DIE PESTINSEL/PESTÖN

Marie Hermanson geht neue Wege - mit allen Vor- und Nachteilen, die diese in sich bergen

Den alltäglichen Horror in einer eigenartigen Zeit wolle sie dokumentieren – so zitiert die deutsche Wikipedia Marie Hermanson bezüglich ihres Werkes. Und man erinnert sich, daß sie einige Romane geschrieben hat, die dieses Versprechen nur allzu gut eingelöst haben. Sei es DIE SCHMETTERLINGSFRAU (1995) oder MUSCHELSTRAND (1998) oder DER MANN UNTER DER TREPPE (2005), immer gelang es Hermanson, das Unheimliche in den Alltag ihrer Protagonistinnen und Protagonisten eindringen zu lassen, ohne daß diese es wirklich zu greifen bekamen. Dann bot sie ihrem Publikum mit einem Psychothriller und einer astreinen Geistergeschichte eindeutiger am Genre orientierte Kost, was nicht jeden überzeugte. Und nun prangt auf ihrer letzten Veröffentlichung der eindeutige Hinweis „Kriminalroman“. Die Leser wissen also, was sie erwartet. Reines Genre.

Hermanson siedelt ihre Geschichte im Göteborg des Jahres 1925 an. Es fahren die ersten Automobile, aber die Staatsmacht in Gestalt der Verkehrspolizisten hat noch kein Regelwerk, wie die neuartige Mobilität zu regeln sei. Im Hafen der Stadt tuckern ebenso neuartige Motorboote herum. Die Ermittlungsarbeit der Polizei ist durch langwierige Anfragen und das Warten auf Antworten geprägt. Nur die Leichen sind genauso tot, wie es Leichen schon immer waren. In diesem speziellen Fall wird Kommissar Gunnarsson durch den Fund einer strangulierten Leiche auf die der Stadt vorgelagerten „Pestinsel“ aufmerksam, wo ein verrückter Serienmörder wohl seit geraumer Zeit als einziger Inhaftierter haust. Wie sich herausstellt, ist der Mann aber auch unter einem Pseudonym als Autor enorm erfolgreicher Kriminalromane tätig, die durch den Arzt Kronberg an Verleger und damit unters Volk gebracht werden. Mit Hilfe seiner Ex-Freundin Ellen, die sich auf der Insel unters Personal mischt, versucht Gunnarsson, Licht ins Dunkel dieses außerordentlich brutalen Falles zu bringen, der nach und nach immer weitere Kreise zieht.

Mit der Verlegung in das frühe 20. Jahrhundert umgeht Hermanson all die Fallstricke moderner Krimierzählungen, in denen natürlich Handys und Computer eine enorme Rolle spielen und also vieles verkürzen, was 1925 durchaus noch für Spannung sorgen konnte. So ist Ellen bald vom Rest der Welt abgeschnitten, nachdem die junge Frau, die sich als moderne Frau sieht – Kurzhaarschnitt, keckes Auftreten und ein eigener Beruf, in ihrem Fall der der Journalistin – dort hat anstellen lassen. Echte Angst und echte Gefahr sind die Folgen, je näher sie sich vor Ort dem Kern des Geheimnisses nähert, der die ehemalige Quarantänestation und ihren einzigen Häftling wie Gischt, Nebel und raues Meersalz umgibt. Die Verbindung mit Kommissar Gunnarsson besteht aus altmodischen Zettelchen und Briefen, die sie mit dem Postboot von der Insel zu schmuggeln hofft, nicht ahnend, daß auch der Kapitän des Postboots in die Machenschaften verwickelt ist, in die nahezu jeder, der auf der Insel lebt und arbeitet, involviert ist.

Der Fall selbst ist letztlich unspektakulär. Man hat es mit einem Schmugglerring zu tun. Die schwedische Abstinenzler-Bewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte zu einer (teils heute noch spürbaren) restriktiven Alkoholpolitik geführt, welche wiederum einen ebenso regen wie profitablen Schmuggel mit Alkoholika – ähnlich wie in den USA während der Prohibition – zur Folge hatte. Der Mörder Arnold Hoffman, der wegen einiger äußerst brutaler Auftragsmorde im Milieu auf der Insel gefangen gehalten wird, hatte schnell begriffen, wie sich aus dem eher hobbymäßigen Schmuggel der Inselbewohner ein lukratives Geschäft entwickeln ließ. Und mit seinem Wissen, seinen Kontakten und seiner Brutalität hat er im Laufe der Jahre sämtliche Bewohner der Insel, das gesamte Wachpersonal und alle im Sanitär- und Versorgungsapparat Arbeitenden unter seine Knute gebracht. Nun gilt ein brutales Herrschaftssystem, in welchem Hoffman der König ist.

