DAS NARRENSCHIFF

Ein famoses Epos, in welchem Christoph Hein die DDR noch einmal auferstehen und ihr Gerechtigkeit widerfahren lässt

In einem Interview mit dem SPIEGEL anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Romans DAS NARRENSCHIFF (2025), äußerte Christoph Hein die Vermutung, dass von der DDR nichts bleiben werde, im Gegenteil, so seine Prophezeiung, sie werde in Vergessenheit geraten[1]. Nach der Lektüre des Großwerks möchte man dem Autor jedoch zurufen: Nein, nicht solange es Bücher wie dieses gibt!

Nicht zuletzt Hein, der etwa die Hälfte seines Lebens in eben jenem Teil Deutschlands verbracht hat, den er im Orkus der Geschichte vermutet, keineswegs aber dort hin wünscht, trägt mit seinen Romanen, Essays und Bühnenstücken in regelmäßigen Abständen verlässlich dazu bei, dass das Leben in der DDR in Erinnerung bleibt. Vor allem ist es ihm zu verdanken, dass ein Bild dieses Lebens entsteht, das doch stark von den Klischees abweicht, die heute über die DDR weit verbreitet sind und sich leider immer stärker festsetzen. Und prompt hört man schon während man dieses 750 Seiten starke Epos liest jene Stimmen, die von „Verharmlosung“ raunen werden, davon, dass es so „einfach“ ja nun nicht gewesen sei usw.

Hein erzählt die Geschichte des Landes anhand einer Gruppe von Menschen, die scheinbar wahllos – wenn man so will aber auch vom Schicksal – zusammengewürfelt werden und im Laufe ihres Lebens hervorgehobene Positionen innerhalb der staatlichen Ordnung einnehmen. Da ist Yvonne Lebinski, deren Mann Jonathan, jüdischen Glaubens, während des Krieges zu fliehen versucht und nie wieder auftaucht. Ob er entkommen konnte? Wahrscheinlicher ist, dass er das Schicksal von Millionen Juden geteilt hat. Yvonne heiratet nach dem Krieg Johannes Goretzka, der eine von ihm strikt verschwiegene Vergangenheit als überzeugter Nazi hinter sich hat und, nachdem er in russischer Kriegsgefangenschaft von den Vorzügen des Marxismus mit stalinistischer Note überzeugt wurde, als Kader nach Deutschland zurückkehrt, lange aufgrund seines Studiums zum Ingenieur für Hüttenwesen und Erzbergbau glaubt, im neuen Staat die Karriereleiter erklimmen zu können und aufgrund einer einzigen Verfehlung all seine Karrierepläne aufgeben muss. Er ist es auch, der Yvonne zu einem Posten in einem der neu entstehenden Kulturhäuser verhilft, später steigt sie zur stellvertretenden Leiterin des Referats Kinder- und Jugendfilm bei der Hauptverwaltung Film des Kulturministeriums auf. Dort arbeitet sie eng mit Dr. Benaja Kuckuck zusammen, einem Anglisten und Germanisten, der einen recht sicheren Posten als Dozent an einer englischen Universität aufgegeben hatte, um nach Deutschland zurückzukehren, nur um dort feststellen zu müssen, dass seine frühere Mitgliedschaft im britischen Sektor der deutschen KP ihm alle Wege in eine akademische Laufbahn verbaut. Eng befreundet sind sowohl Yvonne als auch Kuckuck mit Rita Emser und ihrem Mann Prof. Dr. Karsten Emser. Sie ist stellvertretende Bürgermeisterin im Osten Berlins, er Professor an der Hochschule für Ökonomie und vor allem Mitglied im Zentralkomitee der Staatspartei. Auch er wurde, wie Johannes Goretzka, von der sowjetischen Führung bereits in den letzten Kriegstagen gen Deutschland geschickt, um dort sofort nach Kriegsende den Aufbau sozialistischer Strukturen im sowjetischen Sektor des besetzten Landes zu beginnen.

