EUROPE CENTRAL
Zwischen Genialität und Bauchgrimmen: Teil eines ununterbrochenen Diskurses
Ernstzunehmende Epen über den 2. Weltkrieg gibt es viele, einige davon haben Weltrang erreicht: Mailers DIE NACKTEN UND DIE TOTEN, Grossmans LEBEN UND SCHICKSAL, vielleicht Theodor Plieviers STALINGRAD oder – posthum – Gert Ledigs DIE STALINORGEL. Die Postmoderne hatte wenig Zugriff auf das Thema, es waren eher amerikanische Autoren wie Kurt Vonnegut (SCHLACHTHOF NR. 5), die ihre Erlebnisse verfremdet und oft eingebettet in scheinbar unseriöse Handlungen schilderten. 1973 erschien mit DIE ENDEN DER PARABEL, dem Großwerk von Thomas Pynchon, das definitive postmoderne Werk zum Thema – der 2. Weltkrieg wurde hier selbst zur Parabel, zur Blaupause einer Wirklichkeit, die fragmentierte, keine feste Verankerung in Zeit und Raum mehr aufwies und Geschichte, Mythos, Allegorien, comichafte Elemente liefen hier in Eins, um einen extremen, hintergründigen Kommentar zum 20. Jahrhundert selbst abzugeben, einem Jahrhundert der Kapitalströme, die sich in den technischen Fortschritten spiegelten, die wiederum zu ebenso ökonomischen wie kulturellen Verflechtungen führten. Und einer Kultur des Todes huldigten. Eigentlich, wollte man meinen, sei dem nichts mehr hinzuzufügen. Nun legte im Jahr 2005 William T. Vollmann mit EUROPE CENTRAL das erste große Epos des 21. Jahrhunderts zum Thema vor, ein Rückblick auf ein Jahrhundert, das seine logische (?) Erfüllung in einem gewaltigen Ringen ideologischer Kräfte fand. Dialektisch rangen der scheinbar der Ratio, der Vernunft verschriebene Kommunismus und der reaktionär-rückwärtsgewandte, im Mythus verwurzelte Faschismus nationalsozialistischer Prägung miteinander und entfachten im Weltenbrand des „Großen vaterländischen Krieges“, wie die Sowjets sagten, den Furor eines dialektisch logischen Fanals. Wie eine Klammer, die nicht umklammert sondern scheinbar von innen heraus, aus seiner Mitte heraus, das Jahrhundert zusammenhält und definiert. Und auch hier klingt ein „Todeskult“ an, denn Ideologien sind totes Papier, menschenfeindlich und gnadenlos. Zwei Ideologien totalitärer Prägung sind es also gewesen, die die Klammer bildeten, sich an den (extremen) Enden wieder trafen und den Menschen vergessen machten.
Jüngere Totalitarismusforscher sind sich mit Hannah Arendt einig, daß das sowjetische System Stalin’scher Prägung und der Faschismus deutscher Prägung – also der Nationalsozialismus – systemisch eng miteinander verwandt sind, eher miteinander, als z.B. der deutsche Faschismus seinen historischen Verbündeten, dem italienischen (und „wahren“) oder dem Faschismus spanischer Prägung ähnelt. Zwitterwesen gleich, Zwillingen ähnelnd, kreisen der Stalinismus und der Hitlerismus umeinander, bedingen einander, definieren einander. Dies ist die theoretische Ausgangsbasis in Vollmanns Mammutwerk. Doch geht der Autor weiter, viel weiter, er will nicht einfach Theorie mit literarischen Bildern füttern, bedienen und ausschmücken, auch will er nicht – wie Pynchon – das Theoretische selbst zum Handlungsmuster seiner Erzählung machen. Er will den Leser die Auswirkung theoretischen Wissens auf die, die den Zeitläuften ausgeliefert waren spüren lassen, er will verdeutlichen, daß am Urgrund aller Theorie ein konkretes Erleben steht. Immer stand. Den Menschen dem Vergessen entreißen und ihm eine Stimme geben. Indem er dem theoretischen Wissen um die Schrecknisse eine Erfahrungswelt entgegenstellt, die sich der Realität maximal subjektiv und somit zumiest theorieabhold nähert: Die der Kunst.
