DER WILDE/EL SALVAJE
Ein Epos aus Mexiko
Dia de Muertos – Der Tag der Toten – ist in Mexiko einer der höchsten Feiertage. Man gedenkt in den Tagen um Allerheiligen und Allerseelen der Verstorbenen, doch anders, als es in Europa, speziell in Deutschland, Usus ist, wird dieser Feiertag in den meisten Regionen des Landes fröhlich, mit Musik, Umzügen und durchaus auch feucht-fröhlich begangen. Es mag auch an diesem Tag liegen, daß eines der Klischees über Mexiko und die mexikanische Gesellschaft behauptet, es handele sich um eine extrem brutalisierte Gesellschaft, deren Klammern der Katholizismus, der Machismo, die Gewalt und Drogen seien. Der Junge Juan Guillermo hat allerdings genug Tote zu beklagen, ist von Gewalt, die auch von der katholischen Kirche ausgeübt wird, und Drogen umgeben und neigt selbst zu juvenilem Machismo, um diese Klischees zu bestätigen. Anders, als es Dia de Muertos nahelegt, gelingt es diesem jungen Mann nicht, die Toten – oder, besser, den Tod – in sein Leben, in den Alltag zu integrieren und zu akzeptieren. Die Tode, die sein Leben aus der Bahn geworfen haben, bestimmen ihn und seinen Alltag, bestimmen sein Denken und Sehnen.
Guillermo Arriaga erzählt in DER WILDE (EL SALVAJE; erschienen 2016/DT. 2018) von diesem Juan Guillermo, der in kurzer Zeit seinen Bruder, die Großmutter und seine Eltern verliert, erzählt von dessen Leben, von einem Menschen, der schon im Mutterleib seinen Zwillingsbruder verloren hatte und fast durch die neben ihm im Fruchtwasser treibende Leiche selbst sein Leben eingebüßt hätte. Durch unglückliche, nahezu schicksalhafte Verkettungen und Verstrickungen ist er am Tode des Bruders nicht unschuldig, dessen gewaltsamer Tod löst indirekt den der Großmutter und der Eltern aus. So sinnt Juan auf Rache an denen, die er für all das verantwortlich macht – ultrakonservative Jugendliche, die sich einem extrem reaktionären Katholizismus verschrieben haben und glauben, mit allen Mitteln das Viertel, in dem sie leben, „säubern“ zu dürfen. Säubern von „Subjekten“ wie Carlos, Juans Bruder, der mit psychedelischen Drogen handelt und es mit den Werten der Kirche nicht sonderlich ernst nimmt. Aber auch „säubern“ von jüdischen Mitbewohnern, die man als „Christusmörder“ ausgemacht zu haben glaubt. Doch langsam sickern Liebe und Freundschaft in Juans Leben und in der Gestalt des Wolfes Colmillo, den ein Nachbar im Hof in Gefangenschaft hält und schließlich einschläfern lassen will, erwächst Juan eine Verantwortung, ein Symbol des Lebens und Überlebens. Er nimmt sich des Tieres an und bringt es schließlich gemeinsam mit seinem Freund Avilés und seiner Freundin Chelo durch den gesamten nordamerikanischen Kontinent zurück in seine angestammte Heimat im Norden Kanadas, wo er schließlich zur Ruhe kommen und mit freiem Blick, die Toten hinter sich lassend, in die Zukunft schauen kann.
Arriaga, bisher vor allem durch die Drehbücher der frühen Filme von Alejandro González Iñárritu (AMORES PERROS/2000; 21 GRAMS/2003; BABEL/2006) auch in Europa bekannt geworden, nutzt die klassische Romanform, das Epos, um die Geschichte seines Protagonisten als eine Parabel auf die Geschichte Mexikos und als Ausdruck der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die ihre inneren Widersprüche, ihren Selbsthass und die ihr zugrunde liegende Gewalt überwinden kann. Er erzählt auf zunächst verschlungenen Wegen, springend zwischen Zeitebenen und mit Einschüben mythologischer Natur, gespickt mit Sagen von Naturvölkern, mit Sprichwörtern, Zitaten der Weltliteratur und der Legende eines Inuit, der einen Wolf jagt, in dem er „sein“ Tierwesen erblickt, eine Geschichte, die den Leser langsam aber zusehends packt, bis man gänzlich eingetaucht und gefesselt ist. Und mit zunehmender Handlung laufen all diese zunächst eher fragmentarisch anmutenden Einzelteile zu einem Ganzen zusammen, mündet der Erzählfluß in eine klare Chronologie der Ereignisse, kommen die Geschichten von Juan Guillermo und dem Wolf, der durch die eisige Einöde Kanadas gejagt wird, zusammen, ergibt das alles Sinn. Und bei aller sozialer Genauigkeit in der Beobachtung, bei aller kritischen Haltung zur mexikanischen Gesellschaft, den manchmal ätzenden Kommentaren vor allem auf einen Katholizismus, der sich als staatstragend geriert und vor allem korrupt ist – moralisch, aber auch finanziell korrupt – gelingt Arriaga doch eine versöhnliche Geschichte.