Um diese Figuren herum und anhand ihrer Lebenswege und Schicksale – zudem derer der Kinder Kathinka und Heinrich Goretzka – entwirft Hein ein weites Panorama vor allem der frühen Jahre der DDR. Ähnlich wie in einigen der Romane von Eugen Ruge, sind es hier vor allem Funktionsträger des Staates, deren Leben beschrieben werden, weniger Oppositionelle, obwohl auch die vorkommen und deren Schicksale durchaus auch eine Rolle spielen, wenn auch keine zentrale. Doch ist die auch hier gebotene Sichtweise auf die DDR bei Hein seit geraumer Zeit Programm. Schon seine letzten Bücher – qualitativ leider nicht durchgängig auf seinem gewohnt hohen Niveau – erzählten aus einem Land, welches bei aller Unterschiedlichkeit zur Bundesrepublik eben auch eine bürgerliche (manchmal deutlich kleinbürgerliche) Seite hatte, in dem es ein alltägliches Leben gab, das gelebt wurde, ohne dass ununterbrochen die Stasi vor der Tür stand oder staatliche Repressalien zu erwarten waren. Es sind diese oft so „normal“ anmutenden Leben, die Hein in den Mittelpunkt seines Schreibens stellt, die den Leser*innen ein authentisches, ein realistisches Bild jenes Lands vermittelt, das so unwiederbringlich verschwunden (gern wird von „untergegangen“ gesprochen) scheint.

Vielleicht ist dies einer der wenigen wirklich gültigen Kritikpunkte an diesem Roman, der vor allem noch einmal die frühen Jahre und Ereignisse in der DDR reflektierend in Erinnerung ruft: Für die Protagonisten läuft es zumeist erstaunlich glatt im Leben, sie erleben recht ungebrochen einen beruflichen Aufstieg, geraten selten bis nie in Konflikt mit der Staatsmacht, die Kinder machen reibungslos Abitur und bekommen die gewünschten Studienplätze; auch später im Leben erleben Heinrich und Kathinka verhältnismäßig wenig Widerstände, obwohl sich zumindest Kathinka und ihr Mann – die beiden leben in Leipzig – in den 80er Jahren in der kirchlich organisierten Friedensbewegung engagieren und schon früh zu den Protestierenden des Jahres 1989 gehören. Allein bei Johannes Goretzka gibt es die bereits erwähnten Probleme, weil er sich in einem entscheidenden Moment vorwagt und Kritik an Entscheidungen der Partei übt. Er büßt diese „Verfehlung“ damit, lebenslang unter seinen eigentlichen Fähigkeiten und Befähigungen eingesetzt zu werden, was zu einer fortschreitenden Verbitterung führt. Karsten Emser seinerseits wird von düsteren Erinnerungen umgetrieben, war er doch derjenige, der in den späten 30er Jahren, als viele der später am Aufbau der DDR Beteiligten in Moskau waren[2], organisatorisch die unterschiedlichen KP-Kader aus allen europäischen Ländern zusammenhielt. Und wie so viele, die diese schlimmen Jahre der stalinistischen Säuberungen und der Schauprozesse überstanden haben, hat sich auch Emser zumindest dadurch schuldig gemacht, dass er weggesehen, dass er geschwiegen hat.

Hein nutzt diese Figuren in gewisser Weise funktional, kann er doch – gerade die Figuren Kuckuck, Goretzka und Emser – anhand ihrer exemplarischen Lebenswege einige wesentliche Merkmale sozialistisch geprägter Leben herausstreichen. Und indem er Karsten Emser ein solch hohes Amt im Staatsapparat bekleiden lässt, kann er durch ihn die historisch bedeutsamen Ereignisse gleichsam von Innen reflektieren. Vor allem der 17. Juni 1953, der damals im Westen als Tag der deutschen Einheit verklärte Volksaufstand wegen zu hoher Arbeitsnormen und ständig steigender Kosten des alltäglichen Lebens und die aus den Ereignissen dieses Tages resultierende Reaktion der Führung – Konsumförderung anstatt, wie Emser es fordert, weiterhin gezielter Aufbau einer funktionierenden Wirtschaft, auch auf die Gefahr hin, die Bevölkerung nachhaltig zu verärgern – wird im Roman tiefgehend und zwar kritisch, aber doch eben auch aus Sicht eines Parteikaders und damit für heutige Zeiten eher ungewöhnlich reflektiert.

Hein flicht einige der wesentlichen Ereignisse der 50er und 60er Jahre ein, darunter der Aufstand in Ungarn und wie er in der DDR wahrgenommen wurde und ebenso, mit höherem Grad an Verzweiflung, der „Prager Frühling“ 1968, der ebenfalls brutal und blutig von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde. Und auch die Ereignisse in Peking im Frühjahr 1989, als die chinesische Führung es sich nicht nehmen ließ, mit äußerster Brutalität gegen die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens vorzugehen und wahrscheinlich Tausende zu töten, werden – vor allem in ihrer Wirkung auf die Protestierenden in Leipzig, später Berlin im Sommer und Herbst 1989, und die Anmerkung aus dem Zentralrat, dass es für die sich zusehends verstärkenden Proteste eine „chinesische Lösung“ geben könne – von den Protagonisten des Romans thematisiert. Hein zeigt also, dass es sehr wohl, heute fast vergessen, Reaktionen in der DDR auf das gab, was in sozialistischen Bruderländern und in anderen, kommunistisch verfassten Staaten, geschah, wie stark diese Eindrücke waren und wie sehr sie auch das Verhalten der Deutschen beeinflussten, ja prägten.