Auch hier also wieder Dialektik: Wissenschaft, Erkenntnis und Empirie als Maßeinheit und Klassifizierungssystem und die innere Erlebniswelt des Künstlers als Projektionsfläche äußerer, historischer Begebenheiten. These und Antithese. Geschichte, eingebettet in eine Erzählung über Künstler und widerstreitende Zugriffsebenen auf die Historie, den historischen Augenblick, aber auch die historische Ewigkeit. Da ist die Bildhauerin, Malerin und Grafikerin Käthe Kollwitz, die sieht, was kommt, die sich dem Kommenden künstlerisch versucht entgegen zu stemmen und doch nicht mit letzter Konsequenz die Leinwand gegen die Wirkstoffe der Wirklichkeit tauscht; es wird uns vorgestellt die Dichterin Anna Andrejewna Achmatowa, die vielleicht bedeutendste Lyrikerin, die die Sowjetunion hervorgebracht hat und der das doch nicht nutzte in Stalins Flüstergesellschaft kein unglückliches Leben leben zu müssen; da ist Roman Karmen, der als Kameramann und Regisseur für Stalin die Opfer des russischen Volkes im Krieg einfing und dokumentarisch die Anstrengungen des Sowjetsozialismus festhielt; und schließlich – für den Roman maßgeblich und „heimliche“ Hauptfigur, zumindest der Protagonist, zu dem dieser scheinbar frei mäandernde Textkörper dann doch immer wieder zurückfindet – begegnen wir Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch, des Formalismus verdächtiger und damit Jahrzehnte in einer prekären Lage lebender, äußerst vielseitiger Komponist, dessen Opus 40 und Opus 110 dem Leser die maßgebliche Differenz zwischen dem Privatesten und dem Öffentlichsten demonstrieren: Ersteres ein Werk der (von Vollmann erfundenen) Liebe zu Elena Konstantinowskaja, die Schostakowitsch nie ehelichte, die er immer liebt und der er dieses Werk heimlich widmet, in das er nicht nur das Transzendentale der Liebe, sondern auch das rein materielle der Erotik eingeschrieben hat; letzteres ein Werk, das in seinen schweren Harmonien, seiner Düsternis und Getragenheit versucht, den Schrecknissen des 20. Jahrhunderts, des Krieges, eines Lebens in Angst in einem totalitären Staat Ausdruck zu verleihen.
Vielleicht – so scheint sich dieses Buch zu fragen – vielleicht sind der Wahnwitz, der Wahnsinn, das Wahnhafte dieser Historie, dieses Jahrhunderts des Untergangs, der Gewalt, der Angst und Wirrnis nur als Kunst begreifbar zu machen? Zu begreifen? Und bedenkt man, daß sich einer der beiden Hauptprotagonisten – im Buch konsequent „der Schlafwandler“ genannt – dieses „titanischen“ Ringens der Zwillingssysteme zum Künstler berufen fühlte und einige nachgeborene Interpreten das, was er anrichtete, als ein Maximalkunstwerk verstanden haben wollten, dann ist vielleicht gerade und nur die Kunst geeignet, denen, die diese Schrecken nicht erleben mussten, aber auch den Zeitgenossen, die wie Geworfene den Zeitläuften ausgesetzt waren, zu vermitteln, WAS eigentlich da über sie gekommen ist? Und vielleicht wird selbst der zum Künstler, der sich als Soldat versteht, in jenem Moment, in dem sein Handeln das herkömmliche des Soldaten unterläuft und die Wirrnis der Ereignisse verdeutlicht, bizarr verdeutlicht. Wie Kunst das, was „darunter liegt“, zum Vorschein bringen kann, bringt die widersinnige Handlung des Soldaten das zum Ausdruck, was der Krieg ad absurdum führt (jede Art der Menschlichkeit) und was den Krieg ad absurdum führt (Unkenntnis der Grundlage des eigenen Handelns). So stehen an den Rändern dieses Opus ohne Zentrum mit Andrei Andrejewitsch Wlassow, Friedrich W.E. Paulus und Kurt Gerstein drei Soldaten, die jeder auf seine Art und Weise ihr Da-Sein unterminiert haben und in den scheinbar so folgerichtigen Ablauf der Gezeiten maximalen Widerstand trieben. Wlassow, der bis in den Sommer 1942 als Held der Sowjetarmee galt und dann in der Gefangenschaft die Seiten wechselte und die „Russische Befreiungsarmee“ aufbaute, um an der Seite der Faschisten gegen Moskau zu kämpfen; Paulus, der so unbedingt Feldmarschall sein wollte und von Hitler den Rang lediglich erhielt, weil dieser meinte, ihn damit zum Selbstmord nötigen, ja, zwingen zu können, der sich aber ergab und aus den Weiten Rußlands per Funk die Deutschen aufrief, sich Hitler zu widersetzen; Gerstein, der als Angehöriger der SS in den Todeslagern arbeitete und schon während des Krieges versuchte, sein Wissen an die Alliierten weiterzugeben und dann doch in den Gefängnissen eben dieser Alliierten den Tod fand. Ihnen allen sind Biographien eigen, die den scheinbar so schicksalhaften Lauf dieses kurzen 20. Jahrhunderts in Frage stellen, eben – ad absurdum führen. Sie stehen mit ihren jeweiligen Biographien aber auch dafür, was oben erwähnt wurde – daß Geschichte er- und gelebt wird und nicht theoretischen Konstruktionen folgt.
