ERINNERUNG EINES MÄDCHENS/MÉMOIRE DE FILLE

Annie Erneaux erzählt aus ihrem frühen Leben zwischen Jungendlicher und junger Erwachsener

1958 wird die junge Annie Duchesne als Betreuerin in einer Sommerkolonie für jüngere Kinder eingesetzt. Für die gerade 18jährige ein Abenteuer, ist es doch der erste Ausbruch aus der kleinbürgerlichen Welt ihrer Eltern, die in Yvetot einen Krämerladen mit angeschlosener Kneipe führen. Annie will unter den Betreuern ankommen, möchte als Gleiche unter Gleichen behandelt werden. Vor allem aber möchte sie, daß einer ihrer sehnlichsten Wünsche der letzten Jahre in Erfüllung geht – sie möchte ihre Unschuld verlieren und damit zur „Frau“ werden. Sie verliebt sich in H., den Chefbetreuer. Und sie erlebt mit ihm ihre erste Liebesnacht. Doch kommt es anders, als sie erwartet hatte: Da sie nicht versteht, wie H. und die anderen funktionieren, sich an einem anderen Abend, trotz ihrer Verliebtheit in H., mit einem anderen Jungen einlässt, hat sie bald den Ruf, ein „Flittchen“ zu sein. Die Scham darüber setzt allerdings erst später ein, als Annie wieder daheim ist. Und es entwickelt sich ein vielleicht typisches Mädchen-Schicksal in jenen Jahren. Sie hat mit Bulimie zu kämpfen, ihre Unsicherheit über ihren persönlichen Lebensweg wird immer stärker, sie bricht ihre Ausbildung ab, geht für ein halbes Jahr als Au-pair-Mädchen nach England und verrennt sich in allerhand halbgare Geschichten, einige davon illegal.

ERINNERUNG EINES MÄDCHENS (MÉMOIRE DE FILLE, 2016; Dt. 2018) ist ein vergleichsweise später Text von Annie Erneaux, in welchem sie sich in jene junge Frau hinein zu versetzen sucht, die sie in den Jahren 1958 bis 1963 gewesen ist. Eine Übergangszeit in ihrem Leben, kein Teenager mehr, aber auch noch keine Erwachsene. Eine Zeit des Suchens und des Sich-Ausprobierens. Wie in ihren früheren Werken, ist auch dies eine radikale Selbstuntersuchung, ja, eine „Dekonstruktion ihrer selbst“ (S. 58), wie sie an einer Stelle des Werks schreibt – und bei Annie Erneaux darf man getrost davon ausgehen, daß sie Worte sehr vorsichtig und genau wägt und nutzt, also auch weiß, wovon die Rede ist, wenn sie den Begriff der „Dekonstruktion“ nutzt. Wie in den meisten ihrer Texte, was diese unter anderem so wertvoll und lesenswert macht, ist dies aber auch eine ebenso radikale Selbstbetrachtung als Schreibende.

Das Schreiben – und das Erinnern – ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, worüber sie schreibt. Wie kann sich eine Frau von über siebzig Jahren in jenes Mädchen hineinversetzen, sie in sich wiederfinden, wenn ein ganzes Leben gelebt wurde zwischen den frühen Schritten als noch Jugendliche und der Gegenwart als erfolgreiche und im letzten Lebensabschnitt angelangte Autorin? Und – auch das ist Thema des Buchs – wie entwickelt sich das Verhältnis der Schreibenden zu ihrem Gegenstand und zum Schreiben selbst im Prozess des Schreibens? Denn die Niederschrift dieser knapp 164 Seiten umfasst ja selbst einen gewissen Zeitraum (grob geschätzt und den Hinweisen im Text folgend, müssen es ca. zwei Jahre gewesen sein, die Erneaux an dem Text gearbeitet hat).

Wer Erneaux bereits kennt, kennt auch ihre Herangehensweise an ihre eigene Geschichte. Die äußerst genaue Betrachtung des eigenen Ich in verschiedenen Phasen ihres Lebens, die bis zur Schmerzgrenze betriebene Beobachtung eigener Unzulänglichkeiten, den scharfen Blick auf die sozialen und familiären Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen ist, der Anspruch, das eigene Leben als Durchschnitt zu betrachten, um eine Art Soziologie der eigenen Generation zu liefern und in bester Tradition – Simone de Beauvoir sei hier als Leitstern angeführt – feministischer Selbstermächtigung davon zu erzählen, wie ein weibliches Bewußtsein sich erst im Laufe eines Lebens herausgebildet hat. Allerdings eines Lebens, das – glücklicherweise? – nahezu parallel zu den großen geistes- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verlaufen ist.