Es sind Wendungen wie diese, die den Roman lesenswert machen. Weitaus lesenswerter, als er es als „einfacher“ Kriminalroman wäre, denn dafür sind Handlung, die Wendungen innerhalb der Story und auch die gelegentliche Action zu konventionell, auch zu konventionell erzählt. Stattdessen ist es die genau beobachtete Psychologie der Inselbewohner, die Hermanson mit wenigen, dafür umso genaueren Charakterisierungen skizziert, die den Leser fesselt. Was sich Ellen bis zur persönlichen Lebensgefahr darbietet, ist ein ausgeklügeltes System aus Bedrohung, Bestrafung und Belohnung, welches Hoffman errichtet und immer weiter perfektioniert hat. Er weiß genau, wie er die Menschen auf der Insel manipulieren und kontrollieren kann und muß, versteht es aber auch, sie so an seinem System partizipieren zu lassen, daß immer ein Verhältnis von Einvernahme, Komplizenschaft und somit auch Loyalität bestehen bleibt. Da die Inselbewohner den Moment fürchten, da Hoffman stirbt oder verlegt wird und damit ihre Lebensgrundlage – auch die offizielle, legale – wegzufallen droht, entsteht ein nahezu dialektisches Herr-Knecht-Verhältnis, bei dem nicht allzu genau zu erkennen ist, wer denn nun der Herr, wer der Knecht ist.

Hermanson gibt ein schönes Beispiel für jene Theorie, daß der europäische Adel aus Raubrittern hervorgegangen sein könnte, die ihre Dienste in Landstrichen anboten, in denen die bäuerliche Bevölkerung nicht in der Lage gewesen sei, sich selbst zu beschützen. Hoffman, vielleicht ein Genie, ganz sicher ein Sachverständiger des Todes und damit der Gewalt und damit der Angst, erkennt, wie einfach gestrickt die Inselbewohner – die sich etwas zugutehalten auf ihren Sonderstatus in einer Stadt wie Göteborg – sind und wie einfach es für einen Mann wie ihn, immerhin ein Mann, der Jahre in Chicago gelebt und dort sein fragwürdiges Handwerk erlernt hat, sein wird, aus der Gefangenschaft heraus ein Reich zu errichten. Unzweifelhaft ist er der Chef auf der Insel – und wird als solcher auch von seinen Wächtern und dem Personal der Insel anerkannt und bezeichnet. Hoffman ist also ein solcher Raubritter, der Schutz und einen gewissen Wohlstand bietet, dafür aber absoluten Gehorsam und Loyalität bis in den Tod erwartet.

Ohne es je direkt zu thematisieren, bietet Hermanson ein packendes Bild der schwedischen Gesellschaft im Umbruch. Kommissar Gunnarsson, einst mit Ellen liiert, weint seiner Liebe nach und muß doch erkennen, daß auch er die „neue Zeit“ wird begreifen müssen, um mithalten zu können. Und so, wie er Ellens Leben in dieser neuen Zeit reflektiert, sieht er sich selbst in einem Apparat arbeiten, der den auch verbrecherischen Möglichkeiten dieser neuen Zeit kaum gewachsen ist. Die Geschwindigkeit, die Hermanson anhand des aufkommenden Automobils immer wieder thematisiert, geht über die eher gemütlichen Ermittlungswege der Polizei schlicht hinweg. Sie hinkt hinterher, die Staatsmacht, und es wird moderne Polizisten wie Gunnarsson brauchen, die sich gegen ihre Vorgesetzten und die herrschenden Strukturen durchsetzen müssen, um auf Augenhöhe der Gegner zu gelangen.

Nun steht auf dem Titel des Romans nun aber der Zusatz „Kriminal-„ und das verpflichtet. So muß man konstatieren, daß DIE PESTINSEL als Krimi nur bedingt funktioniert. Zu viele Logiklöcher, zu viele Ungereimtheiten und zu viele Fragwürdigkeiten, die die Autorin möglicherweise durch die Historisierung zu kaschieren suchte. Sicher ist dies nicht der stärkste Roman von Marie Hermanson, doch scheint er darauf hinzuweisen, daß die Autorin auch weiterhin bereit ist, unwegsames Gelände zu betreten, neue Pfade zu beschreiten und ihrem Repertoire immer noch neue Mittel hinzuzufügen. Und weiterhin einen Blick auf die schwedische Gesellschaft zu werfen, ein Blick, der immer das Ungewöhnliche, manchmal Surreale, oft auch Beängstigende sucht. Den allerdings sollte sie sich unbedingt erhalten. Denn es ist dieser Blick, der ihre Werke so außergewöhnlich, spannend und immer wieder lesenswert macht.

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