Erstaunlicher ist da eher, was Hein weglässt, bestenfalls am Rande erwähnt. Und damit gelangt man an die innere, die literarische Konstruktion des Romans. Es gelingt dem Autor hervorragend, Weltgeschichte in persönlichen Schicksalen zu spiegeln, dabei seine Figuren aber eben nicht, wie es vergleichbarer Literatur leider allzu oft passiert, zu reiner Staffage, zu Pappkameraden zu degradieren, sondern sie lebendig, authentisch zu gestalten, sie wie aus dem Leben gegriffen wirken zu lassen. Es sind ausgesprochen genau entworfene, komplexe literarische Figuren, deren emotionale Beteiligung, deren Wünsche, Träume und Ängste man nachvollziehen kann, obwohl Hein sich einer in vielen, vielen Romanen erprobten, verfeinerten und geschliffenen, manchmal rudimentär erscheinenden Sprache bedient, einer Sprache, die auf das Wesentliche reduziert ist. So kann er trotz des immensen Umfangs dessen, was es zu erzählen gilt – 40 Jahre DDR-Geschichte werden hier schließlich verhandelt; zudem wird die Vorgeschichte einiger Protagonisten, namentlich die von Yvonne und Johannes Goretzka, die von Benaja Kuckuck und die von Karsten Emser erzählt, und auch wird davon berichtet, was einigen dieser Personen nach dem Fall der Mauer widerfährt – ein geschlossenes, in sich kohärentes Panorama entwerfen und episch, aber sehr lebendig aus diesen vier Jahrzehnten erzählen.

Die ersten zwei Jahrzehnte der DDR werden dabei sehr genau reflektiert, doch spätestens wenn die Erzählung in die 70er Jahre eintritt – wobei der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker in seiner Dramatik noch einmal breiten Raum einnimmt und den anderen Figuren durch Emser, der vieles noch hautnah miterlebt oder aber erster Hand durch einen Freund mit Nachnamen Fuchs, ein hohes Tier bei der Auslandsspionage und unschwer als Markus Wolf zu erkennen, sehr zeitnah erklärt wird – macht Hein oft große Zeitsprünge. Die unterschiedlichen Phasen der An- und Entspannung in der Sozial- und Kulturpolitik der DDR werden eher angerissen, als dass sie erklärt würden oder für die Protagonisten – selbst jene, die unmittelbar betroffen hätten sein müssen – gar spürbare Folgen hätten; das Kölner Konzert von Wolf Biermann (der selbst in einer Szene des Romans vorkommt, ungenannt aber dennoch klar erkennbar,) wird nicht einmal erwähnt, obwohl es auf die Kulturszene und damit indirekt auch auf die Politik der Staatsführung enormen Einfluss hatte. Da Benaja Kuckuck ebenso wie Yvonne Goretzka im Kulturbetrieb arbeitet, bzw. arbeitete, ist doch zumindest er zu diesem Zeitpunkt im Herbst 1976 bereits pensioniert, müsste auch dieses Ereignis beide unmittelbar betreffen.

Auslassungen, Weglassungen. Auf den letzten 200 Seiten dieses voluminösen Romans entsteht der Eindruck, es sei Hein doch vor allem um die Gründung und die Konsolidierung der DDR gegangen, weniger um die späteren Entwicklungen. Erst mit dem aufkommenden Widerstand vor allem in den Kirchen Mitte der 80er Jahre und den Massenprotesten im Sommer und vor allem im Herbst 1989 setzt wieder eine Engführung der Handlung ein. Relativ ausführlich wird dann von den Vorkommnissen des Jahres 1989 berichtet. Wobei Hein es sich nicht nehmen lässt, anhand der zunehmenden Demenz von Kuckuck und der Sorge seines Lebensgefährten aufzuzeigen, wie sogar Weltgeschichte in Anbetracht persönlicher Schicksalsschläge in den Hintergrund treten kann, manchmal nicht einmal wahrgenommen wird.