So hat man es hier, trotz der zunächst postmodern anmutenden Fragmentierung, einer fast an ein Pastiche gemahnenden Form, trotz des Patchworks aus erzählenden und kommentierenden Passagen (wobei letztere weitaus kürzer sind als die erzählerischen), mit einem klassischen Roman zu tun. Es ist in gewisser Weise eine Coming-of-Age-Geschichte, muß dieser Juan Guillermo doch schmerzhaft lernen, seine Gefühle zu beherrschen, seinen Machismo zu bändigen, seine Rachegelüste hinter sich zu lassen und, anstatt nur den Blick auf seine Rache an denen, die seinen Bruder und damit indirekt seine Familie auf dem Gewissen haben, zu richten, die eigene Beteiligung an den Abläufen, die zu der Tragödie geführt haben, anzuerkennen. Angesiedelt in einem Mexiko, genauer: In Mexiko-Stadt, der späten 60er und frühen 70er Jahre, umgeht diese Geschichte allerdings eine Gegenwart, von der ein aufmerksamer Leser weiß, daß Mexiko längst zu einem „failed state“ geworden ist, daß der Staat nur ein Spieler ist, der mit rechtlichen Mitteln gegen Drogen-Kartelle und deren unglaubliche, meist nicht einmal rational erscheinende Gewalt, vorzugehen sucht. Und dabei meist scheitert.
So kann Arriaga auch von einem Mexiko erzählen, dem noch Möglichkeiten offenstanden, ein Mexiko, das neben fürchterlicher Armut auch eine Mittelschicht hervorbrachte, der sich soziale Aufstiegschancen und soziale Sicherheit boten. Es gehört zu Arriagas geschickter Konstruktion, anhand dieser Familiengeschichte rund um den jungen Juan Guillermo auch Mexikos Geschichte der vergangenen dreißig Jahre zu antizipieren. Es gehört eben auch zum Erwachsenwerden dieses jungen Mannes, daß er begreifen muß, daß sein Bruder mit seinen Geschäften – Drogengeschäften – bei aller Beschwörung der Hippieideale von „Bewußtseinserweiterung“ und „innerer Befreiung“ eben auch bereit gewesen ist, seiner kriminellen Energie nachzugeben. Zudem ist auch dieser Bruder, wie Juan selbst, eben nicht frei ist von jenen konservativen bis reaktionären Ansichten, die diese Gesellschaft so widersprüchlich und innerlich zerrissen sein lassen. Sei es Homophobie, sei es der Glaube, eine Frau habe immer dienend und monogam zu sein, sei es das Konzept der Blutrache – Juan stößt immer wieder an die Grenzen seiner eigenen Konventionen und es gelingt ihm erst langsam, nach und nach, diese Konventionen zu hinterfragen und sich über sie hinweg zu setzen. Dazu gehört eben auch, die eigenen Toten angemessen zu betrauern, sie dann aber auch gehen zu lassen und das eigene (Über)Leben zu gestalten – mit den Lebenden.
Das ist durchaus große Literatur, Arriaga erhebt eine kräftige und mächtige Stimme Lateinamerikas. Selbstbewußt, literarisch versiert, experimentierfreudig, kenntnisreich und sich seiner Vorbilder – sei es William Faulkner, seien es Jorge Luis Borges oder Carlos Fuentes, seien es all die großen Frauen und Männer der lateinamerikanischen Literatur, aber auch die europäischen Philosophen und die namenlosen Erzähler afrikanischer und asiatischer Mythen und Legenden – bewußt. Und ohne Scheu, sie zu zitieren, es aber auch mit ihnen aufzunehmen, sie zu hinterfragen und ihren Nutzen für das Leben und dieses Land auf den Prüfstand zu stellen. Und dabei gelingt es ihm, über die Lange Strecke von weit über 700 Seiten, zu fesseln und – ja, auch das – zu unterhalten.