DER SANDKASTEN
Christoph Peters bietet eine unterhaltsame, wenn auch nicht rundum gelungene Betrachtung der allerjüngsten deutschen Vergangenheit
Christoph Peters nimmt in seinem Roman DER SANDKASTEN (2022) dezidiert Bezug auf Wolfgang Koeppens DAS TREIBHAUS (1953), ein Buch, das seinerzeit – also in den 50er Jahren – vielgelesen ein Schlaglicht auf den Bonner Politikbetrieb warf. War es bei Koeppen ein desillusionierter Bundestagsabgeordneter, der sein Tun und Wirken in Frage stellte, ist es bei Peters nun ein Radiomoderator, dessen Zynismus, den er als Dialektik des Zweiflers verstanden haben will und doch nicht mehr vor sich und anderen vertreten kann, ihn zusehends in die Verzweiflung treibt. Gemein haben die Figuren – Felix Keeteheuve bei Koeppen, Kurt Siebenstädter bei Peters – dass sie ursprünglich Vertreter der Vierten Gewalt sind, also der öffentlichen Meinung, repräsentiert in der Presse, aber eben auch in Rundfunk und TV. Allerdings will Keeteheuve nach der Rückkehr aus dem Exil mitgestalten. Siebenstädter lehnt genau das explizit ab. Peters deutet also an, dass mittlerweile die Vierte Gewalt einen ähnlichen Status als Gestalter im Spiel der politischen Kräfte genießt, wie er der Legislative eigentlich exklusiv zustehen sollte. Was bei Koeppen also im Treibhaus Bonn erst langsam unter Dampf steht und dann immer schneller gedeiht, gerinnt in der Berliner Republik zu Sandkastenspielen, die oft genug nur um sich selbst kreisen.
Einen Tag, eine Nacht und den darauffolgenden Morgen lässt Peters seine Leser*innen tief in den Kopf dieses Kurt Siebenstädter blicken, der in diesen Stunden nicht nur sein Leben, seine Ehe, seine Rolle als Vater einer dreizehnjährigen Pubertierenden und sein Dasein als Star-Moderator einer morgendlichen Radiosendung in den Öffentlich-Rechtlichen Sendern Revue passieren lässt, sondern es in verschiedenen Begegnungen privater wie beruflicher Natur mit Vertretern der politischen Klasse zu tun bekommt. Darüber hinaus erfährt er aus verschiedenen Quellen – darunter nicht nur der Abgeordneten einer Regierungspartei, sondern auch aus dem Munde seines Vorgesetzten – dass es schlecht um seinen Job steht. Zu häufig ist Siebenstädter seinen Gästen dumm gekommen, vor allem aber gibt er zu vielen Menschen Sendezeit, die in schweren Zeiten der Pandemie die Anweisungen der Regierung und die Verlautbarungen der regierungsergebenen Experten in Frage stellen. Denn dieser Roman spielt mitten in der heftigsten Corona-Phase.
Dieser Fakt ist wichtig bei der Beurteilung und mehr noch der Einordnung dieses Texts. Denn der Roman spielt überdeutlich nicht nur auf die jüngste Vergangenheit, sondern vor allem auf jene an, die in jenen Tagen in Machtvollen Positionen saßen: Karl Lauterbach, damals ohne Amt, aber gefühlt dauerpräsent in nahezu allen Talkshows, die das Fernsehen zu bieten hat, manchmal sogar in zweien gleichzeitig; Jens Spahn, Gesundheitsminister, der sein Amt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu allerlei Nebenverdiensten genutzt hat; Experten wie Christian Drosten, der als Chef-Virologe vom Dienst die Politik mitbestimmen konnte und dabei nicht immer trittsicher war, was seine Anordnungen betraf. Und in Nebenrollen treten, kaum verhohlen, Christian Lindner, Wolfgang Kubicki und Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf.
Peters´ Text ist also sehr, sehr nah an der (politischen) Wirklichkeit nicht nur jener Jahre, sondern des Zeitraums der späten (letzten) Großen Koalition und darüber hinaus. Und so kommen die Gedanken, mit denen Kurt Siebenstädter sich beschäftigt, die ihn plagen, die ihn bewegen und zugleich ermüden, dem geneigten Publikum nicht ganz fremd vor. Im Gegenteil: Leser*innen dürften bei so manchem Gedankengang, der hier präsentiert wird, nicht eigene Ideen und Vorstellungen wiederfinden, sondern die gesammelten Ideen, die damals in Feuilletons, in Leitartikeln und auf Meinungsseiten verbreitet wurden. Und das betrifft keineswegs nur die Pandemie, weit gefehlt. Da geht es um Migration und Energiekosten, um die Wirtschaft und den Meinungskorridor.