Nicht zuletzt damit gelingt dem Autor der eindrücklich Nachweis, dass die DDR eben auch ein „ganz normales Land“ gewesen ist, in dem „ganz normale Menschen“ lebten, die „ganz normale Sorgen und Ängste“ hatten. Es ist diese „Normalisierung“, die die DDR spür- und erlebbar macht und es ist vor allem interessant, zu erfahren, wie Menschen auf Heins Roman reagieren, die die DDR wirklich kannten, die wirklich dort gelebt, wirklich dort gearbeitet, dort geliebt und auch sich gesorgt haben. Dass Deutschland noch längst nicht fertig ist mit seiner geteilten Geschichte, dass nach wie vor aufgearbeitet werden muss und dass sich – auch über dreißig Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung – unterschiedliche Mentalitäten, Muster und Systematiken ausgebildet haben und weiter ausbilden, dass die Teilung noch längst nicht überwunden ist (und damit sind jetzt wirklich nicht die Wahlergebnisse der AfD gemeint), spürt, wer bereit ist, sich dieser Geschichte und der Realität in diesem Land auszusetzen und sich damit auseinander zu setzen. Geschichte wirkt und ist nicht abgeschlossen. Christoph Hein weiß das und so sind seine Aussagen im SPIEGEL vielleicht auch Ausdruck einer gewissen Verzweiflung oder gar Resignation am Ende eines langen, künstlerisch produktiven Lebens, die Aussagen eines Menschen, der sich in seinem Werk immer mit diesem Land und seiner Geschichte auseinandergesetzt hat. Ein Künstler, der vielleicht spürt, dass all die Bemühungen, die er und andere in den vergangenen dreißig (und mehr) Jahren angestellt haben, um von jenem Land und dem Leben, wie es dort gewesen ist, zu berichten, nicht derart gefruchtet haben, wie er sich das gewünscht hätte. Ein Künstler, der vielleicht spürt, dass da etwas Neues erwächst, etwas, das sich auf ein Land beruft, dass es so eben nicht gegeben hat, auf einen im Bestehen begriffenen Mythos rekurriert, der von falschen Predigern (die meist aus dem Westen kamen) und jenen befeuert wird, die die Vergangenheit – vielleicht aus eigener Resignation, vielleicht aus Hass, aus einem Gefühl des Unverstanden-Seins oder ganz einfach aus Langeweile – verklären und als einen Ort verherrlichen, an dem zu leben sich gelohnt habe.

Die DDR, diesen ganzen Staat, als ein gescheitertes Projekt zu betrachten, ihn gar als das dem Roman seinen Titel gebende „Narrenschiff“ zu bezeichnen, ist dann möglicherweise ebenfalls Ausdruck einer solchen Resignation, denn eins wird in Heins Roman noch einmal deutlich: Es gab Menschen, die berechtigte Hoffnungen in diesen Staat gesetzt hatten, nachdem immer deutlicher wurde, was Deutschland zuvor in gerade einmal zwölf Jahren Nazi-Diktatur verbrochen hatte. Vielleicht sollte man sich noch einmal Christa Wolfs DER GETEILTE HIMMEL oder Brigitte Reimanns FRANZSIKA LINKERHAND zu Gemüte führen. Dort kann man nachempfinden, dass es jene gab, die an dieses „Projekt DDR“ geglaubt haben, die überzeugt waren, dass es funktionieren könnte, dieses Neue Deutschland, das auf seine Art eben „besser“ sein sollte als all das, was Deutschland in seiner Geschichte zuvor gewesen ist. Besser auch als der westdeutsche Staat, der in so vielem so bigott erschien. Dass auch dieser Versuch eines neuen und besseren Deutschlands an inneren Widersprüchen gescheitert ist – darin liegt die Tragik dieses Landes. Dass aber der eine deutsche Staat schließlich final gescheitert ist, während der andere, mit massiver Hilfe und Unterstützung seiner ehemaligen Feinde, prosperierte, das mag eine Menge Gründe haben. Ob sie historisch überzeugend sind, sei dahingestellt.

 

[1] Vgl. SPIEGEL 15/2025.

[2] Walter Ulbricht war in Moskau, Erich Mielke eine Zeit lang, Erich Honecker wurde zwar u.a. in Moskau geschult, war aber während der Nazi-Diktatur und auch während des Kriegs im Auftrag der Partei in Deutschland unterwegs, wo er auch im Gestapo-Gefängnis saß. Es wird ungern daran erinnert, dass all diese Leute – und viele, viele mehr, über die gern hinweggesehen wird – tatsächlich gegen die Nazi-Diktatur gekämpft haben, oft unter Einsatz ihres Lebens (was auch für den viel gehassten Erich Mielke gilt). Dass viele dieser Männer und Frauen später oft extrem kleinbürgerliche, ja regelrecht spießige Eigenschaften und Ansichten entwickelten, bzw. bereits vorhandene immer stärker ausprägten, gehört zur Wahrheit und kann auch als ein tragisches Element der Geschichte betrachtet werden.

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