Das klingt alles nach einem wirklich großen Wurf. William T. Vollmann wollte diesen großen Wurf auch, das ist dem Werk auf nahezu jeder Seite anzumerken. Und man möchte dem Werk auch Gelingen zuschreiben, auch dort, wo das Konzept nicht wirklich aufgeht. Vollmann hätte, um ein „dialektisches Gleichgewicht“ zu schaffen, seinen Betrachtungen des Sowjetlebens eine mindestens ebenbürtige Sichtweise auf den oder aus dem Hitlerismus heraus gegenüberstellen müssen. Doch zu Nazi-Deutschland fällt dem Autoren, der im Übrigen ein ausgewiesener Antikommunist ist, was seine manchmal nahezu boshafte Lust erklären mag, mit der er seine Stimmen voller Zynismus aus dem Inneren des Stalinreiches berichten läßt, nicht viel ein. So greift er denn auf die Nibelungensage zurück, mischt ein wenig Kyffhäuserromantik hinzu und läßt – selbstredend – Wagners schwere Töne subtextuell dräuend das Ganze untermalen. Während uns eine Stimme, die zwar in Ich-Form spricht, sich aber nie wirklich zu erkennen gibt, also durchaus einem jener „Flüsterer“ gehören könnte, von denen uns Orlando Figes in seinem Monumentalwerk zum Privat- und Zivilleben im Stalinismus berichtet, begegnen wir auf „deutscher Seite“ nie einer ähnlichen, vergleichbaren Stimme. Als bliebe Vollmann das Reich des Postkartenmalers schlicht fremd – oder hat der Autor Angst, dieses Reich des Dunklen zu betreten, weil er weiß, zumindest ahnt, daß die reine Aufrechnung der 20 Millionen Toten, die Stalin zu „verbuchen“ hat, gegen die des „Schlafwandlers“ schlicht nicht aufgeht? Daß da bei aller gewollt apologetischen Relativierung, die uns Historiker wie Ernst Nolte im ‚Historikerstreit‘ angeboten haben, eben doch eine Fallhöhe bleibt, die sprachlich auszuleuchten, zu vermessen vielleicht einem Paul Celan oder einer Rose Ausländer und ihren spezifischen – weil lyrischen – sprachlichen Zugriffen gelingen kann, in einem Roman aber von allem Anfang an nichts zu suchen hat. Dazu braucht ein Roman zu viele Worte und unter all den Worten – dafür gibt dieses Buch beredt ein Beispiel – kann sich der Schrecken dann eben auch wieder verstecken. ‚Europe Central‘ steht auch für die Schaltstelle einer Telefongesellschaft, für jenen Knotenpunkt, wo alle Gespräche zusammenlaufen und vermittelt werden, manchmal falsch und manchmal gar nicht, dann hängt man im leeren Raum einer nicht vorhandenen Verbindung. Sprache wird damit ad absurdum geführt. Das Telefon in dieser „klassischen“ Version steht einerseits für die Moderne, doch auch für ein babylonisches Sprachgewirr. Als wolle sich der Roman und mit ihm sein Autor dessen versichern, daß sich die Masse an Worten nicht verheddert, daß sich die Schichten, Pfropfungen und Markierungen all der genutzten Begriffe nicht in die Quere kommen, wird die ‚Schaltzentrale Europas‘ beschworen – Sprache heraus aus dem Reich und hinein in die Weite der Räume des Unternehmen Barbarossa. EUROPE CENTRAL ist auch ein abstraktes Sprachgebilde, das sich dennoch nicht messen will (und kann) an den Engführungen eines Celan, den Schattensprüngen einer Ausländer und erst recht nicht am Schmerz einer Nelly Sachs.
