DIE RUCHLOSEN/LES INÉQUITABLES

Ein weiteres schönes Alterswerk des französischen Kultautors - und eine Hommage an seine frühen Werke

Vielleicht gewinnt ein mittlerweile über 70jähriger Autor, dessen große Zeit einige Jahre, vielleicht Dekaden, zurückliegt, mit jüngeren Werken keine neuen Anhänger hinzu – die Gemeinde, jene, die ihm folgen, weil er sie in einer wesentlichen Zeit ihres Lebens begleitet, ein wenig beeinflusst und oftmals auch getröstet hat, mögen ihm die Treue halten und warten, was ihm als nächstes einfällt.

Philippe Djian, Kultautor der 80er Jahre, als er mit BETTY BLUE – 37.2 GRAD AM MORGEN (auf Deutsch erschienen 1986) das damalige Lebensgefühl auf eine ebenso einfache wie griffige Formel brachte, ist genau solch ein Künstler. Der Schriftsteller, der immer betont hat, Stil sei alles worum es ihm ginge, Stil und nur Stil (und damit ein ähnlich radikales Statement abgab, wie eine seiner Koryphäen, Raymond Chandler, hinsichtlich der Atmosphäre, die bei ihm immer im Mittelpunkt stünde), scherte sich noch nie um Handlung, Plot, eine gelungene Story. Seine besten Werke mäandern dahin, entführen den Leser in allerlei Alltagssituationen, denen er gern – um das, was man Handlung nennen könnte, irgendwie voranzutreiben – in ihrer Dramatik (und Übertreibung) kaum zu überbietende Katastrophen entgegensetzte, die er aber ungern erzählt. Bei Djian liegen die Leichen immer schon herum, explodieren die Bomben zwar, aber geschildert werden dem Leser nur die Folgen. Meist geschieht dies in Dialogen, oft auch in Nebensätzen.

So verhält es sich auch in Djians letztem auf Deutsch erschienen Roman DIE RUCHLOSEN (LES INÉQUITABLES/2019; Dt. 2021). Marc wohnt bei seiner Schwägerin Diana, seit sein Bruder und Dianas Mann Pascal bei einem Massaker ums Leben gekommen ist. Gemeinsam mit Dianas Bruder Joel betreibt Marc einen Bootsverleih. Sein Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der geistigen und seelischen Verfassung seiner Schwägerin. Denn die hat in dem Jahr seit Pascals Tod bereits drei Selbstmordversuche unternommen. Als Marc bei einem seiner morgendlichen Strandspaziergänge drei Ein-Kilo-Pakete mit Kokain findet, bringt dies allerdings nicht den erhofften Stressabbau, da er Spielschulden zu begleichen hat, sondern erhöht den Stress ungemein. Denn Joel und Dianas neuer Bettgefährte Serge spielen offenbar ein ganz eigenes Spiel, um das Kokain an den Mann zu bringen.

In gewisser Weise kehrt Djian mit dieser Räuberpistole zu seinen frühen Büchern rund um Zorg, sein Alter Ego, zurück. In BETTY BLUE und den Nachfolgern wie VERRATEN UND VERKAUFT (1988) oder RÜCKGRAT (1991) war es dieser Zorg, den Djian Alltagsabenteuer erleben ließ und zugleich in eine große, große Liebe schickte, die naturgemäß tragisch enden musste. Keiner der drei Bände erzählt überhaupt eine kongruente Geschichte, sondern es wird von einem Herumtreiber berichtet, der die Chancen im Leben, die sich ihm bieten, ergreift, dabei aber nie nach Höherem strebt. Zorg will überleben und dabei unter dem Radar bleiben. Er streicht lieber Strandhütten an oder verkauft Klaviere, als daß er an einem bürgerlichen Leben, einer Karriere oder einer Familie interessiert wäre. Und sein Manuskript muß Betty heimlich an die Hauptstadtverlage schicken, da Zorg selbst eigentlich keine Notwendigkeit sieht, seine Geschichten einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Marc könnte ein Wiedergänger dieses Zorg sein. Anders als in den letzten Romanen, eigentlich seit Djians mittlerer Phase der 90er und der Nuller-Jahre, die bevölkert sind von Künstlern, meist Schriftstellern und vor allem den Mitschwimmern im kulturellen Fahrwasser und dessen kommerziellen Umfeld, ist die Figur des Marc ebenfalls überhaupt nicht an persönlichem Fortkommen gelegen. Seine Sorge gilt Diana und nur Diana.

