RUE ORDENER, RUE LABAT
Umwege zu einer Sprache der Auslassungen - Sarah Kofman erzählt von ihrem Leben
Die französische Philosophin Sarah Kofman – lange Jahre Assistentin des Meisterdenkers Jacques Derrida, doch auch selbst Autorin bedeutender Werke zu Freud, Shakespeare, Nietzsche und – ja, auch das – Derrida selbst, legt 1994 den schmalen Band RUE ORDENER, RUE LABAT vor, keine hundert Seiten stark, schließt den ersten Absatz mit den Worten „Vielleicht waren meine zahlreichen Bücher Umwege, die notwendig waren, um endlich ‚dies‘ erzählen zu können.“ und nimmt sich danach, am 15. Oktober desselben Jahres, das Leben.
„Dies“ ist eine ebenso knappe wie schmucklose Beschreibung der Jahre ihrer Kindheit – als eines von sechs Kindern eines Rabbiners in Paris – die durch die deutsche Besatzung des Landes und die ständige Angst vor Entdeckung und Deportation geprägt waren. Der Vater ist ihr ein Fels, die Erinnerungen an ihn und die Feste, die daheim und in der Synagoge gefeiert wurden, seine Präsenz als Autorität und Patriarch, geben ihr Halt. Doch bald nach der Besatzung wird er abgeholt, es kommen noch ein, zwei Briefe aus den deutschen Lagern, dann verstummt er, für immer. Ihr bleibt ein Füller als Erinnerung, aber auch als Aufforderung, zu schreiben. Ein Menetekel? Es beginnt eine Odyssee durch diverse Pariser Arrondissements, die überforderte Mutter versucht, ihre Kinder an den unterschiedlichsten Orten und Stellen zu verstecken, bis Sarah schließlich bei einer älteren Dame in der Rue Labat unterkommt, die sie sehr liebt und bald „Omi“ nennt. Eine Omi, die sie der eigenen Familie schnell abspenstig macht, auch mit einem unterschwelligen Antisemitismus. Das in ihrer Obhut befindliche Mädchen soll nach und nach „umerzogen“ werden und läßt sich dies gefallen. Mehr noch: Es entgleitet der Mutter und präferiert die ältere Dame als „Ersatzmutter“ deutlich. Diese Konkurrenz führt nach dem Krieg zu schrecklichen Zerwürfnissen zwischen Mutter und Tochter und prägt Sarah Kofman nachhaltig fürs Leben.
Iris Radisch hatte in der ZEIT den Mut, dies Bändchen als „gescheitert“ zu bezeichnen und man ist versucht, sich ihr anzuschließen. Erwartet man eine Autobiographie, wie die engere Definition des Begriffs sie bedeutet, wird man schnell enttäuscht sein. Doch allein der geringe Umfang läßt schon ahnen, daß man es hier eben mit keiner herkömmlichen Autobiographie zu tun haben kann.
Man kann in gewisser Weise nur spekulieren, aber vergessen sollte man sicher nicht, daß Kofman war, wer sie war: 18 lange Jahre die Assistentin des Denkers der Dekonstruktion, der Dissemination, des Archivs, der Signatur; ein Denker, der auch immer wieder die Leerstelle, die Lücke thematisiert hat, die uns fast ebenso viel (wenn manches Mal nicht gar mehr) verrät über den Text, die Textur und die Kontextualität eines textlichen Gewebes, als die Zeichen selbst, die den Text spinnen, ihn weben, markieren, bedeuten. Auch sollte man nicht vergessen, daß sie das Werk „Derrida lesen“ vorgelegt hat und also sehr genau wusste, worum es geht, wenn von Texten und Texturen – und Leerstellen – die Rede ist.
Und so sollte man vielleicht diesen Text, diese „Autobiographie“, unter genau diesen Vorzeichen lesen: Was sind die Leerstellen dieses Textes, dieses Lebens? Was drücken sie aus? Die maximale Distanz, die diese Erzählerin zu den „Dingen des Lebens“ einhält, ist fast schmerzhaft in ihrem maximalen Unbeteiligtsein. Schmerz, ausgelöst durch die (textliche) Abwesenheit des Schmerzes. Selbst da, wo von schlimmen Erfahrungen berichtet wird – der Deportation des Vaters, den Kämpfen mit der Mutter, der inneren Distanz schließlich auch zu „Omi“ – bleibt die emotionale Beteiligung reine Behauptung, ja, oft genug hat der Leser den Eindruck, daß die Icherzählerin sogar maximale Distanz zu diesem (manchmal unsympathischen) Kind einnimmt, von dem sie da berichtet.