Vollmann wird von der Kritik allerdings attestiert, die Schrecken anschaulich zu machen. Dem kann sich dieser Rezensent nicht anschließen. Wohl gelingen ihm momentweise sprachliche Aufbrechungen, die uns das Grauen durchaus erahnen lassen. Es gelingt dem Autoren auch, in den entscheidenden Momenten aus dem Modus des vorherrschend ironischen Tons in einen dem Geschehen angemessenen umzuschalten. Doch es bleibt sprachlich, was sicher einer postmodernen Reflexion nahekommt: wir begegnen der Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die, bevor sie von den Deutschen gehängt wird, ausrief: „Ihr könnt nicht Hundertneunzig Millionen Russen aufhängen!“ und damit zur Ikone der Partisanenbewegung wurde; so schrecklich nun ihr Schicksal war, auch jenes, das ihr nach ihrem Tod zuteil wurde – nämlich komplett entmenschlicht nur noch auf diesen Satz reduziert zu werden – kann Vollmann doch nur exakt dasselbe tun: Sie auf diesen Spruch und ihre Legendenwerdung zu reduzieren (s.S. 511-516). Und sprachlich die Bewegung hin zum Mythos nachvollziehen. In diesem Werk bleibt alles auf der rein sprachlichen Ebene und so empfinden wir das Donnergrollen der deutschen Geschütze vor Leningrad nicht wirklich, uns bleiben die Toten der alliierten Luftangriffe auf Dresden seltsam fern und fremd (zumal gerade hier Kurt Vonnegut einen ähnlich abstrakten Text geliefert hat, der uns allerdings die Furcht und den Tod mehr als deutlich hat spüren lassen). Am ehesten empfinden wir noch emotionale Beteiligung dort, wo uns der Text Schostakowitschs Zugriff auf die Wirklichkeit des Krieges schildert: Wenn dem Maestro jeder Mörserschuß , jede Bombe, jeder Einschlag einer Granate in die Mauern der altehrwürdigen Stadt am finnischen Meerbusen eine Note auf dem Papier wird, einen weiteren Ton in einer Symphonie bedeutet, die bis dahin nur in seinem Kopf existiert. Aber auch hier: Nichts als Abstrakta. Auch Schostakowitsch WEISS um die Schrecken des Krieges und ist doch so dankbar, daß er und seine Frau ausgeflogen werden. Der Krieg bleibt ihm ein Gedröhn.
Vielleicht ist eben wirklich nur die Kunst – ob bildlich, sprachlich, musikalisch oder bildnerisch – in der Lage, den Wahnsinn dessen zu fassen, was das kurze 20. Jahrhundert im Kern ausmachte, ihm Ausdruck zu verleihen. Dem trägt Vollmann mit seinem Konzept eines „Künstlerromans“ durchaus Rechnung, da wird er seinem Material mehr als gerecht. Auch die Idee, (wechselnde) Erzähler – neben einem auktorial das große Ganze überblickenden Allwissenden – aus ihren jeweiligen Perspektiven subjektiv berichten zu lassen, macht Sinn: Geschichte wird „erzählt“, Geschichte wird „übertragen“, Geschichte wird geschrieben – und immer gibt es dahinter einen formenden, organisierenden Geist, ob Redner, Medium oder den Schreiber (der in diesem Falle natürlich Vollmann selber ist). Eines jedoch ist Geschichte (als Historie; Historizität) nie – objektiv. Möglicherweise nicht einmal die gerade geschehende Geschichte. Das wissen wir, die Menschen des 21. Jahrhunderts nur allzu genau. Doch sind das natürlich im Jahr 2014 auch Binsenweisheiten. Und es waren auch in den zehn Jahren, die Vollmann an seinem Werk wohl geschrieben hat, schon Binsenweisheiten. Wo will er dann mit diesem ganzen Geschichtswust eigentlich