Wie es bei Djian eben üblich ist, tritt die Action, die vermeintliche Spannung, völlig in den Hintergrund. Die ganze Story um das Kokain und dessen Verkauf und die Intrigen, die sich um Joel und Serge zu entspinnen scheinen, wird im Grunde stiefmütterlich im Hintergrund erzählt. Eigentlich dient sie lediglich dazu, eine Stimmung zu erzeugen und ein gewisses Milieu zu beschreiben, ohne es erklären zu müssen. Djian pur. Weder Joel noch Marc sind Kriminelle. Sie sind einfach zwei Typen – der eine, Marc, noch vergleichsweise jung, der andere, Joel, an der Schwelle zum Alter – , die eine Gelegenheit ergreifen, wenn sie sich bietet. Sie leben in den Tag hinein, betreiben ihr bescheidenes Geschäft, trinken ihr Bier, rauchen hier und da einen Joint und genießen jene Dinge, die so einfach zu haben sind – ein Sonnenuntergang über dem Ozean bspw. Und auch hier schließt Djian an seine frühen Werke an.

Wenn Zorg ein Chili kochte, wenn er ein Bier aus dem Kühlschrank nahm und es öffnete, gelang es Djian, aus solchen Momenten nicht nur kleine Abenteuer zu machen, denn ein Chili kochen ist eine Sache auf Leben und Tod, wenn man es wirklich ernst nimmt, sondern auch eine Magie zu erschaffen, die es ermöglichte, die Kühle des die Kehle hinunterrinnenden Biers zu spüren, die aus dem Körper weichende Hitze zu fühlen, man konnte das scharfe Chili schmecken, sein Blubbern im Topf hören, und immer spürte man unter all dem die leichte Brise, die vom Meer herüberweht und für Vieles entschädigt, was einem die Welt und das Leben antun können. Und genau diese Brise spürt man hier erstmals wieder, seit langer Zeit. Die Sonnenuntergänge und auch die Frühspaziergänge am Strand sind hier genau die Abenteuer, die dieses Leben erträglich machen. Und das Glas Whisky am Abend. Natürlich gibt es auch hier wieder Mord und Totschlag, überraschen einzelne Figuren den Leser immer mal wieder mit überraschenden Details ihres Lebens. Doch wir folgen einem Mann, der trotz all seiner Defizite, seiner emotionalen Erkaltung, seiner Süchte und Sehnsüchte immer ein Ziel verfolgt und sich dabei versucht darüber klar zu werden, in welchem Verhältnis er eigentlich zu dieser Frau steht, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel retten will. Im Notfall vor ihr selbst.

Er geht diesen Weg bei allen Unbilden, die sich vor ihm auftürmen, recht konsequent und unbeirrt. Widerstände räumt er aus dem Weg, auch wenn er dabei immer um sein Seelenheil fürchten muß, weil er bereit ist, jeden moralischen Ballast über Bord zu werfen. Da hilft es ungemein, in einem Umfeld zu leben, in dem so oder so niemand ein reines Gewissen hat, in einem korrupten Umfeld, wo einige Leichen in einigen Kellern herumliegen und ihrer Entdeckung harren. Und wo nach und nach Geheimnisse zutage treten, die selbst den letzten Moralapostel an seinen Überzeugungen zweifeln ließen. Man schaue sich immer genau an, mit wem man sich umgibt, könnte die Moral der Geschichte lauten.

Djian lässt wie so oft einige Handlungsstränge offen, anderes wird nie wirklich deutlich und gärt im Hintergrund. Er gibt uns für einen Moment Einblick in das Leben einiger Menschen, die seiner Phantasie entsprungen sind und ebenso plötzlich, wie wir in diese Leben einsteigen – Djian erzählt stets so, als wüsste ein jeder wer hier wer im Setting ist; eine anfangs immer etwas schwierige Aufgabe für den Leser sich zu orientieren – , steigen wir auch wieder aus ihnen aus. Wie das alles weitergehen wird für die, die übrigbleiben, das bleibt ganz der Phantasie des Lesers überlassen. Der eigentliche Unterschied zu seinen frühen Werken liegt darin, daß er seine Geschichten immer reduzierter erzählt. Immer kürzer die einzelnen Bände, immer radikaler die Sprache, bis hin zu Zeilen wie diesen:

Er ging auf die Terrasse und rief zwei, drei Leute an. Er redete mit ihnen in einer fremden Sprache. Die Tage waren etwas kürzer geworden, es war schon Nacht.

Zeilen, die, scheinbar unzusammenhängend, doch so viel über eine Figur und ihre unmittelbare Umgebung aussagen. In gewisser Weise scheint Djian sich damit einem Ideal anzunähern, das erreichen zu wollen er immer genau so formuliert hat. Und man folgt ihm, immer noch, man taucht unmittelbar ein in diese Atmosphäre, es zieht einen weiter und weiter, es fällt schwer, das Buch wegzulegen. Das ist eben neben allem andern auch einfach gute Unterhaltung, wenn man den Stil des Autors mag. Es ist aber eben auch ein Alterswerk von einem, der sich auf sich selbst verlässt und sonst auf wenig. Und der immer noch ein Lebensgefühl transportiert, welches in diesen Zeiten so fern scheint, wie kaum etwas sonst. Ein Lebensgefühl, das viel mit einem Begriff zu tun hat, der momentan bis zum Überdruss bemüht wird, ohne je mit Inhalt gefüllt zu werden – Freiheit.

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