14
Schmaler Text - weitreichende Wirkung
Wenn es der wissenschaftlichen Literatur, der historischen Fachliteratur, vorbehalten bleibt, uns zu erklären, wie das, was geschah, geschehen konnte, oft und immer noch anhand jener 30, 40, vielleicht 50 Männer (ja, damals waren es Männer), die Entscheidungen trafen, dann wird es wohl weiterhin die Aufgabe der erzählenden Literatur sein, das Augenmerk auf jene zu richten, die die Geschichte zu ertragen, erdulden und oftmals zu erleiden hatten. Den sogenannten „kleinen Leuten“, den „common people“, die die meist abstrakten Entscheidungen der Großkopferten als Konkretes erleben durften, scheint die Literatur weitaus eher gerecht zu werden. So steht ein Werk wie Christopher Clarks DIE SCHLAFWANDLER für eben jene wissenschaftlich akkurate Geschichtsschreibung, die uns detailreich davon zu berichten weiß, wie eine mediokre Politikerkaste einen Kontinent, schließlich fast die ganze Welt, in einen fürchterlichen Krieg hineinschlittern ließen, was trotz lebhafter Darstellung doch eine entfernt scheinende Krise gewesen ist. Erst der theoretisch hergestellte Transfer in die Gegenwart zeigt uns die Parallelen und Gefahren, die in der gegenwärtigen Situation versteckt liegen können. Ein wissenschaftliches Unterfangen, das sein Für und Wider hat, wie die Diskussionen gerade um das erwähnte Buch bewiesen haben.
Jean Echenoz ist ein sehr guter Beitrag dazu gelungen, eben jene edleren Versprechen der Literatur einzulösen. Mit der Zahl 14 ist sein Buch betitelt und damit wird, sobald man die Ziffer als Jahreszahl erkannt hat, ein ganzer Bilderreigen, das Wissen eines Jahrhunderts evoziert, das seither vergangen ist. Und nicht nur das starre, sich objektiv gebende Wissen, sondern auch die Wandlung des Wissens, seine Rezeption und die urteilende Einschätzung, der es ausgesetzt war, wird in der Chiffre ’14‘ umfasst. Darauf kann sich der Autor verlassen, zumal in Frankreich, wo der „grande guerre“ – wie in England – noch weitaus stärker im kollektiven Gedächtnis/Bewußtsein verankert ist, als in Deutschland, wo er durch die Schrecknisse des 2. Weltkriegs übertüncht wurde und uns zeitlich viel weiter entfernt erscheint. Diese Basis, eine Wissensbasis, kann der Autor nutzen, sich sprachlich in die reine Beschreibung fallen zu lassen, ohne umständlich Ort, Zeit und Begebenheit erklären zu müssen. Unser Erschauern muß nicht er auslösen, es löst sich aus, in uns, in der Reibung des in uns angelegten Wissens mit der manchmal scheinbar allzu schönen Sprache, die uns hier begegnet. Das beste Beispiel dafür sind die ersten Seiten des Textes, in dem uns von einem Sommertag im August berichtet wird, davon, wie ein Mann einen Fahrradausflug macht, die Hitze genießt, das Schwirren in der warmen Luft, wir scheinen schier die Zikaden zirpen zu hören, als die Glocken zu läuten beginnen und nicht nur dem Protagonisten sondern auch uns die Mobilmachung verkündet. Echenoz gelingt es immer wieder, diese sprachlichen Spannungsfelder herzustellen, wo der sich uns anbietende Text mit dem Text kollidiert, den wir längst zum Thema in unseren Köpfen haben.
Changierend zwischen elliptischer Erzählstruktur und plötzlichen Ransprüngen an die Mikroebene des beschriebenen Daseins, in weit ausholenden Erzählbögen manchmal in einem Zeilensprung Wochen und Monate umfassend, dann wieder sich verlierend in nahezu besessener Detailverliebtheit bei der Beschreibung einer Wand oder eines Schützengrabens nach einem Granateinschlag, verweigert sich Echenoz‘ Text herkömmlichen Erzählmustern. Eher einem Bericht gleichend – wobei der Autor sich weder scheut, sowohl die Protagonisten, noch den Leser desöfteren direkt anzusprechen und sich selbst zur Ordnung zu rufen, enger am Erzählfluß zu bleiben – wird uns die Geschichte von vier Freunden aus der Vendée erzählt, die bei der ersten Mobilmachung im August 1914 eingezogen und gemeinsam an die Front in der Champagne, dann an die Somme verlegt werden. Dort erleben sie Schreckliches, sterben oder werden fürchterlich verletzt. Kriegsversehrt kehren sie heim, versuchen sich in zerstörten Leben einzurichten und weiterzumachen. Nichts Besonderes. Wie uns der Autor mitten im Text selber mitteilt: „All das ist schon tausendfach beschrieben worden, vielleicht lohnt es gar nicht weiter, sich bei dieser stumpfsinnigen, stinkenden Oper aufzuhalten. Vielleicht ist es übrigens nicht einmal sehr nützlich oder treffend, den Krieg mit einer Oper zu vergleichen, schon gar nicht, wenn man kein besonderer Freund der Oper ist, obgleich der Krieg wie sie gewaltig ist, atemberaubend, exzessiv, voller quälender Längen, wie sie furchtbar viel Lärm macht und auf die Dauer meist auch ziemlich langweilig ist.“ [S.78/79]
