DER UNSICHTBARE FREUND/IMAGINARY FRIEND

900 Seiten gestohlene Lebenszeit erfordern eine angemessene Replik. Bitteschön...

ACHTUNG! Die folgende Rezension spart nicht mit Spoilern, gibt sich keine Mühe, irgendetwas zu verbergen und nimmt kein Blatt vor den Mund. Wer ernsthaftes Interesse an dem besprochenen Werk hat, sollte hier abbrechen, denn was folgt ist eine persönliche Rache für 900 Seiten verschwendete Lebenszeit.

Vielleicht sollte man die Sache von hinten angehen. Also ganz hinten: Stephen Chbosky huldigt seinem Namensvetter, dem renommierten Mr. King, in seiner Danksagung derart, dass es schon an Schleimerei grenzt. Alles habe der inspiriert, einfach alles. Oder zumindest das, was nicht seine Frau und die andern gefühlt fünfzig Namen, die man nicht kennt, inspiriert haben. Das Buch, Roman will man es kaum nennen, wird denn auch gleich so angekündigt: Das erinnere an die epischen Romane des Großmeisters Stephen King. Der arme Kerl, Wenn Chbosky ab nun die Referenz für Bücher von Stephen King sein sollte, dann sollte King darüber nachdenken, sein Handwerk niederzulegen und den Rest seiner Tage Rosen zu züchten oder sonst was Nützliches oder Nutzloses zu tun.

Chbosky haut seinen Lesern auf wirklich über 900 Seiten eine geballte Ladung religiös verbrämter Fantasy- und, wenn man denn so will, Horror um die Ohren, dass selbige nur so schlackern. Wobei die Frage ist, worin der eigentliche Horror besteht? Denn dieses sich in einer endlosen Wiederholungsschleife befindliche Buch, das scheinbar nie zu einem Ende kommt, in dem immer noch irgendeine Schrecklichkeit aus der Kulisse gehopst kommt, wo ein und dieselben Figuren gefühlt 1000-mal von denselben Schreckensgestalten an- und abgenagt, zerfetzt und verstümmelt werden, ohne je zu sterben, wodurch aber nie wirklich Dramatisches geschieht, was an die Tom & Jerry-Cartoons der 50er und 60er Jahre erinnert (worauf noch zurückzukommen sein wird), dieses Buch ist in seinem schierem Dasein schon der blanke Horror. Wer das liest, begibt sich auf eine Art Möbiusband der unendlichen Fürchterlichkeit. Da muss man gar nicht so genau lesen, eigentlich reicht es, die ersten Absätze eines jeden neuen, meist kurzen Kapitels zu lesen, um sich in der nächsten Schleife zu wähnen. Und ob man sich nun gerade in der realen oder der Fantasiewelt befindet, ob die Anschlüsse stimmen oder man vielleicht Raum- und Zeitsprünge nachvollziehen muss – all das spielt im Grunde überhaupt keine Rolle, interessiert weder den Autor noch den Leser (ab ca. Seite 290) und so gibt es im Grunde auch keinen Plot, keine Entwicklung, kein Fortkommen der Handlung. Alles und alle sind sich hier immer gleich. So gesehen darf man vielleicht dankbar sein, dass der Schinken nur 900 Seiten hat, denn es hätten genauso gut 1900 oder 2900 Seiten sein können, es hätte kaum einen Unterschied gemacht.

Das Ganze, man mag es kaum glauben, beginnt sogar noch ganz interessant, wenn man bereit ist, über die ersten zwanzig Klischees, die einem schon in den ersten zwanzig Zeilen geboten werden, hinwegzusehen. Da kommt also eine alleinerziehende Mutter, natürlich arm, natürlich auf der Flucht vor einem schlägernden, alkoholisierten Mann, in eine Kleinstadt, ihren siebenjährigen Jungen im Schlepptau. Natürlich ist Mutti bereit alles, aber auch wirklich alles zu tun, damit der Sohnemann es einmal besser hat. Im Notfall werden eben auch städtische Unterlagen gefälscht, damit er auf die „gute“ Schule im entsprechenden Stadtteil gehen darf. Na ja, da wir es aber mit einem Genrewerk und keinem Sozialdrama zu tun haben, verschwindet der Junior für sechs Tage im städtischen Wald und als er aus dem Gehölz wieder hervorgekrochen kommt, ist aus dem Legastheniker und Zahlenverdreher ein kleines Genie geworden, das nicht nur endlich 2 und 2 zusammenzählen kann, sondern die Werke der Weltliteratur in Windeseile liest. Herrlich!, denkt sich Muttern – bis ihr langsam auffällt, dass mit den guten Schulnoten noch ganz andere Veränderungen bei dem Jungen vor sich gehen…