Selbst der liberalste, der linkste oder aufgeklärteste Zeitgenosse dürfte in den vergangenen Jahren ob der allgemeinen Entwicklungen ins Grübeln gekommen sein, so zum Beispiel, ob da nicht doch etwas schief gelaufen ist seit 2015, als mit der unkontrollierten Immigration Hunderttausender Schutzsuchender die AfD immer stärker wurde, ihre menschenverachtende Hetze immer ungebremster unter die Menschen bringen durfte und mittlerweile schon als mehr oder weniger satisfaktionsfähig betrachtet wird. Dass den Rechten eher keine Zweifel am eigenen Denken kommen, liegt in der Natur der Sache. Wer wenig bis keine Argumente braucht, um die eigene Meinung zur unumstößlichen Wahrheit zu deklarieren, wird sich hüten, das auch noch zu hinterfragen. Der grüblerische Zweifel – und der weist Kurt Siebenstädter dann eben auch als zumindest ehemaligen Angehörigen dieses politischen Spektrums aus – ist zumeist der Linken zu eigen und oft genug dafür verantwortlich gewesen, dass sie nicht mit einer Stimme sprach, geschweige denn gemeinsam handelte.
Siebenstädter ist aber auch kein Renegat. Er gibt sich wie gesagt als dezidierter Zweifler aus, als Skeptiker, was zwar durchaus auch ein Kennzeichen konservativer Haltung sein kann, aber auch typisch und prägend für die aufgeklärte Bürgerlichkeit steht. Als Journalist, als der er sich versteht, sieht er seine Aufgabe vor allem darin, jeden, der Macht innehat oder anstrebt, zu befragen, damit natürlich auch in Frage zu stellen und in Bedrängnis zu bringen. Also im Kern das zu tun, was immer als edle und höchste Aufgabe der Vierten Gewalt gegolten hat. Doch geraten einem Menschen wie Siebenstädter die Kategorien zusehends durcheinander, wenn er für genau die Haltung, die ihn nahezu dreißig Jahre lang getragen und zu einem weithin bekannten Vertreter eben dieser Vierten Gewalt gemacht hat, nun selbst in Frage gestellt wird. Mehr noch: Seine Haltung gilt auf einmal als querulatorisch, als fragwürdig, möglicherweise gar als rechts. Und mit dem Druck von außen, den Siebenstädter zurecht oder unrecht spürt, steigt zugleich der Druck von innen. Denn immer stärker wächst in ihm der Zweifel, ob diese seine Haltung wirklich von der Überzeugung geprägt ist, keine Überzeugungen, keine eigene Haltung oder Meinung zu haben, bzw. sie niemals zu zeigen, sondern grundsätzlich alles anzuzweifeln – oder ob dies eben doch nur eine möglichst bequeme Ausrede ist, sich aus allem tatsächlich Schwierigem, Anspruchsvollem, Differenziertem herauszuhalten.
Das sind an sich hoch interessante und vor allem drängende Fragen. Nur gelingt es Peters auf die Gesamtlänge eines Texts von 250 Seiten kaum, daraus wirklich interessante Gedanken oder Thesen oder neue Einsichten zu generieren. Das, was sein Protagonist da so vor sich hindenkt, kommt dem Publikum eben doch allzu bekannt vor. Gleich, ob es die politischen oder die kulturellen Fragen sind, die hier aufgeworfen werden – „Migrationskrise“, sich auflösende Rechts-links-Schemata, der sich angeblich verengende Meinungskorridor etc. – oder aber Siebenstädters private Belange – zerbrechende Ehe, mangelnde Kommunikation mit der Tochter, beruflicher Ausblick und, ganz wesentlich in diesem Roman, mögliche Affären und der eigene Wert auf dem Markt für eben jene – die Argumente, die er mit sich und gelegentlich im Gespräch mit anderen austauscht, die teils verfangen und oftmals verworfen werden, sie alle sind aus etlichen Lifestyle-Artikeln, sind aus den bereits erwähnten Kommentaren und Leitartikeln, sind aus den „weichen“ Ressorts ehemals harter politischer Magazine und ähnlicher Publikationen, sind aus Talkshows und allerlei Sendungen zum Thema hinlänglich bekannt.
