DER ZWEITE JAKOB

Ein literarisches Kunstwerk um Schein und Sein, Identität und Erinnerung

Jakob Thurner, Ich-Erzähler in Norbert Gstreins neuem Roman DER ZWEITE JAKOB (erschienen 2021), ist ein recht bekannter TV- und Theater-Schauspieler, der einer Tiroler Hotel- und Skilift-Dynastie entstammt. Kurz vor seinem 60. Geburtstag legt er Rechenschaft ab. Ausgelöst wird dieser Rechenschaftsbericht durch die Frage seiner Tochter Luzie, was das Schlimmste gewesen sei, das er je in seinem Leben getan habe? Einst, bei einem Dreh an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, war er Beifahrer bei einem Autounfall, bei dem die Fahrerin, eine Kollegin, eine Frau anfuhr, die sie dann sterbend oder bereits tot am Straßenrand hatten liegen lassen. Dies wird zum Ausgangspunkt einer Art Lebensbeichte von einem, der einerseits viel Glück hatte – durch sein Erbe war Thurner nie darauf angewiesen, seine Existenz wirklich durch seinem Beruf finanzieren zu müssen; er hat die Liebe mehrerer Frauen erfahren; er hat eine kluge und eigenständige Tochter etc. – andererseits Vieles in diesem Leben schlichtweg verbockt hat. Vor allem die Beziehung zu seiner klugen und eigenständigen Tochter.

Norbert Gstrein flicht da ein komplexes Gewebe aus unterschiedlichen Perspektiven, Zeitebenen und Einschüben, die das, was Jakob Thurner dem Leser erzählt, immer wieder in Frage stellen und den Erzähler selbst immer unschärfer wirken lassen. Die verschiedenen Perspektiven ergeben sich dabei aus den Zeitebenen selbst, denn der Jakob, der einst in Amerika einen Film drehte und der, der dies erst seiner Tochter und dann – selbstversichernd – sich und dem Leser berichtet, sind altersbedingt unterschiedliche Männer. Und dem älteren erzählenden Ich kommen im Laufe dieser 445 Seiten langsam aber sicher die Gewißheiten abhanden. Was ist er? Der zweite Jakob, benannt nach einem Onkel, einem Außenseiter in der Familie, zu dem er selbst dann ja ebenfalls wurde? Oder gibt es da vielleicht auch noch einen dritten, vierten, gar fünften Jakob – je nach dem, wer eigentlich berichtet?

So entsteht ein Spiel um Identitäten, um Erinnerung und ihre Trugschlüsse und vor allem darum, wer man, der einzelne, das Individuum, eigentlich ist? Sind wir Einer? Oder sind wir Viele – immer abhängig von Lebensphase und der Position, in der wir uns in der jeweiligen Erzählsituation befinden? Es entsteht aber auch ein reflexives Spiel um männliche Identität, um Schein und Sein und inwiefern der Schauspieler genau in den Räumen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verloren zu gehen droht. Thurner muß sich mit einem Biographen herumschlagen, der immer wieder die Frage nach der „dritten Frau“ stellt, also der Mutter von Luzie. Thurner und Riccarda, so ihr Name, gaben das Kind einst weg in ein englisches Internat, was in Thurners Erinnerung „das Beste für sie war“, obwohl ihm – vor allem aufgrund der Schwierigkeiten, die Luzie im Leben immer wieder hat, bis hin zu einem Selbstmordversuch – schwant, daß sich dahinter Selbstbeschwichtigung und letztlich eine Ausrede verbirgt, um das eigene schlechte Gewissen zu befriedigen.

Mehr noch aber konfrontiert der Biograph den Schauspieler mit seinem Selbstbild als Mann. Einst reüssierte Thurner in einer internationalen Produktion als Frauenmörder, den er sehr überzeugend gespielt hatte. Dreimal spielte er Frauenmörder in seiner Karriere, bis er eine Rolle ablehnte, die dann John Malkovitch übernommen hat. Eine überaus erfolgreiche Rolle. Der Biograph will offenbar eine Verbindung zwischen diesen gespielten Mördern und Thurners drei Ehen herstellen, was der Schauspieler vehement ablehnt. Doch kommt ihm neben jenem Unfall, an den er sich in Hinblick auf das Schlimmste, das er je getan habe erinnert, auch eine andere Erinnerung aus jenen Drehtagen an der mexikanischen Grenze zusehends in die Quere: Er hatte sich damals von einem zwielichtigen Kerl, der mal als Beschützer der mexikanischen Hauptdarstellerin auftrat, dann wieder als Produzent des Films angeführt wurde, nach Mexiko in einen Nachtclub einladen lassen, in dem ihm und einem weiteren Darsteller im Film eine Prostituierte angeboten wurde, deren Dienste er zunächst wahrnahm, um dann, mitten in einem Blowjob, zu erkennen, was er da als weißer, von jenseits der Grenze stammender Mann eigentlich tat in einer Stadt, in der seit Jahren Frauen ermordet wurden, was aber niemanden zu kümmern schien. Die eigene Herrschaftsgeste als Symbol männlicher Hybris.