All das also auch hier. Es hat schon eine gewisse Gnadenlosigkeit, wie Erneaux das eigene jüngere Ich seziert, wie sie die Unbedarftheit und die Naivität ausstellt, mit der die junge Annie Duchesne in dieses „Abenteuer“ einer Ferienkolonie hineingeht und nicht versteht, als was sie betrachtet wird. Auch hier die Hinweise auf die Scham hinsichtlich der eigenen Sprache, die sie immer als Abkömmling einer gewissen Schicht ausweist und die sie mit aller Macht zu unterdrücken sucht. Die Lust, die diese junge Frau, gebildet aus einigen schlechten und sehr vielen guten Romanen und Filmen, in sich trägt und der sie Raum geben möchte, die innere Eile, endlich ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, endlich eine Affäre zu erleben, endlich sexuelle Erfüllung zu finden. Und erst recht ist es schmerzhaft, zu lesen, wie ihr nach und nach bewußt wird, daß sie einen Fehler begangen hat, daß sie ihren Ruf aufs Spiel gesetzt hat. Und daß sie einer sehr typisch männlichen Haltung aufgesessen ist: Wird sie zunächst auf Händen getragen, mit Komplimenten überschüttet und gelockt, so schnell ist sie, nachdem sie sich hingegeben hat, als „Hure“ gebrandmarkt, die es angeblich mit allen macht.

Die Verbindung, die Erneaux zu den Entwicklungen der zwei folgenden Jahre zieht – die Essstörungen, das kurze Abgleiten in juvenil-kriminelle Handlungen, Ladendiebstahl bspw. – wirkt allerdings konstruiert. Was der Autorin auch selber auffällt und sie veranlasst, darüber zu reflektieren, wie der Geist in der Erinnerung Narrative entwirft, um die eigene Geschichte kohärent zu machen, in eine sinnhafte Erzählung einzubetten. Und diese Überlegung führt schließlich dazu, das Erleben ausschließlich in den Dienst des Schreibens zu stellen.

Die Sinnlosigkeit des Erlebten in dem Moment, in dem man es erlebt, vervielfacht die Möglichkeiten des Schreibens

– so räsoniert Erneaux auf der letzten Seite des Buchs. Das Schreiben, das schreibend In-sich-Gehen, das Schreiben als tätiges Erinnern, wird ihr zum Selbst- und damit zum Lebenszweck. Der Satz, der das Ergebnis mehrerer ähnlicher Reflexionen im Text ist, wirkt wie eine Selbstvergewisserung am Ende eines langen, eines jahre- und jahrzehntelangen Prozesses, wirkt wie die Rechtfertigung vor dem eigenen Stoff. In diesem Fall also vor sich selbst. Als wolle die Autorin ihr Material, das sie ja selber ist, und dessen Ausnutzung rechtfertigen und dem Leser zu verstehen geben, wie sehr dieses Schreiben notwendig gewesen ist, um das eigene Leben zu begreifen.

Anders als in den meisten ihrer vorherigen Bücher, tritt die Geschichte, das Geschehen, das zu Erzählende; hier stärker hinter die Reflexion auf das Erzählen selbst zurück. Die Geschichte selbst allerdings wurde so oft erzählt, daß selbst Annie Erneaux ihr nichts oder zumindest wenig Neues hinzuzufügen weiß. „Gefallene“ Mädchen, erste Jugendliebe, die Enttäuschung, wenn sich ein Liebhaber als etwas ganz anderes als das erweist, was man in ihn hineininterpretiert hatte – all das ist Gegenstand Hunderter, wenn nicht Tausender Romane der vergangenen siebzig Jahre gewesen. Erneaux erhebt natürlich ganz bewußt keinen Anspruch auf Originalität, ist ja gerade die von ihr so empfundene Durchschnittlichkeit ihres früheren Lebens so wesentlich dafür, daß diese Art zu schreiben überhaupt funktioniert. So bleibt das Repräsentierte hier hinter der Repräsentation zurück, tritt gleichsam ins zweite Glied, um der Reflexion den gebührenden Raum zu geben. Nichtsdestotrotz ist auch dies ein weiterer Mosaikstein in der Lebensbeschreibung der Annie Erneaux.

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