Genau das ist der besondere Punkt dieses Romans, der diese Bezeichnung mit seinen 124 Seiten kaum verdient. Es wird nichts Besonderes berichtet, einfach nur das „ganz normale Erleben“ von gut 45 Millionen Menschen, Männern, die am Krieg teilgenommen haben und am Beispiel der Geliebten der Brüder Sèze, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt, was keinen Skandal nach sich zieht, weil die Eltern einerseits liberal genug sind, es die Umstände andererseits sowieso nicht erlauben, bei der Wahl des Gatten oder des Vaters für die eigenen Kinder allzu kritisch zu sein. Es sind schließlich einfach nicht mehr genügend Männer vorhanden. Lakonisch fast wird von den Sorgen der Eingezogenen um ihr Heim, die Kinder, die Fabrik, ihre Jobs erzählt, wird von den Beschwichtigungen und Selbstlügen berichtet, nach denen die meisten ernsthaft glaubten, in wenigen Wochen sei das Ganze vorbei. Ohne das er sich besonderer Erregung oder eines wesentlichen Spannungsaufbaus bediente, gelingt es Echenoz, dem Leser das sich steigernde Grauen zu vermitteln. Dabei – und das muß gesondert hervorgehoben werden, denn hierin scheint sich ein stilistisches Wunderding zu offenbaren – wird uns Lesenden wie nebenbei verdeutlicht, daß dieser Krieg (wie alle wahrscheinlich immer schon) auch ein ‚learning by doing‘ war; es werden uns die Veränderungen an den Uniformen ebenso, wie jene an Waffen oder Tornistern, am Cockpit der ersten Luftwaffenflugzeuge oder den Gasmasken erklärt, deren Funktionalität sich erst im Laufe des Krieges herauskristallisierten. Trotz seines geringen Umfangs bekommt dieser Text eine unheimliche Dichte, wodurch man sich bei aller Distanz, die gerade die elliptische Erzählform schafft, nah am Geschehen wähnt. Ähnlich naiv, wie sich diese Männer dem großen Sterben näherten, nähert sich der Text den historischen Gegebenheiten, wenn er uns fast staunend davon berichtet, wie die strahlend blauen Hosen und die polierten Helme der ersten Regimenter, die diese zu gockelhaften Zielscheiben für die Scharfschützen der ‚boches‘, der Deutschen, machte, gegen die später auch in Frankreich eher braunen und feldgrauen Töne getauscht wurden, die dann in das über die Zeiten überdauernde europäische Gedächtnis an diese Jahre eingegangen sind.
Dies ist ein wunderbares Stück Erinnerungsliteratur. In dem Verzicht auf jede Form spezifischer Story wird den Millionen, die in die Schützengräben gingen – in Frankreich allein über acht Millionen Männer – ein literarisches, ein sprachliches Denk- und – wesentlicher – ein Mahnmal errichtet, das möglicherweise weiter trägt, als jedes steinerne Monument. Es erleben vier Männer hier stellvertretend vier Schicksale, wie sie, ohne daß es je wen kümmerte, millionenfach erlitten wurden. Indem Echenoz darauf verzichtet, pathetisch zu werden, dadurch, daß er sich keine Sentimentalitäten leistet, bekommt sein Text eine wuchtige Wahrhaftigkeit. Anders, als es Pierre Lemaitre in seinem Vexierspiel WIR SEHEN UNS DORT OBEN versucht – der Historie ein Schnippchen zu schlagen, indem man seine zwar versehrten, aber gewitzten Protagonisten einen wie auch immer gearteten Vorteil aus dem Schrecklichen ziehen läßt – , bleibt Echenoz schlicht bei der historischen Wahrheit. Wer die Schlachtfelder überlebt hat, versucht eben, weiterzumachen, arrangiert sich, ohne llusionen, auch ohne allzu viel Gejammer. Diese Lakonie, diese zwischen Kühle und möglicherweise Resignation schwankende Distanziertheit, ist das Schlimmste, das Wahnsinnigste und das Großartigste, was ein Text über den Krieg den Soldaten, die ihn ausfochten, „antun“ kann.
Obwohl das „Erinnerungsjahr“ 2014 ja nun bereits ebenfalls Geschichte ist, sollte dieser Band gelesen werden. Die Welt erlebt massenhaft Kriege und Flüchtlingsströme wie selten. Zugleich erleben wir die Angst im eigenen Land, dieser Flüchtlingsströme nicht Herr werden zu können, erleben wir die Angst, „Europa“ sei ein bürokratisches Monster, erleben wir die Angst, „nationale Entfremdung“ würde uns unserer Eigenheiten berauben. Es kann nicht schaden, sich einmal mehr daran zu erinnern, daß es nicht lange her ist, da war Europa bereit, sich selbst in den schrecklichsten Gräueln zu zerfleischen. Können wir so sicher sein, daß dies nicht wieder geschehen könnte? Es sind auch Texte wie dieser, die uns noch einmal daran erinnern können, was wir an dem Europa haben, das wir heute haben. Ein schmaler Band, der in das weite Meer europäischer Erinnerung eintauchen und dort seine Spuren hinterlassen wird.