hin? Geht dieses Konzept nun auf oder eben nicht? Vielleicht kann es das gar nicht, in der Fülle des Materials, im Angesicht der schieren Größe des zu bewältigenden Projekts. Die verhandelten Biographien erscheinen manches Mal zu willkürlich gewählt, dafür ist dann auch die Verschränkung der „großen“ Geschichte und ihrer dialektischen Systemkriege mit der „kleinen“ Geschichte – der Liebe zwischen Schostakowitsch und Elena Konstantinowskaja, also zwischen Mann und Frau, die nicht lebbar ist und dennoch Hoffnung gebiert – zu gewollt. Sicher sind das alles gut gedachte Ideen und Gedanken, auch die Tatsache, daß Vollmann sich da, wo seine Abstrakta nicht aufgehen, eben die nötige künstlerische Freiheit nimmt und Elena als bisexuelles Wesen uneindeutig werden, sie nebenbei zwar gekonnt aber böse charakterisiert als unnahbare Frau, die die Männer im Unklaren und damit im Leiden verbleiben läßt. Wobei diese Charakterisierung mit zum Stärksten gehört, was der Roman zu bieten hat, denn in diesen Passagen wird plötzlich Leben spürbar, gelingt es Vollmann, männliche Verständnislosigkeit vor dem Wesen „Frau“ zu verdeutlichen und damit das Augenmerk auf einen Punkt in diesem Geschichtskonstrukt zu richten, der gern vergessen wird – daß dieses Jahrhundert eines war, welches Frauen eben in extrem männliche Korsette zu zwängen bereit, der späte(re) Feminismus also keineswegs einfach nur eine Marotte der Frauen, sondern Folge der Notwendigkeiten war, die der Bolschewismus vielleicht einfach früher zu erkennen bereit gewesen ist. Die Figur der Elena Konstantinowskaja ist die eigentlich zentrale Figur, wird sie doch in ihrer Distanziertheit zur maximalen Differenz, stellt vielleicht die absolute Differenz her zu den Männern. Soja wird von Vollmann dem Land selber eingeschrieben, ihr Körper wird ihm zu einem Teil des Landes. Sie ist also reine Sprache, wie oben erwähnt, ohne eigenes Leben, eine Dame ohne Unterleib, ein Wesen ohne Haut und Knochen, ohne Fleisch und Herz, reines Symbol aus sprachlichen Zeichen. Es bleibt nur Elena Konstantinowskaja die Rolle einer wirklichen Frau, die lieben will, die die normativen Ansprüche ihrer Zeit nur schwer ertragen und akzeptieren kann und so einer Welt entäußerlicht bleibt, die vom Wirken der Männer geprägt ist. Dieses Wirken ist zerstörerisch – durch den Krieg – oder schöpferisch – in der Kunst. Nur im Leben selbst gelingt ihnen wenig, sind sie feige, bleiben sie hinter der Intelligenz der Frauen zurück (was Vollmann auch in jenen frühen Kapiteln um die Kollwitz, die ebenfalls uneindeutig als Frau und Künstlerin bleibt, andeutet). Männer haben keinen primären Zugriff auf die Welt, das Dasein, und so bleibt einem Menschen wie Schostakowitsch unergründlich, was eine Frau wie die Konstantinowskaja überhaupt antreiben mag, was sich in deren Herzen abspielt. Indem Vollmann uns fast seriell einzelne Satzfetzen und wiederkehrende Phrasen aus den Begegnungen der beiden über den gesamten Roman verteilt immer wieder vorsetzt, wird diese Unergründlichkeit noch gesteigert, erweitert zu einem Scheitern vor- und aneinander, das ein ganzes Leben umfasst. Und im Übrigen auch ein Scheitern vor der Sprache darstellt. Was eine Frau sagt, kann ein Mann kaum verstehen, umgekehrt mag es ähnlich sein.
