DIE VERLOCKUNG DES AUTORITÄREN. WARUM ANTIDEMOKRATISCHE HERRSCHAFT SO POPULÄR GEWORDEN IST/TWILIGHT OF DEMOCRACY. THE SEDUCTIVE LURE OF AUTHORITARIANISMI

Anne Applebaums Essay von 2020 ist nach wie vor aufschlussreich

Anne Applebaum veröffentlichte ihren Langessay DIE VERLOCKUNG DES AUTORITÄREN. WARUM ANTIDEMOKRATISCHE HERRSCHAFT SO POPULÄR GEWORDEN IST (TWILIGHT OF DEMOCRACY. THE SEDUCTIVE LURE OF AUTHORITARIANISM, original 2020; Dt. 2022) bereits 2020, weshalb der Text natürlich keine tagesaktuellen Bezüge und dementsprechend wenig Brisanz aufweist. Dennoch macht es auch vier Jahre nach Erscheinen Sinn, die Überlegungen der konservativen Historikerin, Autorin und Journalistin noch einmal zu lesen. Denn neben einer Menge grundlegend interessanter und sehr kluger Gedanken zu eben der Frage, weshalb gerade auch in Europa wieder starke autoritäre Bewegungen – meist rechtsgerichteter Natur – so großes Interesse, ja sogar Begeisterung hervorrufen können – ein Phänomen, das seit dem Erscheinen des Buchs eher zu- denn abgenommen hat – erfahren die Leser*innen hier doch auch eine Menge Details gerade zur jüngeren und jüngsten osteuropäischen Geschichte und der politischen Entwicklung der ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts.

Ein Beispiel für die Details, die Applebaum liefert, ist die immense Wirkmächtigkeit, die das Flugzeug-Unglück von Smolensk 2010, bei welchem u.a. der damalige polnische Staatspräsident Lech Kaczyński ums Leben kam, für die rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS) hatte. Mit den Verschwörungserzählungen, die Kaczyńskis Bruder Jaroslaw um den Absturz der Maschine spinnen konnte, war es der Partei möglich, ihr antiliberales, letztlich antidemokratisches Programm, mit welchem sie die polnische Justiz und die Medien unter ihre Kontrolle zu zwingen versuchte – ein Unterfangen, das ihr weitestgehend auch gelang – in die Tat umzusetzen.

Applebaum verfügt nicht zuletzt deshalb über detaillierte Kenntnisse, da Osteuropa und die Entwicklungen osteuropäischer autoritärer Herrschaftssysteme ihr Spezialthema sind und sie dazu einige sehr aufschlussreiche und hoch prämierte Werke geschrieben hat, sondern darüber hinaus mit dem Journalisten und Politiker Radosław Sikorski verheiratet ist und seit 1988 in Polen lebt. Sikorski war Minister in einigen der letzten polnischen Regierungen, darunter anfangs auch in einem Kabinett der PiS-Partei der Kaczyński-Brüder. Allerdings trat er aus dieser Regierung aus, je weiter sie sich nach rechts bewegte und damit von einer liberalen und vor allem der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Politik abrückte.

Auch davon handelt Applebaums Buch: Die Entfremdung von der eigenen politischen Heimat und dem Verlust etlicher Freunde. Doch Applebaums eigentliches Thema sind jene Konservative, die mehr und mehr der autoritären Versuchung erliegen und ihre einst konservativen, vielleicht auch rechts-liberalen, jedoch immer demokratisch gesinnten Ideale, Prinzipien und Ansichten aufzugeben bereit waren. Jene Intellektuellen, Journalisten, Politiker und auch Künstler, die der autoritären Verlockung erlagen, vielleicht, weil die Versuchung der Macht zu groß gewesen ist, vielleicht, weil ihnen die Gesellschaften des Westens tatsächlich zu liberal, zu pluralistisch geworden sind. Zu woke, wie man heute zu sagen pflegt.

Applebaum, die nicht nur in der amerikanischen, sondern auch der europäischen Politik hervorragend vernetzt ist, kennt etliche jener Menschen, über die sie, manchmal erstaunlich offen und somit ad hominem schreibt persönlich und durfte einige davon, zumindest früher, auch zu ihren Freunden zählen. Darunter bspw. den ehemaligen englischen Premier Boris Johnson (hier bewusst als englischer Premier bezeichnet, da seine Anliegen sehr dezidiert englische gewesen sind, sicher keine schottischen, auch keine, die die Nordiren sonderlich erfreut haben dürften – er wollte und sollte den Brexit durchsetzen, koste es, was es wolle), den sie noch aus dessen Zeit als Korrespondent in Brüssel kennt, von wo er –  gelangweilt von der EU und deren äußerst komplexen und langwierigen institutionellen Abläufen und ebenso langsamen und komplizierten Verhandlungen innerhalb der Kommission – gern auch völlig aus der Luft gegriffene, kurz gesagt erfundene, europafeindliche Artikel für den Daily Telegraph, die Hauspostille der britischen Konservativen, verfasste.