Ein später Einschub, der nicht in unmittelbarem Bezug zur eigentlichen Geschichte steht, berichtet von einem Arztbesuch Thurners, bei dem eine charakterlich sehr starke Ärztin ihm mitteilt, daß er einen tödlichen Tumor haben könnte, daran anschließend wird eine kurzzeitige wilde Affäre mit einer weitaus jüngeren Schauspielerin geschildert, die ebenfalls einen starken Charakter hat und Thurner nicht nur zu nehmen weiß, sondern auch die Bedingungen dieser Liebesbeziehung definiert. Es sind immer wieder Frauen, die Thurner faszinieren, die er erobern will, obwohl er sich zugleich oft unterlegen fühlt, die aber immer auch in einem Bezug zu seiner Beziehung zur eigenen Tochter stehen – bis hin zu jener Schauspielerin, die altersmäßig ebenfalls seine Tochter sein könnte – und ein unterschwellig ungutes Gefühl beim Leser auslösen.

Gstrein spielt immer wieder mit Möglichkeiten, mit Andeutungen, die im Kopf des Rezipienten endlose Gedanken- und Assoziationsketten lostreten, ohne, daß der Autor wirkliche Hinweise gäbe, in welche Richtung er uns lenken will oder wie viel von dem, was man hier liest, eigentlich wirklich Aussage ist, wieviel Interpretation. Sprachlich ist das auf einem sehr hohen Niveau, wie man es von Gstrein gewohnt ist. Aber auch die Konstruktion ist außergewöhnlich genau konzipiert. Denn auch der Erzähler unterliegt Assoziationsketten. So entstehen oft ineinander verschachtelte Erinnerungskorridore, in denen Thurner sich zu verlieren scheint – und die doch immer wieder an Ausgangspunkte und Schnittstellen zurückführen. Gstrein hat diese Konstruktion so im Griff, daß uns dieser Jakob Thurner wirklich wie ein sich erinnerndes Subjekt in all seiner Widersprüchlichkeit vorkommt, ein Individuum, das lernt, der eigenen Erinnerung zu mißtrauen, kann diese doch durchaus trügerisch sein. Es ist schon hohes literarisches Können, den Leser die kleinen Modifikationen, die Thurner immer mal wieder am Erinnerten vornimmt, kaum merken zu lassen.

Gstrein scheut sich nicht, auch auf Klischees zurückzugreifen. Man darf nicht vergessen, daß hier mit Jakob Thurner ein Schauspieler spricht/schreibt. Ein Meister der Verstellung, der Verwandlung, der Lüge. So geraten jene Passagen, die in den USA spielen und ja dezidiert von einem Filmdreh handeln, selbst wie ein Spielfilm. Dabei nutzt Gstrein die Sprache gelegentlich wie eine Kamera und zollt damit jenen Weiten, jenem Amerika, das wir Europäer ja lange Zeit vor allem medial vermittelt bekommen haben, seinen Respekt. Er fängt es ein, wie dies ein Howard Hawks oder ein John Ford getan hätten: Mit Weitwinkel und Totalen. Und auch das, was da am Set geschieht und zwischen den Schauspielern und Filmemachern, ein wenig zu lebensgroß sich abspielt, ähnelt ebenfalls einem Film. Gerade die Amerikaner, allen voran das Schauspielerehepaar Stephen und Xenia, könnte in seiner Überdramatik selbst einem Ehedrama, eher einem Melodrama, Hollywoods entsprungen sein.

