HIMMEL & ERDE/THE HEAVEN & EARTH GROCERY STORE

James McBride entführt die Leser*innen in ein Amerika, wie es einmal möglich erschien

James McBride gelingt in seinem Roman HIMMEL & ERDE (THE HEAVEN & EARTH GROCERY STORE, Original erschienen 2023; Dt. 2024) ein besonderes Kunststück: Er erzählt vom weitestgehend friedlichen Zusammenleben in einem Viertel in Pottstown, Pennsylvania, in den 1930er Jahren, dessen Bevölkerung sich aus Schwarzen und Juden bildet, ohne dabei in die für sogenannte „Feelgood“-Literatur so häufige Sentimentalität zu verfallen. Vielleicht ist dies eben auch kein Stück dieses nie näher definierten Genres, sondern einfach ein humanistisch geprägter Roman über ein Amerika, das einmal möglich war – und das sich möglicherweise verloren hat in den vergangenen 40, 50 Jahren.

Das dem Original seinen Titel gebende Lebensmittelgeschäft wird von Chona Ludlow betrieben, deren Mann Moshe ein Theater im gleichen Viertel betreibt und dort schon früh – und gegen die gängigen Gepflogenheiten – nicht nur berühmte jüdische Klezmer-Gruppen auftreten lässt, sondern auch schwarze Swing- und Jazzbands. So kommen spätere Größen wie Cab Calloway und Louis Armstrong nach Pottstown und bescheren der Stadt und vor allem seiner schwarzen Bevölkerung beachtenswerte Shows, unvergessliche Abende. Moshe will es irgendwann seinen jüdischen Brüdern und Schwestern gleichtun und das Viertel verlassen, näher an die Innenstadt ziehen, in die „besseren“ Viertel. Doch Chona wehrt sich mit Händen und Füßen. Sie will ihren Laden nicht aufgeben, obwohl der nie, nicht einen Tag lang, Gewinn abwirft, sie will ihn weiterbetreiben und dem Viertel damit ein Stück seiner Seele bewahren. Denn dieser Laden, wo jeder Kredit bekommt und nie eine Rückzahlung eingefordert wird, ist so etwas wie das Herzstück von Chicken Hill, diesem Viertel, in dem eine bessere amerikanische Zukunft einmal möglich schien. Und damit die Seele bewahrt wird, muss Chona – eine Kennerin der Schriften von Marx, Engels und anderer revolutionärer Autoren – nah am Geschehen sein, sie muss hier leben, das Sein vor Ort spüren, atmen, um es zu verstehen. Und zu verändern.

McBride ködert seine Leser*innen mit einer oberflächlich als Kriminalgeschichte getarnten Rahmenhandlung, die aber schnell vergisst, wer sich erst einmal in die tieferen Schichten von Chicken Hill hineingelesen hat. Denn was zunächst wie die Geschichte dieses so ungleichen Ehepaars, den Ludlows, aussieht, entpuppt sich nach wenigen Kapiteln als ein weites Panorama des Viertels und der Menschen, die hier leben. Und vieler, vieler anderer. Denn jeder, der hier auftritt, und sei seine Rolle als Figur im Reigen des Romans auch noch so klein, wird vom Autor mit Aufmerksamkeit bedacht und somit dem lesenden Publikum nähergebracht. Manchmal mit nur einigen Zeilen, manchmal mit seitenlangen Anekdoten und Beschreibungen aus dem Leben des Betreffenden. Einige davon treten wirklich nur am Rande des Romans auf, andere, von denen man dies angenommen hatte, tauchen später, wenn McBride dann doch eine im engeren Sinne als Handlung zu bezeichnende Geschichte erzählt, plötzlich in gelegentlich wesentlichen Rollen, manchmal nur als Statisten in einem hintergründigen Spiel auf.

Es ist ein liebevoll gestaltetes Kaleidoskop unterschiedlichster Geschichten und Erzählungen, die hier zusammengetragen werden. Geschichten von Freundschaften und Bekanntschaften, auch von Feindschaften, oft von den gewitzten Methoden, mit denen diese ausgetragen, oft auch umgangen werden. Es sind Geschichten vom unteren Rand der amerikanischen Gesellschaft und es gelingt – ohne dass der Autor dies didaktisch vor sich her trüge – den Lesenden zu veranschaulichen, was es bedeutete, in diesem Land nicht zu den privilegierten, weißen, protestantischen Schichten zu gehören. Denen, die sich die politische, kulturelle, soziale und gesellschaftliche Macht untereinander aufteilten, gleich ob man zu den oberen Zehntausend, den Honoratioren also, gehörte, oder ob man lediglich ein kleinbürgerlicher Angestellter oder Handwerker oder gar „nur“ Arbeiter war. Weiß und protestantisch ist das Privileg gewesen. Dunkler Hautfarbe zu sein, jüdisch zu sein, katholisch zu sein (was im Roman keine so große Rolle spielt, jedoch Erwähnung findet), bedeutete zugleich auch immer, unterdrückt, zumindest an den Rand der Gesellschaft gedrückt zu werden, bestimmten, oft ungeschriebenen, Regeln zu unterliegen und sehr, sehr vorsichtig sein zu müssen, was man sagte und zu wem man sprach und vor allem: Wie man zu jemandem sprach.