Das alles ist starker Tobak, den zu lesen Zeit, Aufmerksamkeit und lange Weile braucht. Und leider folgt daraus auch streckenweise Langeweile. Man erwartet zunächst keinen Roman über Schostakowitsch und auch nachdem man die vollen 950 Seiten gelesen hat, bleibt die Frage offen, ob das alles wirklich aufgeht, ob diese Konstruktion sich runden will, sich fangen und dann als Gerüst funktionieren kann. Und dies, obwohl und gerade weil wir wissen, daß das nicht möglich ist, obwohl wir wissen, daß sich „Wirklichkeit“ und das, was wir gern vereinfachend „Realität“ nennen, niemals im Zirkelschlag einer Konstruktion formen, gleich gar nicht in gefertigte Formen pressen läßt. Kann man das 20. Jahrhundert einfangen zwischen Opus 40 und Opus 110, kann man dies alles wirklich in die Dialektik von Geschichte und Privatheit spannen? Reichen die gewählten acht, neun Biographien aus, um einen Bogen zu schlagen, der wirklich umspannt? Und bleibt nicht zu Vieles außen vor, was schlicht in das Spannungsfeld dieser Geschichte gehört hätte, an das sich Vollmann aber scheinbar nicht herantraut? Der Holocaust zum Beispiel? Diesen nur durch die Augen eines SS-Mannes zu betrachten, ist Jonathan Littell gelungen, hier mutet es streckenweise obszön an, auch, weil Gersteins Motive uns Heutigen so unklar sind. Doch muß man auch an dieser Stelle Vollmann zumindest Respekt dafür zollen, was er bereit ist, als Autor an Wagnis einzugehen. Denn eines wird man ihm gewiß nicht vorwerfen können: Daß er sich seinem Sujet nicht mit äußerster Ernsthaftigkeit genähert hätte. Er schlägt einen manchmal ironischen, manchmal ins Sarkastische kippenden Ton an, er unterstellt dem eigenen Text eine gewisse Unseriosität (und grüßt nicht nur damit durch die Zeiten hinweg seinen Kollegen Thomas Pynchon), doch sind dies schriftstellerische Distanzierungen. Vollmann schreibt sich seinem Werk ein, was höchst (post)modern ist und bei einem solchen Umfang wahrscheinlich auch schlicht nötig. Damit geht er das Wagnis ein, angegriffen zu werden, was seine Position als Autor gefährlich macht. Allein für dieses Risiko sollte man ihm ebenfalls Respekt zollen. Ein gewaltiger Wurf ist das schon. Das ist keine Frage. Es bleiben eben nur ganze Fragenkataloge offen, die das Buch schlicht umgeht oder denen man sich mit Vollmanns Herangehensweise nicht nähern kann. Doch sollte man dies einem Text nicht zum Vorwurf machen, ein einzelner Text wird nie der Welt, der „wahren“ Geschichte, Rechnung tragen können. So kann man dem allen sowohl literarisch/formal als auch und vor allem inhaltlich – also philosophisch und historisch – durchaus zwiespältig gegenüberstehen. Es abzutun, wäre unredlich. Die Lektüre lohnt sich unbedingt, ja, Vollmanns Werk wird als Literatur Bestand haben und vielleicht in den Kanon jener Bücher von Weltrang aufsteigen können, den die oben Erwähnten bereits erreicht haben. Denn Vollmanns Werk steht – wie das von Littell – am Anfang jener Periode, die ab nun nie mehr enden wird: Es erzählen jetzt die Nachgeborenen, die Zeitzeugen gehen uns verloren. Was den Holocaust angeht ebenso, wie die Kriegszeitzeugen und jene, die Stalins fürchterliche Lager überlebt haben. Fiktionalisierung – die laut Hayden White jede historische Beschreibung sowieso schon ist – wird ab hier die Beschreibung der Schrecken bestimmen, nicht mehr der Augenzeugenbericht. Und liest man einige der Machwerke, die schon zum Holocaust erschienen sind, muß man froh und dankbar sein um jede intellektuell redliche Auseinandersetzung mit dem vergangenen Jahrhundert. Und intellektuell redlich ist Vollmanns Riesentext allemal. Obwohl er selber im Nachwort darauf hinweist, hier sei es nicht um die Genauigkeit historischer Faktizität, sonder es sei um die passende Metapher gegangen, um das Allegorische des Textes auszuweisen, kann man davon ausgehen, daß Vollmann eine sehr genau Recherche durchgeführt hat.
So müssen hier 4 Sterne stehen, da Vollmanns Werk den Rezensenten teils mit argem Bauchgrimmen, manchmal wahrem Zorn und oft rauchendem Kopf zurückgelassen hat. Literatur die fordert – was sie soll und was Weltliteratur ja auch bestimmt. Der letzte Stern bliebe aber einem Konzept vorbehalten, dem ich zustimmen könnte, welches mich überzeugter zurückgelassen hätte. Ein Konzept zum Beispiel, wie Pynchon es in GRAVITY’S RAINBOW angewandt hat. Dieser Abstand muß gewahrt bleiben – aus meiner Sicht. Doch sollte Vollmanns Werk gewisse Diskussionen zumindest noch einmal anstoßen und vergegenwärtigen. Ob er diesen noch wirklich Neues hinzuzufügen hat, sei einmal dahingestellt. Das wird ein jeder Leser wohl selbst herausfinden müssen. Und das lohnt sich.