GULDENBERG

Leider kann Christoph Hein der Materie seines Romans wenig bis nichts Neues hinzufügen

Soziologen und Politikwissenschaftler haben den Konflikt zwischen den ländlichen Zonen und dem urbanen Raum als einen der entscheidenden unserer Zeit ausgemacht. Immer wieder liest man die Befunde in den Zeitungen, wird in den Nachrichten darüber aufgeklärt und findet Hintergrundartikel dazu in Sonntagsbeilagen oder als Dossier in Wochenzeitschriften. Die vermeintliche Rückständigkeit des Landlebens trifft auf die moderne Lebensart der Stadt. Konservativ, ja reaktionär, das eine, progressiv und fortschrittlich das andere. Vernachlässigt die Region, während in den Zentren die schnellsten Netze Daten in Ultrageschwindigkeit übertragen. Medizinische Versorgung? Hier ein Witz, dort ein Überangebot. Die Landflucht und die verwaisten Gehöfte als Beweise einer aussterbenden Agrarwirtschaft einerseits, die modernsten Auswüchse der Dienstleistungsgesellschaft andererseits. Man könnte die Gegensätze endlos weiterführen.

Natürlich ist es auch ein Thema, das längst schon in der Literatur angekommen ist. Als vor einigen Jahren Dörte Hansens Roman ALTES LAND (erschienen 2015) die Bestsellerlisten stürmte, wunderte man sich zunächst, doch spätestens als Juli Zeh mit UNTERLEUTEN (erschienen 2016) nachlegte und das Thema offenbar auch in Frankreich (Mathias Énards DAS JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER/2020) und auch in der englischen Literatur (Lesley Karas DAS GERÜCHT/2018) aufgegriffen wurde, wusste man: Es scheint ein Trend zu sein.

Christoph Hein, allgemein gern als „Chronist der DDR“ bezeichnet, hat in seinen Romanen immer schon Abstecher ins Ländliche gewagt, hatte immer auch die Kleinstädte und Ortschaften im Auge, die vor allem nach der Wende besonders gebeutelt waren, da ihnen vor allem die junge Bevölkerung abhandenkam, darunter vor allem die jungen Frauen. Obwohl man ihn nun wahrlich nicht als „Chronist des Landlebens“ bezeichnen kann, wendet er sich nun, in seinem neuen Roman, genau diesem Landleben zu und versucht, die Besonderheiten gerade in den neueren Bundesländern zu untersuchen und aufzudecken. In GULDENBERG (2021) ist es die fiktive, titelgebende Kleinstadt, die in mehreren seiner Werke schon Erwähnung fand, die er literarisch schon mehrfach besucht hat, die nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt.

Einige noch jugendliche Asylbewerber – Syrer und Afghanen – werden in Guldenberg in einem alten Seglerheim untergebracht. Für die Kleinstadt ist dies zunächst kein besonderer Anlaß, sich Gedanken zu machen, finden hier doch ein paar Mitbürger vorübergehend Anstellung, zudem will man das Gebäude zwar gern anderweitig nutzen, hat dafür aber momentan nicht die Mittel zur Verfügung. Dennoch sind die „Fremden“ nicht sonderlich beliebt in der Stadt. Das Ressentiment erwächst eher aus Unkenntnis und Desinteresse, als einer wirklichen Fremdenfeindlichkeit geschuldet zu sein, doch als ein minderjähriges Mädchen behauptet, sie sei vergewaltigt worden, fällt der Verdacht fast zwangsläufig auf die Migranten. Es kommt zu Übergriffen, später auch zu einem eher halbherzigen Angriff auf das Heim mittels eines Brandsatzes, der aber glücklicherweise nur Sachschaden anrichtet. Die Polizei gibt sich zunächst arglos, später überfordert, da der Personalmangel und die Zuständigkeit für gleich mehrere, teils weit auseinanderliegende Kleinstädte und Dörfer, eine richtige Untersuchung nicht zulässt. Der Bürgermeister möchte einer Gemeinde vorstehen, die als weltoffen und freundlich gilt, sein Widersacher im Stadtrat, zugleich auch Vorsteher im Kirchenrat, verfolgt eine eigene Agenda, der Pfarrer gerät in Gewissenskonflikte, da er aufgrund der Beichte einer jungen Frau glaubt, den wirklichen Grund für die behauptete Vergewaltigung zu kennen, die junge Frau gerät ebenfalls in eine moralische Schieflage, da sie sich nicht mehr zu helfen weiß, die „einfachen“ Bürger der Stadt machen sich so ihre Gedanken und schneller, als man sich versieht, herrschen Zwietracht und schließlich sogar Hass in der Stadt. Und vor allem brechen alle möglichen Konflikte auf, die nur vordergründig etwas mit der Entwicklung um das Seglerheim und dessen momentane Bewohner zu tun haben, sondern viel, viel tiefer reichen. Teils zurückreichen bis in die Zeiten der DDR, wo der eine sich opportunistisch gab, der andere als Opposition.

