DAS WEINEN DER VÖGEL/AN ORCHESTRA OF MINORITIES
Der schwierige zweite Roman nach einem triumphalen Debüt
Die schwierigen zweiten Romane – ein Thema für sich. Umso schwieriger übrigens, je erfolgreicher der Erstling war. Chigozie Obioma hatte 2015 mit THE FISHERMEN einen fulminanten Debutroman vorgelegt, mit welchem er international Aufsehen erregte. Da erzählte jemand mitten aus der afrikanischen – genauer: der nigerianischen – Wirklichkeit heraus und schuf doch ein Werk, das Allgemeingültigkeit beanspruchen durfte, verhandelte hier doch ein junger Autor die Conditio humana, als habe er nie etwas anderes getan. 2019 legte Obioma nach und veröffentlichte AN ORCHESTRA OF MINORITIES (DAS WEINEN DER VÖGEL; Original 2019, Dt. 2019). Noch detaillierter erzählte er aus der Gegenwart einer Gesellschaft, die einerseits nach traditionellen Werten und Riten lebt, zugleich aber schon lange den Werten – vor allem den materiellen Werten – westlicher Gesellschaften nacheifert. Anhand der Geschichte des jungen Chinonso, der in der Tradition seines Vaters eine Hühnerfarm betreibt, eines Nachts Zeuge wird, wie die ebenfalls noch sehr junge Ndali droht, sich von einer Brücke zu stürzen, sie anspricht und in einer Anwandlung spiritueller Erleuchtung ein Huhn und seinen besten Hahn opfert, um sie an ihrer statt dem Tod zu übergeben.
Aus dieser kurzen Begegnung entwächst eine tiefe Liebe, die allerdings an den Ansprüchen ihrer Eltern zu scheitern droht. Die wollen ihre studierende Tochter nicht an einen in ihren Augen ungebildeten Mann verlieren. Chinonso meint zu begreifen, daß Bildung, wie sie in Ndalis Elternhaus verstanden wird, auch ihm zugutekäme. Er gibt die Farm auf, verkauft sein Hab und Gut, geht auf den Ratschlag eines Freundes hin nach Zypern, wo Nigerianer angeblich auf der türkischen Seite der Insel gut behandelt würden und studieren könnten. Doch spätestens ab seiner Ankunft auf der geteilten Insel, deren griechischer Teil ja nur der EU angehört, läuft alles schief: Sein Freund hat ihn betrogen, die Studiengebühren und das Studentenwohnheim wurden nur zum Teil bezahlt, die Versprechungen, denen Chinonso geglaubt hatte, erweisen sich größtenteils als hohl. In seiner Verzweiflung – auch darüber, seiner Geliebten eingestehen zu müssen, daß er einem Betrug aufgesessen ist – trifft Chinonso eine falsche Entscheidung nach der andern, bis er schließlich sogar im Gefängnis landet und für Jahre weggesperrt wird. Doch wenn Chinonso dachte, daß sein Leidensweg damit beendet sei, so irrt er, denn sein wahrer Höllenweg beginnt erst, als er nach Nigeria zurückkehren kann und dort feststellen muß, daß nichts mehr ist, wie er es erwartet hatte.
Obioma erzählt die Passionsgeschichte eines Mannes, den die Liebe blind zu machen scheint, der gefallen will und mit jedem seiner Schritte tiefer ins Unglück gerät und schließlich – spätestens hier, im letzten Drittel des Romans, wird die Erzählung erneut sehr allgemeingültig, denn es ist eine jener Geschichten, wie sie in vielen Kulturen über Männer erzählt werden, die das Objekt ihrer Begierde nicht (mehr) erreichen können und darob verfallen, kurz: Es ist die Geschichte des Blues – einen endgültigen, fatalen Fehler begeht, der seine Schuld, die Schuld des unschuldig schuldig Gewordenen, besiegelt. Die Blindheit, mit der die Liebe diesen unglücklichen Mann schlägt, lässt ihn nicht mehr wahrnehmen, daß seine angebetete Ndali längst beschlossen hat, die eigene Familie für ihn zu opfern, sich deren westlich geprägten und doch (oder gerade deshalb) durch und durch patriarchalen Strukturen zu entziehen.
Der sensible Chinonso, der die Vögel versteht, der als Kind einer kleinen Gans ein Ersatzvater war, nachdem sein eigener Vater die Mutter des Kükens getötet hatte, der die Tiere durchschaut, ihre Krankheiten erahnt und sich dem Habicht entgegenstellt, wenn dieser in seinem Hof ein Huhn zu schlagen droht, dieser Mann hat Ndalis Herz erobert und ihr Leben gerettet – auch wenn sie nicht glaubt, daß sie einst an jener Brücke wirklich gesprungen wäre. Und er hat die Demütigungen ertragen, die ihm durch ihre Familie zugefügt wurden, hat dies hingenommen, um ihr, Ndali, bloß nicht zu schaden. Sie weiß längst, daß sie ihn liebt und ihn will und bereit ist, seinen Weg mit ihm zu gehen. Doch er will ihr gefallen, will der Spaltung der Familie vorbeugen, indem er als gebildeter, wenn möglich auch wohlhabender Mann aus der Fremde zurückkehrt und ihrem Vater imponieren kann.