Ihm attestiert sie allerdings genau das, was man schon vermutet hatte: Der Mann ist im Grunde kein Ideologe. Er ist ein Upper-Class-Boy – wie auch sein ehemaliger Klassenkamerad und Vorgänger im Amt der Premiers David Cameron, auf dessen Mist das Referendum zum Brexit überhaupt erst gewachsen ist – der Macht haben will. Diese Feststellung korrespondiert mit der Erzählung von Johnsons Schwester, die während seiner Amtszeit einmal erzählte, dass er bereits als Kind erklärt habe, er wolle „King oft the world!“ werden.

Applebaum berichtet von einigen ihrer Kollegen und Freunde, die im Laufe von ca. 20 Jahren – ihr Text beginnt mit der Schilderung der Silvesterparty, die sie und ihr Mann zur Jahrtausendwende geschmissen haben und derer Gäste – nach und nach ins Lager der Autokraten und Illiberalen abwanderten. Darunter auch Journalisten wie die Journalistin und TV-Moderatorin Laura Ingraham, die einst zu Applebaums engeren Kontakten zählte. Über die Umwege Spaniens und dem Erstarken der Vox-Partei in einem Land, wo die Erinnerungen an die letzte Diktatur von rechts noch relativ wach sein dürften, einem Abstecher nach Ungarn und einer längeren Exkursion in die Gefilde von Social Media und deren Auswüchse und Einflüsse auf bspw. die Alt-Right-Bewegung in den USA – alles keine für den interessierten Leser sonderlich neuen Erkenntnisse, die sie hier mitzuteilen hat – landet Applebaum schließlich genau da, wo das Epizentrum des neuen Autoritarismus zu verorten ist – in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Dort, wo mit Donald Trump in den vergangenen acht Jahren ein Mann der antiliberalen und letztlich auch antidemokratischen – wenn man Demokratie als etwas auffasst, das liberal und pluralistisch und vor allem rechtsstaatlich zu verstehen ist – Bewegung einen Auftrieb verschafft hat, der weltweite Auswirkungen und Erschütterungen zeitigt. Applebaum zeichnet noch einmal – auch und gerade anhand des Beispiels Laura Ingrahams – den Weg nach, wie Trump sich ins Herzen der Republikanischen Partei schmuggeln und dort wie ein Geschwür festsetzen konnte. Sie streift noch einmal im Schnelldurchlauf die Stationen seit Ronald Reagan, Pat Buchanan und Newt Gingrich, die maßgeblich dazu beitrugen, einen Mann wie Trump überhaupt erst möglich zu machen. Und sie weist – wie so viele vor ihr und seither – nach, dass Trump allenfalls ein Symptom, keine Ursache ist für das, was in der westlichen Welt und ihren Demokratien seit nahezu zwanzig Jahren geschieht.

Was allerdings dann auch immer wieder deutlich wird auf diesen Seiten ist die Haltung vieler, gerade auch traditioneller, Konservativer, „links“ und „rechts“ schlicht gleich zu setzen. Bevor Applebaum in die Details geht, holt sie in einem weiten historischen Bogen aus und stellt die europäischen Faschismen des 20. Jahrhunderts neben die Sowjetunion. Eine Denkbewegung, die man nachvollziehen kann. Doch immer und immer wieder zunächst auf Linksextremismus abzuheben, bevor sie dann bereit ist, die modernen autoritären Bewegungen, die nun einmal größtenteils rechtslastig – und eben nicht konservativ – sind, zeugt dann auch von einer gewissen Verbohrtheit. Andererseits macht die Autorin nie einen Hehl aus ihrer Gesinnung und so sollte man sich auch nicht wundern, wenn sie dann auf den letzten Seiten ihres Essays durchaus liberale Ziele aufgreift – allen voran Identitätspolitik, Wokeness, Gendering – um diesen eine Mitschuld am Erstarken rechter und rechtsextremer Ideen zuzuschustern.

Wie auch immer. DIE VERLOCKUNG DES AUTORITÄREN ist trotz solcher vielleicht etwas haarspalterischen Kritikpunkte ein gut zu lesender und durchaus aufschlussreicher Text zu den kulturellen und politischen Entwicklungen in den westlichen Demokratien der vergangenen zwanzig Jahre. Es lohnt sich allemal, diesen Gedanken zu folgen und sie in die eigenen Überlegungen zum Thema mit einzubeziehen.

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