Den Reiz des Romans macht vor allem Gstreins Lust an der Geschichte, dem reinen Erzählen, der Handlung, der Story, aus. Obwohl introspektiv, geht es hier immer voran, bietet das Buch – wie ein guter Hollywoodfilm – immer Spannung und genügend Wechsel der Schauplätze, um den Leser zu fesseln. Wir nähern uns lesend bestimmten Ereignissen, entfernen uns wieder und werden dann, unvermittelt oder geschickt verpackt, doch wieder an sie herangeführt. Dabei durchdringen sich die Zeitebenen, sie werden nie klar voneinander abgegrenzt, etwa durch einzelne Kapitel, was erneut das Kunstvolle dieser Arbeit verdeutlicht. Aber der Leser muß wachsam bleiben, denn wie ein guter Hollywoodfilm, lässt uns Thurner/Gstrein immer in dem Glauben, es mit Wahrheit, Wirklichkeit zu tun zu haben. Doch wenn, wie man ja gern behauptet, die Erinnerung selbst schon fiktional ist, weil sie sich zusammensetzt und konstruiert, dann ist auch diesem Bericht nur mit Vorbehalt zu glauben. Was also ist Fiktion in Thurners Erinnerungen, was entspricht der Wahrheit und was einer gefühlten Wahrheit? Und was entspricht einer geschönten Wahrheit, um das eigene Leben, das Ich, auszuhalten?

Wahr in einem literarischen Sinne ist hier letztlich nur, daß ein Mann, der sich gern als Außenseiter geriert, der gern auf das Business und dessen Eitelkeiten und Eigenheiten schimpft und auch politisch gern antizyklische Haltungen einnimmt – bspw. mag er nicht in den allgemeinen Furor gegen George W. Bush einstimmen, als der nach dem 11. September den „Krieg gegen den Terror“ entfacht, da er den Mann einmal bei einem Empfang in Texas kennengelernt und durchaus auch schätzen hat – sich nach und nach, vielleicht ohne es wirklich zu merken, bis auf die Knochen entblößt. Immer mehr tritt zutage, wie dieser Mann im Leben, also gemeinhin dem, was die meisten von uns als die „Wirklichkeit“ wahrnehmen, komplett gescheitert ist. Natürlich kommt das vor allem in der Beziehung zur Tochter zum Tragen, doch auch in den meisten anderen Beziehungen, vor allem zu Frauen, kann Thurner nicht gerade behaupten, eine gute Figur gemacht zu haben. Das Kunststück besteht darin, daß wir das erst spüren, dann merken und schließlich immer mehr vergegenwärtigen, während da einer ja immer noch im Modus der Apologie seiner selbst schreibt.

Bleibt kritisch anzumerken, daß es nach den beiden großen Hauptteilen des Romans der Zusätze und Nachschriften vielleicht nicht gebraucht hätte. Vor allem jener Einschub, der von dem Arztbesuch mit der vielleicht tödlichen Diagnose und dann von der kurzen Liebe zu Maja, der Schauspielkollegin, berichtet, ist erratisch. Was deutet sich hier an? Daß das Ganze geschrieben wurde in Anbetracht des baldigen eigenen Ablebens, weniger im Bewußtsein des 60. Wiegenfestes? Oder daß das Ganze gar eben wirklich nur Fiktion ist, eine bessere Version eines gelebten Lebens, das weitaus trostloser und weniger aufregend verlief, als es Jakob Thurner wahrhaben will? Wird uns hier gewahr, daß die gute, die gelungene Lüge jene ist, die sich möglichst nah an der Wahrheit entlang bewegt? Und wenn ja – welcher Wahrheit? Das mit „Ende“ titulierte Schlußkapitel führt Thurner und seine Tochter dann an seinem das ganze Geschehen des Romans immer wieder überlagernden Geburtstag, den er fürchtet, zurück in die Tiroler Heimat, wo in seinem Heimatdorf ein Festakt für den verlorenen Sohn, der zehn Jahre nicht mehr hier war und seine früheren Mitmenschen in einem Interview als „Faschisten“ bezeichnet hatte, stattfinden soll. Hier kommt Jakob Thurner, in welcher Gestalt auch immer, dann doch zur Ruhe. Wer er eigentlich ist, das weiß er allerdings immer noch nicht.

Gelegentlich verglich das Feuilleton Gstreins Roman mit Max Frischs STILLER. Allerdings stellt Gstrein die Identitätsfrage anders, subtiler, als Frisch dies in seinem Großroman einst getan hatte. Und der literarischen Verweise sind in diesem Roman zu viele, um ihn so eindeutig zuzuordnen oder gar festzulegen. So wohnt man hier nämlich auch einer Selbstauslöschung bei, wie dies Thomas Bernhard zur künstlerischen Vollendung gebracht hat. Und einige der schönsten Sätze im Buch sind direkt bei Juan Carlos Onetti entlehnt. Aber Gstrein, nein, Jakob Thurner, setzt sie in einen Zusammenhang, der ihr Gewicht anders verlagert. Und plötzlich wird dieser Mensch hinter den vielen, vielen Sätzen noch greifbarer und wirklicher, da seine abgrundtiefe Traurigkeit kurz aufblitzt. Und das ist dann fast schon rührend.

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