Irgendwann – man bekommt es gar nicht so recht mit zwischen lauter Nebenhandlungen um katholische Schulmädchen in Not und einen Sheriff, der von seiner – natürlich zum Schluchzen traurigen – Vergangenheit eingeholt wird, verbitterten alten Soldaten und ebenso verbitterten Bibliothekarinnen – merken dann nicht nur der junge Christopher und seine Mutter, dass da irgendetwas nicht so mit rechten Dingen zugeht, sondern auch Christophers Freunde. Aber da sind diese schon infiziert mit was auch immer es ist. Jedenfalls hat es mit dem Wald zu tun und einem Baumhaus, das zu bauen Christopher von einem „netten Mann“ beauftragt wurde. Und ab nun – so etwa Seite 275 – reiht sich ein Albtraumszenario an das nächste. Da gibt es eine Fantasiewelt, durch eine dünne Membran von der unsrigen getrennt, in welcher die „zischende Lady“ den „netten Mann“ seit Jahrhunderten – ach was, Jahrtausenden; genauer gesagt seit 2000 Jahren (na, klingelts?) – foltert, wo die Hirsche (ja, gemeint sind wohl tatsächlich diese Tiere, die mit Geweihen auf dem Kopf durch unsere Wälder streifen) und die „Briefkastenmenschen“ Wache stehen und überhaupt alles sehr anders, sehr befremdlich und, wie Christopher und seine Freunde nach und nach rausfinden, auch sehr bedrohlich ist. Oh Schauder, oh Schrecken.

Bis hier hin hat man tatsächlich mindestens zehn King-Romane, ein paar Fantasy-Knüller à la Lovecraft oder auch Tolkien und mindestens vierzehn mittelprächtige bis schlechte Horrorstreifen der vergangenen dreißig Jahre identifiziert. Chbosky bedient sich recht gnadenlos und oft auch recht unverblümt bei allen und allem, was nicht bei drei auf den Bäumen – oder, um in den Bildern seines Romans zu bleiben, im Baumhaus – ist und mixt es mit einer dann immer ärgerlicheren christlichen Botschaft. Und nach und nach schält sich da sein Programm heraus: Glauben! Wir müssen wieder glauben!! An den Heiland, an die unbefleckte Empfängnis, an Jesus und den lieben Gott, der sich hier in Gestalt des siebenjährigen Christopher manifestiert. Ist es denn die Möglichkeit?!

Auf Seite 700 (in etwa – niemand wird verlangen, dass der Rezensent sich nochmal die Mühe macht und dieses Ding, das sich Roman nennt, aufschlägt, um genaue Seitenzahlen zu eruieren) hat dieser Siebenjährige es dann endlich geschafft, ganz allein, unter dem Verlust allen Blutes dieser Welt, das erstaunlicherweise nur aus seinem Körper fließt (klingt unlogisch? Ha! Da sollten Sie, lieber Leser, mal dem Buch folgen, Sie würden sich wundern; hier wird das alles noch in eine halbwegs kohärente Reihenfolge gebettet) das Böse in Gestalt der „zischenden Lady“ zurückzudrängen und den „netten Mann“ sowie den kleinen David, eine Art Vorgänger in der Rolle des Weltenretters und seit bereits 50 Jahren in der Anderwelt gefangen, zu retten, man denkt sich als Leser: Puh, geschafft (und wundert sich, weshalb man dennoch einen dicken Packen noch ungelesenen Papiers in der Hand hält), da entpuppt sich alles als falsch! Der Fachmann staunt und der Laie wundert sich. Aber klar, fällt es einem dann wie Schuppen von den Augen: Der Teufel, der alte Schlingel, der nutzt ja oft die Täuschung. Und so geht ab Seite 701 alles von vorne los, nur eben umgedreht. Oder so ähnlich. Jetzt muss Christopher dem zuvor „netten Mann“ entkommen und der „zischenden Lady“ helfen. Es ist ein Graus.