Wer Heins Prosa die letzten fünfzehn Jahre – oder länger – verfolgt und zu schätzen gelernt hat, dem ist aufgefallen, daß der Autor sich sowohl formal als auch inhaltlich immer redundanterer Mittel bedient. Sein Stil wurde immer knapper, reduzierte sich bis auf teils skizzenhafte Beschreibungen, bot dafür aber mehr Dialoge. Dies scheint im Falle von GULDENBERG nun auf die Spitze getrieben. Ganze Kapitel und Passagen werden nur noch in Dialogform geboten, einige der Protagonisten lernen wir nur noch in ihrer Funktion als eine Art Chor kennen – die Skatrunde in der Kneipe steht exemplarisch dafür. Hier sitzen einige Herren zusammen, foppen den Wirt, bei dem sie Stammgäste sind, und kommentieren, scheinbar unbeteiligt, das Geschehen vor Ort. An sich nicht die schlechteste Idee, wäre es nicht so, daß die Zeilen, die der Autor ihnen in den Mund legt, wie aus Chateinträgen auf den Facebookseiten der AfD und anderer eher rechtslastiger Parteien abgeschrieben wirkten.

Und damit ist man mitten im Problem, dem grundlegenden Manko des Romans: Nahezu alle Figuren hier wirken konstruiert – und zwar rein auf ihre Funktion hin. Nicht nur sind sie anhand ihres Sprechens, was doch für einen derart dialoglastigen Roman zwingend notwendig wäre, kaum voneinander zu unterscheiden, sondern das, was sie sagen, überrascht an keiner Stelle, es wirkt wie aufgesagt, wie ein zuvor festgelegter Text, der eben genau die Haltung, die Sichtweise und Perspektive belegen soll, die diesen Menschen, wenn es denn welche wären, zugedacht ist.

So, wie keine der Figuren auch nur ein einziges Mal etwas Unerwartetes tut, sagt oder unternimmt, so ist auch die Geschichte vorhersehbar und in ihrem Ablauf ebenfalls dem Drehbuch einer durchschnittlichen Provinzposse entsprechend. Und der Begriff „Posse“ ist hier ganz bewußt gewählt, denn als Posse wirkt dies alles nicht zuletzt verharmlosend. Niemandem passiert wirklich Schlimmes, die Asylanten haben ein wenig Angst, ein paar Einwohner stehen zu ihnen, schließlich befördert man sie in eine andere Stadt, da es nun genügend Betten und Unterkünfte gäbe, um alle nah beieinander zusammen zu fassen. Ende gut, alles gut. Man hat während der Lektüre nie den Eindruck, daß diese Geschichte dringlich sei, daß irgendwem wirkliches Ungemach drohe. Dazu trägt Heins teils antiklimaktische Erzählstruktur bei, welche wesentliche Begebenheiten der Erzählung auslässt, die dem Leser dann rückblickend in weiteren Dialogen mitgeteilt werden. So erfahren wir eher nebenher, daß die Migranten die Stadt verlassen haben oder die junge Frau schließlich zugegeben hat, nie vergewaltigt worden zu sein.

