FÜR EIN LEBEN

Ulrich Woelk lässt den Leser in einer episch angelegten Geschichte an zwei Leben teilnehmen

Ulrich Woelk erzählt in seinem jüngsten Roman FÜR EIN LEBEN (2021) auf mal kurzweiligen, mal doch sehr langen 630 Seiten hauptsächlich aus zwei Frauenleben über eine Strecke von nahezu 30 Jahren.

Niki ist das Kind eines frühen Hippiepaars, geboren auf dem sogenannten Hippie-Trail, aufgewachsen in einem Ashram und im Norden Mexikos, das in das bürgerliche Leben zurückkehren will, das die Eltern einst verlassen hatten. So lebt sie als Ärztin in Berlin und lernt hier in einer bewegten Nacht Clemens kennen, den sie einmal heiraten wird, wenn auch nur für kurze Zeit. Und in einer anderen, nicht weniger bewegten Nacht, lernt sie Lu kennen, eine im Wedding aufgewachsene junge Frau. Die kommt aus prekären Verhältnissen, die Mutter tot, der Vater dem Alkohol verfallen, aus dessen Fängen ihn zeitweilig Beziehungen zu Frauen herausreißen, die er in seine verstorbene Frau zu verwandeln versucht. Angefangen im bewegten Herbst 1989 – mit Rückblicken in die Leben einzelner Nebenfiguren, die aber jeweils große Rollen spielen im Leben von Niki und Lu – bis in die erst kürzlich vergangene Gegenwart reicht diese Geschichte zweier Frauen, die zueinanderfinden – als Paar, Freunde, manchmal auch Rivalinnen.

Woelk erzählt diese schon episch zu nennende Geschichte in einem manchmal hyperrealistischen Stil, elliptisch in mal großen Zeitsprüngen, mal in Engführungen, in Szenen, die für diese Leben existenziell sind. Daß er im Kern ein Märchen erzählt, fällt dem Leser erst nach und nach auf. Daß es Zufälle in diesen Leben gibt, die keine solchen sein können, daß Niki immer wieder von Fremden und Freunden das Attribut, ein „Engel“ zu sein, angehängt bekommt, entspricht diesem märchenhaften Unterton der Erzählung. In gewisser Weise beschreibt Woelk das gelungene Leben. Ein – nein, mindestens zwei – Leben, das sich dadurch definiert, daß die Hauptdarstellerin(nen) dieses Lebens offen für Erfahrungen und differenzierte Betrachtungen aber auch Menschen bleibt und bleiben. Sich etwas trauen, ausgetretene Pfade verlassen, auch wenn der eigene Wunsch vielleicht etwas anderes ist – das sind die Ingredienzien dieser Leben. Daß Woelk um seine beiden Hauptfiguren ein regelrechtes Panoptikum interessanter, außergewöhnlicher Nebenprotagonisten versammelt und diesen ebenfalls viel Aufmerksamkeit schenkt, rundet die Gesamtschau späten und späteren bundesrepublikanischen Lebens ab.

Das ist flüssig geschrieben, oft witzig, manchmal traurig, immer gut lesbar, manchmal aber auch langatmig, zu ausführlich und detailverliebt. Man folgt der Geschichte all dieser Menschen dennoch gern. Und dennoch bleibt etwas zurück, das schwer zu bestimmen ist, die Lektüre aber seltsam oberflächlich macht. Vielleicht läuft hier zu vieles zu glatt, vielleicht sind diese Menschen auch nicht mit genügend Tiefenschärfe erfasst, vielleicht muß aber bei einem solchen Vorhaben – dreißig Jahre umfassen und dabei mehreren Leben gerecht werden – einiges auf der Strecke bleiben. Man denkt gelegentlich an Johan Harstads MAX, MISCHA UND DIE TET-OFFENSIVE, das ebenfalls einen weiten Zeitraum umfasst und dem es doch gelingt, die wesentlichen Figuren auszuleuchten und den Leser wirklich an sie heranzuführen. Hingegen bleibt gerade eine Figur wie Lu, die so wesentlich für das Verständnis der Handlung ist, seltsam erratisch, schwer zu fassen, ihre Motive im Dunkeln. Man kann diese Figur nur ständig interpretieren, doch gibt uns der Autor nahezu keine Hinweise, was sie fühlt, was sie im Innersten bewegt. Und damit wird es auch nur schwer verständlich, weshalb sich Niki, die sich lange gegen die Behauptung eines Freundes wehrt, sie sei eigentlich lesbisch, schließlich in diese Frau verliebt und mit ihr gemeinsam ihr Kind aufziehen will.

Es gibt allerdings, wenn man so will, einen Sub-Plot, der dieses Buch durchzieht, und der den einen stören mag, andere weniger. Dieser Sub-Plot wäre mit einem Titel wie „Die Sexualität in postmodernen Zeiten“ recht gut zusammengefasst. Nahezu jedes der zwanzig Kapitel plus eines Epilogs beschäftigt sich mit Sex. Mal expliziter, mal weniger ausgefeilt. Sei es, daß Lu unbedingt entjungfert werden will, aber schon als Jugendliche beschließt, niemals mit einem Mann zu schlafen, den sie wirklich liebt (auch diese Entscheidung kann der Leser sich zwar irgendwie zurecht erklären, aber wirklich nachvollziehbar ist sie nicht), sei es, daß Niki ihrem zukünftigen Gatten als junge Assistenzärztin den Hoden untersuchen muß, sei es, daß Lu des Geschlechtsteils ihres Untermieters ansichtig wird und dies sie nachhaltig beeindruckt, sei es ein Taxifahrer, der Niki in ein Gewerbegebiet entführt und sie dann an seinen Masturbationsversuchen teilnehmen lässt, sei es ein Pater, der im Eingang zur Grotte in Lourdes eine Vagina erkennen will und daraus ableitet, daß die heilige Bernadette wahrscheinlich unterdrückten sexuellen Gefühlen Ausdruck verleihen wollte – man könnte die Liste beliebig verlängern – , nahezu jede und jeder hier ist ununterbrochen mit Sex beschäftigt oder wird damit konfrontiert.

Das mag ja eine nette Idee sein, eine Feier des Lebens und seiner Entstehung sozusagen, ist aber zugleich auch irgendwann ermüdend, weil es das Leben, ganz generell, doch sehr reduziert und der Geschichte auch die Ernsthaftigkeit nimmt. So bleibt am Ende der Lektüre der Eindruck, an einigen mal mehr mal weniger interessanten Leben teilgenommen zu haben, von denen allerdings letztlich wenig verfängt. Wäre mehr drin gewesen? Vielleicht. Vielleicht ist dies aber genau so auch von Ulrich Woelk gewollt gewesen und so bleibt der Leser mit einem Roman zurück, von dem er nicht wirklich weiß, was er damit anfangen soll. Immerhin, unterhalten hat es und das ist ja nicht das schlechteste Urteil über einen Roman.

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