Abwesenheit prägt den Text: Abwesend die Emotionen, abwesend das Mitgefühl (auch mit sich selbst), abwesend die Familie – man erfährt gerade einmal die Namen ihrer Geschwister -, keine Empathie für eine Frau, die in der schlimmsten Zeit, die man sich wohl vorstellen kann, versuchte, sechs Kinder durchzubringen. Und abwesend eben auch die innere Nähe zu diesem (egozentrischen) Kind. Iris Radisch bringt den Vergleich zu Ruth Klügers Bericht „weiter leben“, das von ähnlich gnadenloser Distanz geprägt ist, und das ist richtig, der Vergleich drängt sich auf.
Wenn stimmt, was die Autorin Kofman anfangs schreibt – daß all ihre Bücher wohl Umwege gewesen sein mögen, auch (vielleicht), um sich dieser maximal kargen Sprache bedienen zu können – und wenn man die Bereiche bedenkt, in denen Kofman gearbeitet hat, dann sollte man vielleicht diese Leerstellen des Textes sehr viel weiter interpretieren, als z. B. Radisch dies zulassen will. Es könnte sein, daß ein Gefühl unendlicher Verlorenheit und auch eines der Schuld sich ausdrückt in diesen Leerstellen. Die Abwesenheit all der Empathie gegenüber anderen und sich selbst drückt diese vielleicht weitaus besser aus, als wenn man darüber schriebe, daß da eine fehlende Empathie war. Was fehlt, kann eben nicht „da“ sein.
Hinzu kommt eben das angedeutete, unterschwellige Gefühl einer Schuld – der ungeliebten Mutter gegenüber? Oder gegenüber der allgemeinen Geschichte selbst, der jüdischen im Besonderen? Über lange Strecken des Textes drängt die Auseinandersetzung einer Tochter mit der Mutter die vermeintlich doch so viel „schlimmere“ Thematik der drohenden Vernichtung zurück, haben wir es mit einer Abnabelung unter verschärften Bedingungen zu tun. Auch hier sind es Abwesenheiten, die prägen: Die „falsche“ Angst (vor dem Verlust der „falschen“ Mutter) verdrängt die „richtige“ Angst (vor der Vernichtung) und macht sie abwesend. Ein Skandal – für die Autorin ebenso, wie für den Leser, der ja seine ganz eigenen Erwartungen an einen Text zu „diesem“ Thema hat.
Da, an diesem Punkt der Überlegung, wird die Lektüre des Bandes plötzlich unerträglich und sehr schmerzhaft. Und dieser Überlegung immanent ist jene andere, gerade angedeutete, die auf Umwegen, leise und schleichend daherkommt: Nimmt man eine der zentralen Thesen der poststrukturalistischen Theoretiker, die von Roland Barthes explizit ausformulierte These vom „Tod des Autors“, ernst, dann löst sich ein Text beim Lesen sowieso unmittelbar vom Autor, dem „Verfasser“, der dem Text doch keine „Verfasstheit“ geben kann. Die nämlich liest der Rezipient in den Text hinein, gibt der Leser dem Text. Und wenn wir uns dann also dieser „Autobiographie“ nähern, die eben auch die Beschreibung einer Kindheit unter den Vorzeichen der industriellen Vernichtung ist, dann wirft uns das auch auf uns und unsere Leseerfahrung zurück. Wir kennen die Beschreibungen eben einer Ruth Klüger, eines Primo Levi oder Jean Améry, die „skandalösen“ Texte eines Imre Kertész und all die unzähligen und unglaublich wichtigen Texte derer, die Zeugnis abgelegt haben vom Grauen der Deportation, der Lager, vom Massensterben und massenhaften Getötetwerden. Wir haben also auch eine gewisse Sozialisation der „Grauensliteratur“ in uns – und Kofmans Text unterläuft diese Sozialisation. Wenn jeder Text mit jedem Text in Korrespondenz steht (und Derrida hat dies oft so trefflich bewiesen, sei es in „Glas“ oder auch in der „Postkarte“), dann kommuniziert dieser im Rezipienten natürlich mit all den Werken der Literatur, die AUCH „davon“ berichten. Und plötzlich muß man feststellen, wie innerlich eine Art „Rangliste“ entsteht, ein Vergleichen, eine Abwägung zwischen diesem Text und anderen zum selben Thema. Eine rezeptionelle Obszönität, die wir selber schaffen, sozusagen.
Wenn Kofmans Text also nichts weiter auslösen sollte in einem potentiellen Leser, als dies festzustellen und sich auf das, was dies dann bedeutet, hin zu untersuchen, dann hat er einen enormen Akt in der und für die Rezeptionsgeschichte geleistet. Ob Kofman das wollte? Da kann man nur bitten, ihre und die Werke ihres Kollegen Derrida zu lesen, um die Antwort auf DIESE Frage zu erhalten.