Es gelingt Obioma sehr geschickt, die Melange aus nahezu ungezügelten Emotionen und jenen inneren Ambivalenzen, die einen Mann wie Chinonso dazu treiben, etwas sein zu wollen, was ihm nicht bestimmt ist, aufzublättern und nachvollziehbar zu machen. Es gelingt ihm darüber hinaus aber vor allem in seiner Erzählform, die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz zwischen einem linear geprägten westlichen Weltbild und einem eher spirituell geprägten, kosmologischen Weltbild, wie es der Stamm der Igbo, dem auch Chinonso entstammt, zu verdeutlichen. Obioma wählt eine interessante Erzählform, indem er Chinonsos Chi, seinen Schutzgeist, vor dem Rat der Alten, der Väter, der Götter sprechen lässt, wo über das weitere Schicksal seines Schützlings beraten wird. Denn Chinonso hat Schuld auf sich geladen und wird von den Alten gestraft werden. Und sein Chi sucht nach Erklärungen und Gründen, die Alten, die Weisen, die alles sehen und alles wissen, davon zu überzeugen, daß sie Nachsicht haben müssen mit diesem Mann.
Diese Form ermöglicht es Obioma, einen auktorialen Erzähler auftreten zu lassen, der weitaus mehr weiß als die Hauptfigur selbst, der aufgrund seines wiederkehrenden Zyklus auf Erden, wo er durch die Jahrhunderte immer wieder die Schutzfunktion für einzelne Individuen übernommen hat, das menschliche Wesen erforscht und weitestgehend durchschaut hat und dennoch immer wieder über den Menschen als solchen staunt, über seine Widersprüche, seine Träume und die Wege, die er zurücklegt, um sie zu verwirklichen. Dieser Schutzgeist, das Chi, ist in der Lage, den Körper seines Schutzbefohlenen zu verlassen, sich Überblicke zu verschaffen, mit den Chis anderer Menschen Kontakt aufzunehmen und in geringerem Maße sogar die Entscheidungen, die Wünsche und Träume seines Schützlings zu beeinflussen. Und doch ist es nicht in der Lage, das Unheil, das es kommen sieht, nicht nur erahnt, sondern vorhersieht – eine Eigenschaft, deren Fehlen beim Menschen es selbst immer wieder beklagt – zu verhindern. Dies lässt es leiden. Denn es erlebt sich selbst als unvollkommen, was es in seinem über 500 Seiten langen Monolog, in welchem er Chinonsos Geschichte erzählt und erklärt, immer wieder beklagt.
In der puren Voraussetzung eines Chi, der Annahme der Existenz der Igbo-Kosmologie als Gegebenes, liegt schon die ganze Zerrissenheit zwischen den „alten“ Werten und jenen, die wie ein Import der Historie wirken und die nigerianische Gesellschaft zutiefst beeinflusst und geprägt haben. Eben jene Werte, die für Europäer gelten mögen, für jene, die einst nach Afrika kamen und das Land unterwarfen, seine Einwohner versklavten und in ihrem Imperialismus und mit ihrem Kolonialismus eine gesellschaftlich, kulturell und politisch verheerende Wirkung hatten.
Eine kluge Anlage für einen Roman. Und doch geht sie nicht auf, nicht wirklich. Wie der Autor in seinem Nachwort selbst betont, hat der Leser es hier mit keiner sachlich beschriebenen und umfassenden Igbo-Kosmologie zu tun, vielmehr verdeutlicht er, wie er sich diese zunutze gemacht hat. Doch führt dies zu Redundanzen, die den Leser manchmal stören, manchmal aber auch schlichtweg langweilen, da dieses erzählende Chi zu Wiederholungen neigt und darüber hinaus zu recht einfachen, um nicht zu sagen platten Weisheiten neigt. Zudem muß dieses Chi immer wieder erklärend auf Jahreszahlen und Ereignisse der westlichen Welt zurückgreifen, um seine Geschichte in Zeit und Raum zu verorten. Man wollte meinen, daß „die Alten“, Götter immerhin, solche Hinweise nicht bräuchten. Der Leser – der westliche Leser vor allem – allerdings schon. Und so sind die Hilfskonstruktionen, die Umwege, die der Roman immer wieder nimmt, doch arg durchschaubar. Zudem ist der Text schlicht zu lang.
War THE FISHERMEN auch deshalb ein so gelungener Erstling, weil der Autor kein Wort zu viel geschrieben hatte, seine Geschichte straff erzählte und den Leser deshalb mitnehmen und in seinem Sog bannen konnte, so macht AN ORCHESTRA OF MINORITIES den Eindruck, als habe hier ein Lektorat eingegriffen und einen „klassischen“ Roman verlangt, die klassischen 500 Seiten mit einer klassisch epischen Geschichte, den großen Gefühlen und der ganz weiten Perspektive. Weniger wäre vielleicht mehr gewesen. Denn der Roman ist keineswegs uninteressant, hat lauter bedenkenswerte Einfälle und Ideen und es gelingt ihm, den Leser mitzunehmen in das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne zu durchqueren, nur einmal aus einer vollkommen ungewohnten – eben der afrikanischen – Perspektive.
Bei aller Kritik – Obioma landete mit seinem Werk immerhin auf der Shortlist für den Booker Prize 2019 und konnte auch erneut Erfolg bei den Lesern verbuchen. Es bleibt die Freude auf ein weiteres Werk, das vielleicht etwas freier gestaltet ist, dem Autor mehr Möglichkeiten zur Entfaltung bietet und ihn weniger einengt in seiner Fantasie. Es wäre ihm – und uns, den Lesern – zu wünschen.