JENNY

Fanny Lewalds früher Emanzipationsroman

Aus den aktuell gegebenen Anlässen ist es vielleicht nicht uninteressant, einen Text hervor zu nehmen, den viele wohl vergessen haben dürften. Denn zumindest auf inhaltlich interessante Weise behandelt Fanny Lewalds Roman JENNY (Erstveröffentlichung 1843; hier die Reclam-Ausgabe von 2023, die auf der leicht modifizierten Fassung beruht, welche den Gesammelten Werken von 1872 entnommen wurde) zwei zentrale Themen, die erneut kulturell stark umkämpft sind: Den Feminismus und den Antisemitismus. Für die Frühfeministin Lewald fiel die Emanzipation der Frau und die der Juden zwar nicht unmittelbar in eins, allerdings war beides eng miteinander verbunden.

Verfasst zum Ende jener Epoche, die gemeinhin als Vormärz bezeichnet wird, sind die ersten zwei Drittel des Romans eben zu Beginn genau dieser Epoche angesiedelt. Somit gibt Lewald ein recht stimmiges und eindrückliches Bild jener Ära wieder, ohne von der Literaturwissenschaft unbedingt zu den entscheidenden Autoren des Vormärz gezählt zu werden. Allerdings war sie mit einigen – darunter Heinrich Heine – befreundet und in regem Austausch.

JENNY erzählt die Geschichte der jüdischen Kaufmannsfamilie Meier, die zwar nicht säkular lebt, doch kaum mehr ihren religiösen Traditionen folgt. Vielmehr sind sie, nicht zuletzt aufgrund der Profession des Vaters, Vertreter eines aufgeklärten Bürgertums. Die junge Jenny – titelgebende Figur – verliebt sich in Reinhard, Student der Theologie und Anwärter auf ein Pfarrersamt. Um ihn zu ehelichen konvertiert sie zum Christentum, was ihr grundlegend Probleme bereitet, da es ihr schwerfällt, an die Wunder der christlichen Religion – vorneweg die Lehre der Dreieinigkeit – zu glauben. Als sie schließlich gegenüber ihrem Bräutigam die Schwierigkeiten eingesteht, kommt es zum Bruch. Derweil begehrt ihr Bruder Eduard die junge Clara Horn, deren Familie durchaus antisemitische Vorurteile hegt. Hier ist es schließlich Clara, die von Eduards Angebot Abstand nimmt und ihn bittet, entgegen ihrer beider Gefühle ihr Freund zu bleiben und auf ihre Liebe zu verzichten.

Lewald konstruiert recht geschickt ein doppeltes Romeo-und-Julia-Motiv und zeigt zwei Arten des Umgangs mit den eigenen Gefühlen. Jenny, verletzt, zieht sich für Jahre zurück, bleibt an der Seite des Vaters und findet erst spät – der Text macht nach ca. zwei Dritteln einen Zeitsprung von acht Jahren – eine Liebe, der sie sich noch einmal hinzugeben bereit ist. Interessanterweise ist es dann ein Graf, dem ihre religiöse Zugehörigkeit vollkommen gleichgültig ist, was sicherlich durch seine gesellschaftliche Stellung begünstigt wird, die ihm eine solche Einstellung erlaubt. Ein Hinweis auf die spät berufene Monarchistin Lewald, die Zeit ihres Lebens eher liberal eingestellt gewesen ist? So oder so gönnt die Autorin Lewald ihren Protagonisten kein Glück, denn der Graf duelliert sich schließlich, um die Ehre seiner zukünftigen Gattin zu verteidigen, wird tödlich getroffen und stirbt, woraufhin Jenny ob eines gebrochenen Herzens über seinem Leichnam darnieder sinkt und ihrerseits das Zeitliche segnet. Eduard seinerseits übt den von ihm geforderten Verzicht und gibt sich ganz seiner Profession – er ist Arzt – und seiner politischen Leidenschaft hin. So tritt er vehement für die Emanzipationsrechte der Juden ein und bringt es dabei zu einer wenn auch bescheidenen politischen Karriere. Sich für die Ehe mit Clara taufen zu lassen, lehnt Eduard ab, vielmehr glaubt er daran, dass auch Ehen zwischen unterschiedlichen Religionen möglich sein müssen. Nicht zuletzt dies wird zum Anlass, in die Politik zu gehen.