Das zum einen. Zum andern ist die geschilderte Zeit nicht lang genug her, als dass die Leser*innen sich sagen könnten: Ach ja, richtig, so war das damals. Nein, so ziemlich jeder, der die Pandemie-Zeiten bewusst miterlebt hat, erinnert sich nur allzu gut (und allzu schrecklich) an die allabendlichen Alarmstimmungszeichen, an die Talkshows und den Frust, den man schob, wenn mal wieder R-Werte und andere Statistiken erklärt wurden. Man erinnert sich an die Thesen ebenso, wie an Mahnungen, an die Vorschriften und daran, wie ein jeder irgendwann begann, sie hier oder da zu umgehen, nicht mehr ganz genau zu nehmen und dann voller schlechtem Gewissen einer Journalistin zuzuhören, die bei Markus Lanz mit tränenerstickter Stimme davon berichtete, wie sie aus Unachtsamkeit bei einer Familienfeier all ihre Verwandten angesteckt habe. Ma erinnert sich vor allem daran, wie das Für und Wider manchmal Freundschaften, manchmal sogar Familien entzweite.
Peters gibt all das – soweit es im Roman eine Rolle spielt – einfach wieder, er verfremdet es nicht wirklich, ironisiert, dramatisiert es aber auch nicht. Zumindest nicht wesentlich. Ebenso geht es mit all den Beschwerden über ein Land, in dem angeblich keine Meinungsfreiheit herrscht oder Menschen, die dezidiert anderer Meinung sind, nicht genug zu Gehör kommen etc. Siebenstädter pflegt dann – wie zur Bestätigung all der bösen Korridore und Einschränkungen – eine Bekanntschaft mit einem Fernsehsatiriker, der zwar eine gut laufende Show im Ersten Programm hat, dennoch aber um seine Reputation und seine Pfründe fürchtet. Ein Schelm, wer dabei an Dieter Nuhr denkt.
So mäandert dieser Roman in manchmal sehr gestreckten Aufzählungen alltäglicher Begebenheiten sowie Adjektive und Adverbien aneinanderreihenden Sätzen durch anderthalb Tage im Leben des Kurt Siebenstädter und man hat letztlich doch den Eindruck, einfach einem Mittfünfziger mit schwerer Midlife-Crisis dabei zuzuhören, wie er im eigenen Saft schmort, nicht wirklich vorankommt, aber auch keinen Schritt zurückweichen will. Witzig, wie es hier und da in den Besprechungen zu lesen war, ist das nur bedingt, da Peters keine wirkliche Groteske bietet, sondern, abgesehen von einigen weitestgehend interpunktionsfreien kursiv gedruckten Passagen, die wohl die unterbewusste Wahrnehmung Siebenstädters vermitteln sollen, eine ans Monotone grenzende Wiedergabe der eben erst erlebten Wirklichkeit. Es gleicht einer ins Fiktionale überhöhten – oder fiktional aufgepeppten – Wiedergabe des Tagebuchs aus dunklen Zeiten, das der Autor geführt haben mag.
Und da, wer sich erinnert, weiß, dass Koeppens Roman – der übrigens der zweite Teil seiner „Trilogie des Scheiterns“ war, während Peters´ Roman der Auftakt einer Trilogie ist – ausgesprochen tragisch endet, werden die geneigten Leser*innen sich nicht wundern, dass Peters Buch auf den letzten Seiten ebenfalls die Wende zum Äußersten finden muss. Ob diese Wende gelungen ist, sei jede*r Rezipient*in zu beurteilen selbst überlassen. So wirklich glauben mag man sie nicht, hat man dazu doch zu lange den Zynismen und auch der Gelichgültigkeit beigewohnt, die diesen Menschen ausgemacht haben. So bleibt dann nach der Lektüre der Eindruck, einem Werk beigewohnt zu haben, welches viele Möglichkeiten geboten hätte und doch allzu viele davon einfach links liegen gelassen hat. Was schade ist, den eigentlich braucht es genau das – eine literarische Begleitung der deutschen Wirklichkeit in Zeiten wie diesen. Nur sollte die kohärenter ausfallen, als Christoph Peters´ Roman.