WINESBURG, OHIO
Sherwood Andersons Referenzwerk der amerikanischen Literatur
Die amerikanische Kleinstadt gehört zu den Topoi amerikanischer Erzählungen wie der Apfelkuchen auf dem Fensterbrett, die Route 66 oder das Feuerwerk am 4. Juli. Sie wird erzählt und besungen fast von allem Anfang amerikanischen Erzählens an: Mark Twain dient sie als stimmiger Hintergrund für die Geschichten um Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Spätestens mit dem Aufkommen des Films wurde sie dann zu einem klaren Mythos dessen, was man das Heartland nennt, also jene Provinz, wo das „reine“ Amerika meint, bei sich selbst zu sein. Als Prototypen dieser amerikanischen Kleinstadt kann man Sherwood Andersons WINESBURG, OHIO lesen.
Ähnlich wie John Dos Passos oder Thomas Wolfe ein früher Vertreter der Moderne, erzählt Anderson nicht vom großen Drama oder wilden Abenteuern, sondern vom modernen Leben im amerikanischen Alltag und experimentiert dabei ebenfalls mit literarischen Formen. So hat man es hier mit einer Mischform zwischen einer Sammlung von Kurzgeschichten und einem Roman zu tun, deren Handlung anekdotisch und nicht stringent verläuft, die keine wirkliche Hauptperson aufweist, die szenisch angelegt ist. Jedes der 22 oder 23 (je nach Zählung) Kapitel bringt dem Leser einen Bewohner der Kleinstadt Winesburg, die eben im Midwest-Staat Ohio liegt, näher; erzählt vielleicht ein kleine Anekdote, manchmal eine tragische Geschichte, oft darin eingebettet aber ein ganzes Leben in seiner Tristesse und Eintönigkeit. Bleiern sind diese Leben, bleiern in ihrer Gleichförmigkeit, in dem Ausbleiben jeglicher Überraschung und alles Abenteuerlichen. Im puritanischen 19. Jahrhundert unterdrückte Triebe und ein religiöser Starrsinn, der in einem nach dem Bürgerkrieg, der hier in einigen Geschichten noch sehr präsent ist, zerrissenen Land mächtig ist, verpassen dieser Gesellschaft ein enges Korsett. Diesem Korsett zu entkommen, ihm zu entschlüpfen und sich zu entfalten, ist Bestreben so manches jungen Menschen in dieser Sammlung von Lebensminiaturen.
George Willard ist die eigentliche, die heimliche Hauptfigur dieses Reigens, kommt er direkt oder indirekt doch in nahezu jeder dieser Stories vor. Dabei meist jedoch als Beobachter, selten als Handelnder und selbst wenn er handelt, sind es meist Reaktionen. Die gesamte Erzählzeit spannt sich über einen Zeitraum von nahezu 35 Jahren, vom Ende des Bürgerkriegs bis in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts. Und oft sind es Willards Mutter oder sein Großvater, die schon in den früheren Geschichten auftauchen und tragende Rollen spielen. Er, George, selber ist junger Lokalreporter beim „Winesburg Eagle“, will aber aus der Stadt hinaus, will Schriftsteller werden, will die großen, wichtigen Städte – Chicago, New York, in Europa Paris – sehen und das Leben erleben! Winesburg droht ihn zu umklammern, zu erdrücken, zu substituieren. Will er z. B. die Liebe erleben, so bleibt ihm dazu nur die Möglichkeit, ein Bordell aufzusuchen, sich an die einzige „vorzeigbare“ junge Dame der Stadt – die Tochter des Bankiers – zu halten oder die Verzweiflung einer alternden Dame, die sein schriftstellerisches Potential erkennt, auszunutzen. In dieser Gesellschaft dürfen Gefühle nicht ausgesprochen werden, hier findet Kommunikation eigenlich immer indirekt statt, schlimmstenfalls als Handgreiflichkeit. Auffallend häufig erzählen diese Geschichten von der Liebe und ganz besonders deren körperlicher, intimer Seite. Als sei dies die Hoffnung des Menschen, sich doch noch begegnen zu können. George muß feststellen, daß er selbst dabei ein Beobachtender bleibt, ein Zuschauer. Er muß sich dieser Starre enteldigen, das spürt er nur allzu genau. So ist George Willards eigentliche Tat – denn zuvor erleben wir häufiger, wie er Beschlüsse fasst, ohne daß wir wirklich erfahren, ob diese umgesetzt werden – dann auch das Gehen, also das Fortgehen aus der Stadt.
Formal sind das also nur äußerst lose miteinander verbundene Geschichten, die sprachlich ausgesprochen feine Wege gehen. Scheinbar einfach, spielt Anderson mit Ellipseformen und Zeitsprüngen, die dem Leser manchmal nicht einmal voll zu Bewußtsein kommen. Da liest man über einen liebeskranken Prediger, der fast Opfer seiner Begierden wird und erhält ganz nebenbei auf wenigen Seiten einen Einblick in die Einsamkeit eines Lebens, in dem Unterdrückung von Gefühlen und Trieben zu immer größerer Erstarrung geführt haben; zugleich erhält man aber auch einen guten Einblick in ein Land, das in den Jahren nach dem großen Brudermorden auf der Suche nach innerer Einkehr und auch nach Zusammenhalt war – und ganz unversehens sitzt der Leser wieder neben dem Prediger mit den runtergelassenen Hosen. An einigen dieser Stellen blitzt dann manchmal auch ein kruder Humor auf. In seiner formalen Verspieltheit (die dabei sehr streng erscheint), gekoppelt an die Inhalte der Geschichten, die eben immer wieder auf das sexuelle Erwachen von Jugendlichen ebenso wie das einer ganzen Gesellschaft zurückkommt, wirkt das Buch selbst wie ein Aufschrei, ein Aufbegehren gegen die Strenge und Enge dieser moralisch so zugeknöpften Zeit.
Nach Erscheinen wegen seiner „moralischen Zügellosigkeit“ und Offenheit einerseits angefeindet, wurde WINESBURG, OHIO andererseits zu einer Referenzgröße amerikanischer Schriftsteller. Von Fitzgerald über Henry Miller bis zu John Updike reicht die Reihe jener, die sich auf das relativ schmale Bändchen berufen. Und wenn man an viele Werke amerikanischer Autoren der letzten 80 Jahre denkt, sieht und spürt man die Verbindungen, die von ihnen in diesen Prototyp der amerikanischen Kleinstadt reichen. Und selbst, wenn ein William Faulkner glaubte, sich über Anderson und sein Hauptwerk lustig machen zu müssen – selbst zu diesem Giganten der Literatur des 20. Jahrhunderts winkt es hinüber: Das mit 46 Seiten längste Kapitel GOTTESFURCHT wirkt wie die Miniatur eines jener wuchtig-alttestamentarischen Dramen, die der Mann aus Oxford nur wenige Jahre später zu verfassen begann.