In diese beiden Handlungen verwoben sind eine Reihe von Nebenfiguren und deren Geschichten, die es Lewald ermöglichen, ihr Augenmerk auf verschiedene Aspekte des Antisemitismus und der herrschenden patriarchalen Strukturen zu werfen. Die meisten dieser Figuren entstammen dem Freundeskreis der Meiers. Neben Reinhard und Clara gibt es Jennys Freundin Therese, die nicht ganz unschuldig an dem Zerwürfnis zwischen Jenny und Reinhard ist und später dessen Ehefrau wird; der Maler Erlau wird zu einer tragischen Figur, da er einer der wenigen ist, die sich – ganz künstlerischer Freigeist – nicht um Religion oder Stand scheren und der Jenny, als es längst zu spät ist, seine Liebe gesteht; es gibt den ewig Zitierenden Steinheim, der sich hinter seiner Bildung versteckt, die ihm aber nie zu tieferen Einblicken in das menschliche Wesen verhilft und der sich spät im Roman als Opportunist entpuppt; es gibt den Antisemiten Ferdinand Horn, Claras Bruder, der in seiner Bösartigkeit schließlich die größten Fehler begeht und dennoch von Eduard gerettet wird.

All diese Figuren erfüllen in Lewalds Konstrukt eine sehr genaue Funktion, so dass der Leser nicht nur einmal an Goethes WAHLVERWANDTSCHAFTEN denken muss. Lewald gelingt eine schöne Beschreibung junger Menschen, die, ganz modern, eine Clique bilden, den schönen Dingen frönen – vor allem dem Theater, aber auch der Musik und der Malerei, entscheidende Szenen des Romans spielen in der Oper und im Angesicht von Kunstwerken – sich gegenseitig necken und nach und nach erst die tieferen Gefühle entdecken, die einige füreinander entwickeln. Und mit diesen Gefühlen – wie so oft im Leben – tritt auch der viel zitierte „Ernst des Lebens“ auf und lässt zumindest einige scheitern. Und dieses Scheitern ist in JENNY vor allem an Vorurteile und Ressentiments gebunden. Eben den Antisemitismus. Allerdings, auch daran lässt die Autorin keinen Zweifel aufkommen, ist es auch ein Scheitern der Geschlechter, die in engen Rollenkorsetten stecken, sich nicht frei entfalten können und in ihrer Wahl füreinander eingeschränkt und oft auch geistig eng sind. Und nicht zuletzt sind Stellung und Stand und damit der ökonomische Hintergrund der Figuren wesentlich für ihre Wahl von Lebenspartnern.

Gern wird Lewald mit der Britin Jane Austen verglichen und es stimmt, wenn man sich die subkutanen Strömungen dieses Textes betrachtet: Wo es vorgeblich um Gefühle, um miteinander ringende Haltungen, geht, spürt man doch immer, dass das eigentliche Movens der meisten Figuren, vor allem der Nebenfiguren, ein ökonomisches ist. Es wurde gerade in der jüngeren Austen-Forschung immer wieder betont, dass die Autorin scharf darauf geblickt habe, wie Lebensentscheidungen – und als solche dürfte man eine Heirat betrachten – grundsätzlich immer nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Beteiligten ausgerichtet wurden. Was brachte ein Mann in die Ehe mit? Wie groß ist die Aussteuer einer Frau? Worin liegt der Vorteil einer Heirat, wenn man als Basis der Güter betrachtet, die in eine Ehe einfließen?

Ganz so weit geht Lewald nun nicht, doch ist auch bei ihren Figuren immer wieder wichtig – zumindest erwähnenswert – welche Vor- und Nachteile bspw. eine Ehe mit einer Jüdin bringt. Die Meiers sind wohlhabend, wenn nicht reich. Doch wie ist der gesellschaftliche Ansehensverlust gegenzurechnen? Im Gegensatz dazu muss Vater Meier in sich Bedenken hinsichtlich Jennys künftigen Lebensstandards überwinden. Ihr zukünftiger Gatte, der als protestantischer Landpfarrer keine sonderlichen Aussichten hat, muss sich dazu in ein Verhältnis einlassen, in dem Herr Meier ihm vierteljährlich die Pfründe aufstockt, damit seine Tochter einen angemessenen Lebensstandard auch weiterhin genießen kann. Dabei wird zwischen Vater und Schwiegersohn nahezu alles bis hin zur Kutsche, zur Verhandlungsmasse. Clara macht sich ebenfalls Gedanken in diese Richtung: Sie versteht Eduards Ringen mit sich und den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Gegebenheiten, aber sie weiß auch, was es sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich und emotional bedeutet, wenn die beiden eine Lebensgemeinschaft eingehen. Ihr Umgang mit den eigenen Gefühlen ist im Kontext des Romans der erwachsenste – aber eben auch der ökonomisch sinnvollste, wenn man den Begriff „Ökonomie“ nicht ausschließlich auf harte Währung münzt. Ihre Heirat mit Cousin William Hughes – eine weitere der zahlreichen und ausgesprochen wichtigen Nebenfiguren des Romans – ist eine standesgemäße, die sie aber nicht glücklich machen kann. Was sie wiederum in Kauf zu nehmen bereit ist. Sie wird ein friedliches, wenn auch unaufgeregtes Leben führen.