Am schlimmsten jedoch ist, dass man das Ganze nie, nicht eine Sekunde lang, ernst nimmt. Selbst in Kings rüdesten Fantasien hatte man sehr realistische Bilder vor Augen. Dadurch wurden selbst jene Bilder, die man kaum mehr glauben wollte, furchteinflößend. Liest man dieses ganze Brimborium bei Chbosky, hat man ununterbrochen einen Clip der Gorrilaz vor Augen. Kunstvoll gearbeitet, durchaus verstörend, immer jedoch eindeutig als Cartoon zu identifizieren. Und damit kaum furchteinflößend, zumindest nicht als geschriebene Sprache. Oben wurden bereits die physischen Zerstörungsorgien in Tex Averys genialen Tom & Jerry-Cartoons erwähnt, über die man auch und gerade lacht, weil sie nie ernsthafte Folgen zeitigen, egal, was Katz und Maus sich gegenseitig antun. So ähnlich ist es hier. Egal, was Chbosky sich ausdenkt, egal, wie „grässlich“ oder „furchteinflößend“ das sein soll, nicht einen Moment gruselt der Leser sich. Vielmehr kommt in diesem kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse und um die Wiedergeburt des Heilands (drunter geht es hier nicht) lediglich kosmische Langeweile auf. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass Chbosky seine Story unfassbar ernst nimmt. Die letzte derart ernst gemeinte Story um Gut und Böse und den großen Endkampf, die man lesen konnte, ohne in schallendes Gelächter auszubrechen, war aber wahrscheinlich Tolkiens THE LORD OF THE RINGS. Und selbst dieses Kultbuch, erschienen in den mittleren 50er Jahren des 20. Jahrhunderts und somit immerhin noch vor einem durchaus erinnerbaren Hintergrund eines sehr realen Weltenringens um die Vorherrschaft von Gut und Böse in der modernen Welt, wirkte immer ein wenig wie ein Anachronismus.

Dieses Buch jedoch – ach ja, stimmt, es wurde noch gar nicht vorgestellt, DER UNSICHTBARE FREUND (IMAGINARY FRIEND; 2019), was daran liegen mag, dass es so ein unwesentlicher Beitrag zu was auch immer ist – ist bestenfalls eine Zumutung. Doch in Wirklichkeit ist es einfach nur ein unendliches Ärgernis. Chbosky hat vor ca. zwanzig Jahren einen Debutroman vorgelegt und damit reüssiert. Seitdem ist er erfolgreicher Drehbuchautor und Produzent. Wäre er doch nur dabei geblieben anstatt in Gefilden zu wildern, von denen er schlichtweg keine Ahnung hat. Horror – und selbst gelungene Fantasy – braucht mehr als seitenlange Aneinanderreihungen von beschriebenen Bildern eines Hieronymus Bosch. Es braucht eine Story, es braucht glaubwürdige Figuren, keine Abziehbilder, es braucht Entwicklung in eben diesen Figuren und dem Plot, es braucht sogar eine Spur Humor. Lauter Dinge, von denen Chbosky nie gehört zu haben scheint.

Und bevor es nun losgeht, man hört schon die ersten Stimmen in der Kulisse: Nein, dieses Buch ist keine gelungene Allegorie auf die Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft. Es ist auch keine leise Kritik an einer Gesellschaft, die sich aufgeklärt gibt und immer intoleranter und engstirniger wird. Dafür ist es viel zu uneindeutig und inkohärent, viel zu lang, viel zu überfrachtet und viel zu…ach, keine Ahnung. Dieses Buch bringt das Kunststück zuwege, zugleich zu viel und zu wenig zu sein. Auf jeden Fall aber ist es geklaute Zeit. Und die bekommt man nie mehr wieder.

Bleibt zum Schluss nur eine Frage: Wieso liest man das und wieso bleibt man bis zum Ende dabei? Tja. Die Antwort ist schwer zu finden und der Rezensent arbeitet noch daran. Vielleicht mit Erfolg…

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