DIE MÖGLICHKEIT VON GLÜCK

Anne Rabe erzählt eine ost-deutsche Familiengeschichte in gesamtdeutscher Perspektive

DIE MÖGLICHKEIT VON GLÜCK (2023) sieht Stine, die Hauptprotagonistin und Ich-Erzählerin in Anne Rabes gleichnamigen Roman, in den Gesichtern der Menschen auf den Fotos vom 9. November 1989. Sie stehen auf der Mauer oder durchqueren einen der geöffneten Grenzübergänge und ihre Augen, ihre Gesichter – sie strahlen. Die Ernüchterung, die Erkenntnis, was dieser Moment wirklich zu bedeuten hat, die kam naturgemäß später. Und war für die allermeisten ernüchternd.

Anne Rabe spürt in ihrem teils autobiographischen, teils fiktionalen Roman der Geschichte einer Familie nach, die eher nicht zu jenen gehörte, die gegen die Diktatur auf die Straße ging, sondern sich gut im System eingerichtet hatte, gar als systemstützend gelten muss. Vor allem Stines Mutter, die bei der Jugendbehörde arbeitete und wahrscheinlich für das Schicksal etlicher Kinder und Jugendlicher vor und nach dem Mauerfall verantwortlich zeichnete, muss wohl so eingeschätzt werden. Eine Mutter, zu der Stine den Kontakt schon lange abgebrochen hat und die, wie wir im Laufe des Romans – der zugleich Stines Erinnerungsarbeit nachvollzieht – erfahren, selbst zu sadistischen Gewaltausbrüchen gegen die eigenen Kinder – neben Stine ihr Bruder Tim – neigte.

Rabes Roman – wenn man diesen Text denn wirklich als solchen einordnen mag; der Klappentext tut es, dennoch bleiben Zweifel – ist genau das: Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung einer Vergangenheit, die ausgeblendet, die wie verschüttet erscheint. Und verdrängt wurde Vieles, auch schlimmste selbst erlittene Demütigungen und Verletzungen. Im Laufe dieser 376 Textseiten werden die Erinnerungen, wird das Verdrängte auf Umwegen über die Geschichte der DDR, des Großvaters Karriere in der DDR und seiner Zeit in der Wehrmacht, schließlich auch in der Selbstbefragung Stines nach und nach bloßgelegt, aufgedeckt und ans Licht gezerrt. Für die Erzählerin äußerst schmerzvoll ans Licht gezerrt. Und doch bleiben am Ende dieses Romans viele Fragen offen. Gewollt die meisten, manche wohl auch ungewollt.

Anne Rabe wurde für ihren Roman hoch gelobt, sie wurde aber auch angefeindet; vor allem, so lautete ein häufig erhobener Vorwurf, könne sie das Leben in der DDR nicht beurteilen, sie sei – Jahrgang 1986 – schlicht zu jung. Das trifft natürlich zu, nimmt man den Vorwurf aber ernst, müsste jedweder historische Roman, der über die Lebensspanne des Autors oder der Autorin hinausweist entweder als Schmonzes betrachtet werden, oder er wäre unzulässig. Das gälte dann aber auch für Heinrich Manns Romane über Henri Quatre. Rabe nimmt Angelesenes und selbst Erlebtes und vor allem selbst Empfundenes und mischt es auf meist elegante Art, um daraus einen Text zu generieren, dem es gelingt, literarische Momente mit durchaus theoretischen, historischen Betrachtungen so zu mischen, dass ein ganz eigenes aber wahrhaftiges Bild eines Lebens in, mit und nach der Diktatur entsteht.

Was dabei auffällt – und an Romane wie Domenico Müllensiefens AUS UNSEREN FEUERN (2022) erinnert – ist der Umstand, dass hier von Begebenheiten erzählt wird, die so, wie sie beschrieben werden, zunächst gar nicht DDR-spezifisch sind, sondern vielmehr aus einer Jugend erzählen, die auch im Westen möglich gewesen wäre. Gewalt in den Familien gab es dort ebenso. Die hier geschilderte Gewalt ist an manchen Stellen des Texts allerdings nur schwer zu ertragen. Doch – und das unterscheidet Rabes Werk dann eben auch wieder von einem Buch wie Müllensiefens – zeigt DIE MÖGLICHKEIT VON GLÜCK eben Zusammenhänge auf, die durchaus spezifisch sind für das Leben in der DDR und die Besonderheiten der Nachwendezeit. Dazu gehört eine ebenso treffende wie emotionale Analyse einer Gesellschaft, in der Gewalt nicht nur gegenwärtig war, sondern in gewisser Weise auch sanktioniert, ja, alltäglich.

Rabes Rückschluss muss nicht stimmen, wenn sie all jene Gewalttaten aufzählt, die nach 1990 die Republik, die Öffentlichkeit dieser Republik, erschüttert haben – Angriffe auf Ausländer und Asylsuchende, Kindstötungen, innerfamiliäre Zwistigkeiten, die zu Mord und Totschlag geführt haben – aber auffällig sind die Korrelationen eben doch. Warum, so stellt sie sich und den Lesenden die Frage nach dieser Gewalt, warum geschahen diese Dinge auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nahezu doppelt so häufig wie auf dem Gebiet der alten BRD? Die Erschütterung, die Stine/Anne Rabe empfindet, diese Erschütterung empfindet auch der Leser, erinnert man sich doch recht deutlich an etliche dieser Begebenheiten.