Es entsteht der Eindruck, daß es Hein weitaus weniger um einen tatsächlichen Fall von Fremdenfeindlichkeit und Hass geht, als vielmehr darum, anhand einer solchen Story die Strukturen und subtilen Verwerfungen einer Kleinstadt und ihrer Würdenträger aufzuzeigen. Doch die bleiben alle zu blass, zu eindimensional, als daß sie überzeugen oder den Leser bannen würden. Dazu trägt der Eindruck bei, der Autor kenne vergleichbare Geschichten eben nur aus der Zeitungslektüre oder dem Fernsehen, als sei er weit davon entfernt, über etwas zu schreiben, das ihm selbst auch nur annähernd bekannt sei. Ein Problem, das auch schon in VERWIRRNIS (2018) auftrat, wo es um Homosexualität in der DDR und nach der Wende ging und darum, wie sie – was so aber auch im Westen lange Zeit vorkommen konnte (und vielleicht bis heute ein Problem darstellt) – Lebensentwürfe und Karrieren bedrohte, oder auch nicht. Auch dort hatte der Leser irgendwann den Eindruck, ein vielleicht altersmilder Autor mag nicht mehr allzu tief in die wirklichen Konflikte eindringen, sondern seinen Mitmenschen ein zwar allzu menschliches Fehlverhalten unterstellte, dies aber durch Zeitläufte und persönliche Verstrickung zu erklären suchte und auch ein wenig abzumildern gedachte.

In GULDENBERG wird dies dann virulent. Denn ganz gleich, welcher Konflikt gerade im Vordergrund stehen mag, authentisch wirkt dies alles nicht. Ob es nun die für eine Kleinstadt typische politische Problematik betrifft, ob es die Konflikte um Verteilung und Fördermittel geht, um Karrieren und Pfründe oder eben um das verhalten (und Fehlverhalten) der Migranten – es scheinen exakt jene Probleme und Konflikte zu sein, von denen man halt so hört und liest, wenn man sich für Kommunalpolitik interessiert. Hein gibt sich durchaus Mühe, zu differenzieren, so baut er bspw. Sequenzen ein, die die Konflikte unter den Migranten selbst thematisieren – Syrer und Afghanen mögen sich nicht, es kommt sogar im Heim zu einer Messerstecherei, die vor allem eine der Betreuerinnen schädigt – doch ist auch dies offensichtlich angelesen und wirkt den mittlerweile gängigen Artikelserien im SPIEGEL und anderen einschlägigen Publikationen entnommen.

Dennoch sollte man Hein zumindest gegen die Kritik verteidigen, die u.a. Jörg Magenau in der Sueddeutschen Zeitung erhebt, der Hein vorwirft, nur noch Klischees zu bedienen. Das kann man so sehen, doch sollte man nicht vergessen, daß die oben genannten Dörte Hansen oder Juli Zeh vor einigen Jahren für genau solche Klischees noch in den Himmel gelobt wurden. Eher stellt sich die Frage, ob die deutsche Provinz eben genau diese Klischees produziert und hervorbringt und einem Autor, der sich ihrer annehmen will, gar nichts anderes übrigbleibt, als sich ihrer zu bedienen. Nur – und das wiederum kann man Hein dann eben doch vorwerfen – sollte man sich vielleicht tiefer in die Materie begeben, sollte man sich dieser Klischees anders annehmen, sie gegen den Strich bürsten, hier und da brechen, um sie als genau das zu kennzeichnen, was sie sind und zugleich das Erschrecken darüber ausstellen, daß sie im Kern eben auch die Realität spiegeln.

Jedem Autor sei zugestanden, auch schwächere Werke abzuliefern. Im Falle von Christoph Hein bleibt zu hoffen, daß er sich noch einmal (oder zwei-, drei-, fünfmal) zu alter Klasse aufschwingt. Seinen Lesern, die ihn über vierzig Jahre hervorragender Literatur zur deutsch-deutschen Befindlichkeit zu schätzen gelernt haben, wäre es wahrlich zu wünschen.

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