Da ist es vielleicht besser, gar nicht zu sprechen – und erst recht nicht, zu hören, was um einen herum geredet wird. So geht es Dodo, einem schwarzen Waisenjungen, der sein Gehör bei der Explosion eines Ofens verloren hat. Chona nimmt ihn unter ihre Fittiche, nachdem Nate, jener Schwarze, der in Moshes Theater arbeitet und sich um nahezu alle technischen Belange kümmert, sie darum bittet. Doch die Behörden sind hinter dem Jungen her, alles muss ja seine Ordnung haben. Und ein weißer Arzt, der von Chona angegriffen wurde, da er bei der jährlichen Parade des Ku-Klux-Klans an vorderster Front mitläuft, weiß diese Gelegenheit zu nutzen, um sich an der jüdischen Krämerin, die so viel mehr ist als das, zu rächen.

So tritt McBrides Erzählung ab der Mitte des zweiten von insgesamt drei Teilen, aus denen der Roman besteht, in eine engere Handlung ein. Nun geht es darum, wie Chona und einige Getreue – erst recht die Getreuen, nachdem Chona schwer erkrankt – versuchen, Dodo zu schützen; wie der aber eingefangen und in eine Psychiatrie eingeliefert wird, da niemand weiß, ob er ganz klar im Kopf ist oder vielleicht doch schwachsinnig; wie er dort Monkey Pants kennenlernt, einen spastisch gelähmten Jungen, der ihn schließlich retten wird, als es darauf ankommt, weil der „Menschensohn“, ein diabolischer Pfleger, sich Dodos bemächtigen will; und wie es Nate und einigen seiner Freunde, so er denn welche hat, gelingt, Dodo zu befreien und schließlich aus der Stadt zu bringen. Parallel dazu wird die Geschichte von Fatty erzählt, der eine Kneipe in Chicken Hill führt, in allerlei Unterweltmachenschaften verwickelt ist und der sich nicht nur Nate verpflichtet fühlt, sondern zudem die Aufgabe übernommen hat, das Viertel an die städtische Wasserversorgung anzuschließen. Illegal, versteht sich. Ein schwieriges Unterfangen, infolgedessen viele der Anekdoten, die McBride zuvor erzählt hat, plötzlich an ihren vorgesehenen Platz fallen und das Publikum nach und nach versteht, wie die Dinge sich zueinander verhalten.

Das alles hat sehr viel Witz, ist aber doch auch immer dramatisch und an den angemessenen Stellen dann auch tragisch, denn diese Geschichte erzählt auch von Tod, Verlust und Trauer. Sie tut dies leise, still, wie ein Leichenzimmer an einem warmen Spätsommertag, man sieht hier den Staub durch die Sonnenschlieren tanzen und versteht den Schmerz derer umso besser, die so oft allein damit sind. In seiner Vielschichtigkeit erinnert dies durchaus an einige der Größten der amerikanischen Literatur. Unter anderem an William Faulkner, der oft die tiefgreifenden Weisheiten seiner Romane und Geschichten in scheinbar banalen, alltäglichen Anekdoten zu verbregen wusste. Und auch wenn dies alles nicht im Süden spielt, spielt der Süden hier doch immer eine Rolle. Denn – so seltsam dies klingen mag, und wodurch eine weitere Paradoxie dieses Romans dargelegt wäre – der Süden bleibt hier sogar so etwas wie ein Sehnsuchtsort für die Schwarzen, die einst aus den Carolinas nach Pennsylvania kamen, um ein besseres Leben zu finden und begreifen mussten, dass sie hier lediglich nicht ganz so offen diskriminiert werden, wie dies in der alten Heimat der Fall gewesen war. Es ist schließlich der Süden, der Dodo Schutz bietet und zur Heimat für ein erfülltes Leben werden kann. Denn dort unten sieht ein Schwarzer wie der andere aus – aus weißer Sicht. Und das kann schützen.

Man verlässt diesen Roman mit einem Lächeln, doch ist es auch ein trauriges Lächeln. James McBride vergisst jene nicht, für die es keine sich aufopfernden Freunde und somit auch keine Rettung gab, er vergisst jene nicht, die ihren Teil zum Glück, dem allgemeinen Glück, beitrugen und dennoch keine Gnade und keinen Trost fanden. Er vergisst nicht, dass eine scheinbar durch das Schicksal herbeigeführte Gerechtigkeit in einem Roman zwar für Befriedigung sorgen kann, in der wirklichen Welt meist aber nur ein Trugschluss ist. Er vergisst letztlich auch nicht, einen Roman zu schreiben, wodurch er sich keinen Gefallen tut, denn die erste Hälfte dieses Buchs ist besser als es der Rest sein kann, der sich dann eben an die Vorgaben einer Romanhandlung halten muss. Aber kleinlich will man nicht urteilen. HIMMEL & ERDE ist ein großer Wurf, es ist ein wunderbarer Roman, der lange nachhallt.

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