Zu kritisieren bleibt der Aufbau des Buchs. Warum es mittlerweile durchgängig als besonders zielführend betrachtet wird, sein Publikum mit zurückgehaltenen Informationen auf die Folter zu spannen, bleibt ein Geheimnis der Autorin und vieler ihrer Kolleginnen. Das ist Krimi-Konstruktion. Wir erfahren früh im Roman, dass Stine den Kontakt zu den Eltern abgebrochen hat, sie bei den Mitschülern nicht sonderlich beliebt war, mit ihrer Freundin Ada gebrochen hatte und zu dieser lange kein Kontakt bestand. Es gibt aber lange keine Erklärungen dafür (und manchmal bis zum Ende des Buchs nicht). Es gibt etliche weitere Andeutungen, die wir alle im Hinterkopf behalten müssen, bzw. im Hinterkopf behalten und auf deren Auflösung wir warten, was Aufmerksamkeit vom Text abzieht und oftmals überflüssig ist, da die Auflösungen marginal sind. Gerade die Brüche mit ihr nah stehenden Menschen müsste sie bereits erklären können, wenn sie sie erwähnt. Das Zurückhalten von Informationen wirkt da manchmal etwas aufgesetzt und allzu gewollt.

Allerdings gibt es einen Aspekt, den Rabe verdeutlicht, der auch Westdeutschen bekannt vorkommen dürfte: Das Schweigen. Hier wird geschwiegen über die Geschichte (sowohl die der Nazis als auch die der DDR) ebenso, wie die eigene, familiäre, ganz persönliche Geschichte beschwiegen, wenn nicht gar ver-schwiegen wird. Das ist schon eine Kunst, wie die Autorin Vergleichbares und Ähnliches herausarbeitet und dann doch immer wieder die Spezifika dieser ostdeutschen Geschichte herausstellt und dem gesamtdeutschen Leser begreiflich macht. Am besten wird dies am Beispiel von Opa Paul begreiflich. Dessen Geschichte wird es schließlich sein, die Stine umtreiben und immer weiter und immer tiefer in die Familiengeschichte und deren Geheimnisse eindringen lässt.

Dass diese „Geheimnisse“ um Opa Paul ihrerseits nicht direkt aufgelöst werden, liegt in der Logik des Buchs, denn Stine beginnt, dieses Leben zu recherchieren und wird dadurch immer wacher, was den historischen Kontext des eigenen Familienlebens betrifft. Die Aufarbeitung des Lebens von Opa Paul, der ihr nahestand, wird zum eigentlichen Movens hinter Stines Denken und Schreiben. Wie er, der als einer der Letzten aus Stalingrad ausgeflogen wurde, beschloss, das „Nie wieder!“ tatkräftig zu unterstützen und sich Stück für Stück im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat emporarbeitete und dennoch auch in diesem angeblich alle gleich behandelnden Konstrukt stecken blieb; wie er aber dennoch weiterhin an diesen Staat und seine Möglichkeiten glaubte und mitwirken wollte ihn erfolgreich zu gestalten; wie dieser Mann die Verletzungen, die ihm beigebracht wurden, und auch die Enttäuschung darüber, diesen Staat scheitern zu sehen, wegsteckte und immer noch weitermachte – das wird Stines eigentliches Thema.

Und das ist das eigentliche Thema dieses vielschichtigen und darin äußerst klugen Buchs. Eine weitere Generation macht sich auf, die allerjüngste deutsche Geschichte aufzuarbeiten, dem eigenen Dasein und seiner Geschichte, seinen Kontexten nachzugehen und diese Geschichte langsam aber stetig in ein gesamtdeutsches Bild einzufügen. Sicher, dies beschäftigt sich mit einer ostdeutschen Vergangenheit. Doch ist Anne Rabe eine Autorin, die den Großteil ihres Lebens bereits in diesem wiedervereinten Deutschland verbracht hat und dadurch eine gesamtdeutsche Perspektive einnimmt. Wenn sie bspw. beteuert, niemals ins Brandenburgische Umland von Berlin zu ziehen, da sie ihre eigenen Kinder nicht in einem Umfeld aufwachsen sehen möchte, in dem Deutschtümelei und Fremdenhass doch sehr stark im Alltag verwurzelt sind, dann ist dies eine Haltung, die nicht mehr in Ost und West zu unterscheiden ist. Es ist eine pragmatische und menschenfreundliche Haltung.

DIE MÖGLICHKEIT VON GLÜCK ist im Kanon der Werke, die sich mit der Wiedervereinigung und deren Folgen beschäftigen, einer der wichtigsten Beiträge, da es nicht nur literarisch gut funktioniert, komplex davon berichtet, wie Erinnerungsarbeit funktioniert und welche Schneisen diese ins eigene Leben, in die eigene Psyche schlagen kann, sondern eben auch langsam eine Perspektiverweiterung schafft, die es – zumindest kulturell – ermöglicht, eine Kluft zu schließen (oder zumindest etwas weniger weit klaffen zu lassen), die Angst macht, je stärker sie ins Bewusstsein tritt. Es darf nicht immer weiter in Ost und West gedacht werden, es sollte doch so langsam in einem einigen Deutschland gedacht werden, in dem jedes Bundesland, jede Stadt, jede Provinz, jede Gegend seine eigene spezifische Geschichte hat. War das nicht auch immer eine Stärke dieses Landes? Aus der Vielstaaterei, der Kleinstaaterei, dem Föderalismus, der sich daraus ergeben hat, eine vielschichtige und weitreichende geistige, kulturelle Landschaft zu erstellen, die in ihrer Unterschiedlichkeit eben besonders interessant erscheint? Eben. Ein Teil davon ist eine ostdeutsche Geschichte und es lohnt sich, diese gesamtdeutsch zu erzählen.

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