DER AUFSTIEG DER RECHTEN IN KRISENZEITEN. DIE REGRESSION DER MITTE
Daniel Mullis liefert einen nicht nur gut lesbaren, sondern vor allem sehr lesenswerten Beitrag zur aktuellen Debatte
Wann wird es endlich wieder so sein, wie es niemals war? So könnte man, etwas flapsig, die Quintessenz aus Daniel Mullis´ Untersuchung DER AUFSTIEG DER RECHTEN IN KRISENZEITEN. DIE REGRESSION DER MITTE (2024) ziehen. Denn eine seiner Schlussfolgerungen verweist auf die Erkenntnis, dass wir in eine Ära eintreten, die von regressiven Tendenzen geprägt wird, nicht mehr, wie lange Zeit in der Bundesrepublik, durch progressive. Die progressiven Parteien – gleich ob die SPD, die Grünen oder, später, die LINKE – haben ihre Versprechen nicht gehalten, bzw. verwässern lassen, ihre Ideen wurden teils von den christlichen Parteien übernommen und transformiert und so immer mehr zu Allgemeinplätzen, die keine wirklichen Chancen mehr aufzeigten. Das Versprechen, dass es mit harter Arbeit, mit Fleiß und Geduld möglich sei, sich ein gutes Leben und den eigenen Kindern womöglich gar ein besseres Leben in mehr Wohlstand zu generieren, kann nicht mehr gehalten werden. Zu viele Krisen, zu große Einschnitte in den vergangenen Jahrzehnten und vor allem der Neoliberalismus und in seinem Gefolge die Globalisierung, wie sie nie gemeint war – nämlich als rein ökonomisches, vor allem finanzmärkisches Unternehmen – haben die progressiven Vorhaben geschreddert und die ihnen zugrundeliegenden Ideen – Solidarität, Gleichheit, Freiheit (von Mullis als ‚Gleichfreiheit‘ getaggt), Demokratie – zumindest untergraben, wenn nicht gar ausgehöhlt. Letztlich, so Mullis´ Schlussfolgerung, werden wir nicht umhinkommen, über den Weg der sozialen Gerechtigkeit wieder konkrete Utopien zu entwerfen, um die Krise der Demokratie ebenso zu bewältigen, wie die Krisen – allen voran die Klimakrise – vor denen wir und die folgenden Generationen stehen.
Im ersten von drei langen Einzelkapiteln untersucht Mullis also zunächst die Krisen der Jahre seit der europäischen und globalen Finanz- und Schuldenkrise 2008 bis hinein in die jüngste Vergangenheit, die seit Jahrzehnten den ersten Krieg auf europäischen Boden gebracht hat. Er berücksichtigt dabei auch und vor allem den entstehenden Kulturkampf um Identitätspolitik, Feminismus und Gleichberechtigung oder auch die damit einhergehenden Sprachregelungen, bzw. die oft beschworene Cancel Culture. Um seine Thesen und Beobachtungen zu unterfüttern, führt Mullis gerade in diesem Abschnitt viele Studien, Untersuchungen und Erhebungen der vergangenen Jahre an, derer einige den geneigten Leser*innen bereits bekannt sein dürften.
Im zweiten Abschnitt seines Buches stellt er die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen vor. Dafür hat er in verschiedenen Stadtteilen von Leipzig und Frankfurt a.M. – ausgesucht nach Sozialstruktur und Wahlbeteiligung sowie dem Erstarken der AfD in den vergangenen Jahren – einzelne Probanden nach ihrem Wahlverhalten, ihrer Sicht auf die Gegenwart und mehr noch nach der Vergangenheit und der unmittelbaren Entwicklung des Landes befragt und diese Aussagen in Bezug zu den im ersten Abschnitt zitierten Studien gesetzt. Vor allem in diesen Befragungen kommt der oben angeführte Wunsch nach einer irgendwie verklärten, besseren Vergangenheit immer wieder deutlich zum Ausdruck.
Der letzte und mit Abstand wissenschaftlichste, also fachspezifischste Teil seiner Studie betrifft die Tiefenstrukturen, die seinen vorherigen Beobachtungen zugrunde liegen. Diesen dritten Abschnitt unterteilt Mullis in zwei größere Einzelkapitel: Zunächst untersucht er die von ihm so genannten „Multiplen Kontingenzerfahrungen“. Gemeint ist damit eine Wirklichkeitserfahrung, die einerseits immer mehr – auch individuelle – Wahlmöglichkeiten bereithält, zugleich vom Individuum aber auch mehr damit einhergehende Entscheidungen in einer Welt verlangt, die immer unübersichtlicher und komplexer zu werden droht. Im daran anschließenden und darauf aufbauenden Abschlusskapitel befasst Mullis sich mit der autoritären Neoliberalisierung, der gerade die westlichen Gesellschaften seit den späten 70er Jahren und vor allem in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren und sind und die massiven globalen Auswirkungen hatten und haben. Und die bis heute andauert.
