeit dieser zweier Frauen von- und zueinander. Kaum ein anderer, gleich gar kein Mann, findet Einlaß in die momentweise symbiotische Beziehung, die vor allem durch die schier endlosen Whiskygelage der beiden besiegelt wird. Es ist ein Pakt über Klassengrenzen hinweg. Laure ist ein Wesen aus einer Welt, der Betty im Grunde entkommen will, einer Welt, die ein Wesen wie Betty verstoßen hat. Doch auch Laure gehört dieser Welt nicht qua Geburt an. Hier begegnen sich die beiden Frauen auf Augenhöhe, beide sind Eindringlinge in die geschlossenen Zirkel der Macht gewesen, nur entwickeln sie auch daraus vollkommen unterschiedliche Konzepte des Umgangs. Laure weiß sich in der Welt der Schönen und Reichen einzubringen und daraus ihren Nutzen zu ziehen, Betty hingegen ist ein Opfer der Bourgeoisie, eben jener Klasse, deren hinter guten Manieren und einem Haufen klassischer Bildung versteckte Bestialität bloßzulegen einst Claude Chabrols künstlerische Lebensaufgabe geworden war.

Vom ersten Moment an wissen wir, daß diese junge, ausgesprochen attraktive Frau dem gehobenen Pariser Milieu entstammt; daß sie sich, sich ordinär betrinkend, durch Paris und mit fremden Männer mit-treiben lässt, weist allerdings auch darauf hin, daß hier etwas in seinem innersten Wesen nicht zusammen zu gehören scheint. Betty ist ein Geheimnis, was sie ausgesprochen anziehend für gewisse Männer macht, zugleich aber eben auch so unzugänglich, ja entfremdet wirken lässt, daß sie immer wie ein Leerzeichen wirken muß, Aufmerksamkeit und Mißtrauen erregend. Sie ist ein Opfer, das sich schließlich entschlossen hat, selbst zum Täter zu werden. Ihre Berichte aus der Ehehölle mit einem reichen Pariser Sohnemann, dessen Familie das Bauernmädchen, das Betty nun mal ist, nie anerkannt hat, bestätigen all die Chabrol´schen Analysen hinsichtlich der Verworfenheit der Bourgeoisie, doch geht der Maestro nun einen Schritt weiter und lässt den schnöseligen Sprössling aus gutem Hause auf ein Mädchen stoßen, das durch die Moralvorstellungen und Konventionen seiner Klasse längst nicht mehr einzufangen ist. Gerade die ersten Minuten des Films präsentieren ein Panoptikum fast schon bizarrer Figuren, worin wir zunächst eher etwas Bedrohliches vermuten als das Wohlwollen, das Betty durch Laure und ihren Geliebten, Mario, zuteil wird. Hier, im Restaurant „Le Trou“ in Versailles, wohin ein gediegener Herr Betty entführt hat, wird uns erstmals symbolisch die décadence des Bürgertums angedeutet. Fressen, saufen, sich den Amouren und den eigenen Obsessionen hingeben und vor allem unter sich bleiben – die Bourgeoisie kommt ganz zu sich selbst und Betty wirkt an dem leeren Tisch mitten im Lokal wie eine Gestrandete. Sie gehört hier nicht hin und wird diesen Kreisen doch nie mehr entkommen – einmal infiziert, spielt sie das dekadente Spiel bald besser als all die anderen. Sie ist im Kreis der Ehehölle gefangen. Aber sie wird sich befreien, koste es, was es wolle. Es kostet Laure ein gebrochenes Herz undd ann das Leben.

Das Buch bietet uns eine oberflächliche psychologische Erklärung für Bettys So-Sein, doch wirklich interessieren sich weder Buch noch Regie für ihre tieferliegenden Motive und Begründungen. Betty wird nicht analysiert, sondern dargestellt. Unter Chabrols leichthändiger Regie gelingt der viel zu früh gestorbenen Marie Trintignant eine der bestechenden Darbietungen ihrer zu kurzen Karriere. Sie lässt diese Figur im Ungefähren; Betty wird sich selbst kaum kennen, wieso also sollten wir sie besser kennen? Betty funktioniert und reagiert. Sie sieht Laures Leben und drängt sich hinein und man kann es ihr nicht einmal übel nehmen, geschieht das doch geradezu schicksalhaft. Das Zusammentreffen mit dieser Frau muß ihr so erscheinen, ermöglicht es ihr doch eine letzte Ausflucht, bietet den ersehnten Ausweg aus dem Höllenkreis. Die kleinen Betrügereien mit Mario hinter Laures Rücken, die ersten Verschwiegenheiten, die Blicke, das Lächeln – nichts davon wirkt so, als sei es in böser Absicht getan, ganz im Gegenteil, es wirkt, als wolle da eine Gefallene einfach nur ein wenig Anteil am Glück haben. Umso erschütterter Laures Reaktion, ihr stummes Entschwinden und Vergehen, von dem uns nur noch berichtet wird. Als sei ihre Zeit zu ihrem natürlichen Ende gekommen.

BETTY stellt das Gift des bürgerlichen, dekadenten und selbstgefälligen Lebens fast  mit brutaler Leichtigkeit dar. Dank Trintignant und auch der einmal mehr wundervollen Stéphane Audran, Chabrols Exgattin, ewiger Muse und bevorzugter Schauspielerin, die hier ihren letzten gemeinsamen Film mit dem Regisseur verwirklichte, gelingt ein Doppelportrait, dem die Tragik schon in den ersten Einstellungen eingeschrieben ist. Denn so sehr das alles folgerichtig erscheinen mag, daß es nur benebelt auszuhalten, nur im Dunst des Vergessens zu ertragen ist, dieses Leben einer einsamen Frau, die beide – Betty wie Laure – auf ihre jeweils eigene Art sind, daran lässt der Film ja keinen Moment einen Zweifel aufkommen. Daß Laures Großzügigkeit, die zugleich aber auch Befriedigung eines Helfersyndroms sein mag, Befriedigung eigener Eitelkeiten und Beruhigung des eigenen Gewissens; daß ihr Bettys vermeintliche Abhängigkeit in Krankheit, Schwäche und in ihrem dauerhaften Saufkater das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden, schließlich durch den maximalen Betrug – den Liebesverrat – entgolten wird, entspricht der inneren Logik der Dialektik aus Liebe und Abhängigkeit, in der diese Frauen miteinander verfangen sind. Der Verrat unterstreicht genau die Tristesse, die der Film schon in seinen ersten Einstellungen auszudünsten scheint. Selten hat sich die Tragik eines Liebesdramas derart still, dezent und bitter auf der Leinwand abgespielt, wie  diese in den letzten Minuten des Films.

Claude Chabrol hat viele große Filme gedreht, doch unter seinen „kleinen“ – wie diesem – ist immer wieder noch ein Kleinod, ein ruhiges Meisterwerk zu entdecken. Nach BETTY kam L´ENFER (1994), und so langsam schraubte Chabrol sich wieder auf die Höhen seiner einstigen Schaffenskraft. Wahrscheinlich kann man guten Gewissens behaupten, daß BETTY einen jener anfangs beschriebenen Wendepunkte in der Karriere des Künstlers Chabrol darstellt. Vielleicht wirklich der Beginn des Alterswerks.

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