Es ist gerade dieser dritte Abschnitt, der Mullis´ Buch so lesenswert macht. Überzeugt der erste Teil vor allem durch die Überfülle an Material, das hier noch einmal angeführt wird, wodurch ein hervorragender Überblick über den momentanen Forschungsstand und die soziologische Betrachtung der Lage geboten wird, hört man bei der Lektüre des zweiten Teils schon jene Kritiker, die ausschließlich die von ihnen favorisierten Statistiken und Methoden gelten lassen. Sicher, man kann immer kritisieren, wenn lediglich auf wenige Interviews zurückgegriffen wird, die als „qualitativ“ markiert sind. Reichen fünfzig Einzelbefragungen, um eine Stimmungslage zu erfassen und breit wiedergeben zu können? Darüber kann man streiten, darüber sollten vor allem die Fachleute – in diesem Falle also die Soziologen – streiten.
Ähnlich wie in der Untersuchung TRIGGERPUNKTE. KONSENS UND KONFLIKT IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, die von Mullis häufiger zitiert wird, der er an entscheidenden Punkten aber auch widerspricht, kann man auch hier die Herangehensweise in Frage, sollte aber dennoch nicht gleich die gesamte Untersuchung in Abrede stellen. Denn gerade der dritte Teil, der sich im Wesentlichen auf Untersuchungen von Ulrich Beck, Isolde Charim, Norbert Elias und Andreas Reckwitz, in der Frage nach dem Zusammenhang von zunehmender Individualisierung und Neoliberalismus vor allem auf die Arbeiten von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey u.a. stützt, ist nicht nur ausgesprochen interessant und spannend, sondern in Bezug auf die unmittelbare Gegenwart von höchster Brisanz.
Wir werden, wollen wir weiterhin in einer pluralistischen, rechtsstaatlichen, liberalen und auch libertären Demokratie leben, nicht umhinkommen, uns genau den Fragen zu stellen, die unangenehm sind und die jeden einzelnen betreffen: Wo stehe ich in dieser Gesellschaft? Wo und wie ist mein Anteil daran, dass ein Individualismus um sich greift, den man in den 80er Jahren vielleicht noch gefeiert hat, der nun aber eine zwar ungeahnte, aber höchst gefährliche Folge zeitigt: Er beginnt, die Demokratie, die nun einmal zwingend auf dem Solidaritätsgedanken beruht, zu zersetzen. Wenn ein jeder – wie auch Amlinger und Nachtwey in ihrem Werk GEKRÄNKTE FREIHEIT. ASPEKTE DES LIBERTÄREN AUTORITARISMUS (2022) bereits so eindringlich ausgeführt hatten – Demokratie nur noch als Befriedigungsmaschine seiner ganz subjektiven, ganz eigenen Bedürfnisse betrachtet (wie es u.a. während der Corona-Epidemie zu beobachten war), dann kommt eine, kommt diese Gesellschaft, kommen die Gesellschaften des Westens, letztlich die demokratisch verfassten Gesellschaften, in arge Not.
Und jene, die mit den einfachen Antworten bei der Hand sind, also eben jene, die in einem Werk wie Mullis als „rechts“ bezeichnet werden, können bald ihre Ernte einfahren. Mullis, der sehr genau unterscheidet, was konservativ, was rechts, was rechtsradikal und was rechtsextrem ist und damit einen jener Fehler vermeidet, der vielen aktuellen Werken zum Thema zugrunde liegt, konstatiert letztlich, dass sich – da kommt er zu dezidiert anderen Schlüssen als bspw. Steffen Mau – zwar kein wirklicher Riss quer oder längs durch die Gesellschaft zieht, dass sich jedoch das, was gemeinhin die „Mitte“ genannt wird, als Ganzes nach rechts verschoben hat. Eine Diagnose, die sich u.a. mit der des französischen Star-Soziologen, Schriftstellers und Journalisten Didier Eribon deckt, der in seinem Bestseller RÜCKKEHR NACH REIMS (RETOUR À REIMS; 2009/2016) davon berichtete, wie in einstmals kommunistischen Hochburgen wie seiner Heimatstadt nach und nach der Front National, mittlerweile zum Rassemblement National mutiert, erst immer stärker und schließlich politisch bestimmend werden konnte.
Wie meist bei soziologischen Werken ist es auch in Mullis´ Fall so, dass es kein umfassendes Bild bietet, dass die Methodik angreifbar ist, dass man einzelne Aspekte kritisieren und andere hervorheben kann. Doch sicher sticht es zum einen dadurch heraus, dass es eben eine Fülle an Verweisen auf Quellen, Studien und Untersuchungen auch abseits der bekannten, viel besprochenen und allseits akzeptierten Werke bietet, zum andern aber eine fundierte, nachvollziehbare und – auch das ist nicht ganz unwesentlich, soll ein Werk wie dieses nicht nur in Fachkreisen reüssieren – gut lesbare Arbeit ist. Ein wesentlicher Beitrag zum herrschenden Diskurs. Und wie immer bei Arbeiten wie dieser ganz sicher keine allein selig machende. Wirklich relevant werden all diese Analysen, Forschungs- und Studienergebnisse erst im Bezug aufeinander. Es bleibt also viel zu tun.