Dass ein protestantischer Pfarrer nur schlecht eine nicht konvertierte Jüdin heiraten kann, mag man aufgrund seines Amtes und in seiner Zeit irgendwie noch verstehen, dass Reinhard jedoch die Bedenken seiner Zukünftigen nicht anerkennen mag, fällt sehr viel schwerer einzusehen. Wie bereits angerissen, sind es auch bei ihm ökonomische Überlegungen, die ihn umtreiben: Wo und wie einträglich wird die Pfarre sein, die ihm zufallen soll? Selbst wenn sie weit von Jennys Zuhause liegt, hat die junge Frau dies hinzunehmen. Ebenso soll sie ein Leben in relativer Armut – ganz im Sinne protestantischer Wohlgefälligkeit – als ein erfülltes annehmen. Gerade in Reinhard kommt nicht nur der religiöse Komplex ins Spiel, wird nicht nur das ökonomische Moment verarbeitet, sondern vor allem auch die patriarchale Struktur sichtbar. Um es noch treffender zu formulieren: Die drei Aspekte fallen bei ihm nahezu in eins. Denn Reinhard verlangt. Er verlangt Hingabe, er verlangt Ergebenheit, er verlangt Folgsamkeit. In seiner Vorstellung ist Jenny – wäre jede Frau – einfach dadurch glücklich zu stellen, dass sie ihn heiraten und an seiner Seite das inoffizielle Amt der Pfarrersfrau ausüben darf. Seine Aussagen sind fast schon als Karikatur zu verstehen, derart offen vertritt er das männlich-patriarchale Prinzip. Und wird weinerlich, sobald seine Forderungen nicht in Erfüllung gehen, ja, schon dann, wenn sie nur in Frage gestellt werden. Seine einzige Verbündete – wie könnte es anders sein – ist seine Mutter.

Anhand solcher, für den modernen Leser manchmal nur schwer ernstzunehmender Figuren, ist gut abzulesen, wo die Schwierigkeiten mit dieser Lektüre liegen. Denn anders, als dies bei Austen der Fall ist, merkt man einem Roman wie diesem deutlich den zeitlichen Abstand an. Es ist die teils schon grammatikalisch anders genutzte Sprache, es sind die Formulierungen, es ist die sprachlich große Geste, die uns Heutigen doch oft seltsam anmutet. Man fragt sich, woran es liegt, doch wirken die englische, oftmals auch die französische Literatur des 19. Jahrhunderts besser gealtert, als es bei der deutschen der Fall ist. Fern wirken hier viele Formulierungen und vor allem wirken sie kitschig. JENNY ist nach heutigen Maßstäben vor allem eines: Ein Melodram. Und dies nicht nur auf sprachlicher Ebene, sondern auch auf inhaltlicher. Im Grunde weist der Roman kaum Handlung auf, dafür aber viele Beschreibungen innerer Zustände, bei denen es „wallt“ und „fiebert“, Herzen zueinander fliegen müssen und man aneinander denkt mit der Kraft des Sturms. Wenn die Handlung einmal Tempo aufnimmt, wird es meist gleich höchst dramatisch und besonders das Ende des Romans, das uns nicht nur das Duell des Grafen Walter mit einem Beleidiger seiner zukünftigen Gattin beschert, sondern gleich auch noch deren Tod qua gebrochenen Herzens, nachdem uns Seiten- und Kapitellang mitgeteilt wurde, dass dieses Herz doch nie mehr aus Liebe zu einem Manne würde schneller schlagen können, wirkt schlichtweg aufgesetzt. Fast hat man den Eindruck, die Lewald wurde von demselben Problem heimgesucht, dass viele moderne Autoren, aber auch Filmemacher, zu befallen scheint: Da hat man eine gute Idee und auch einen halbwegs brauchbaren Plot, aber dann fällt einem nichts ein, um die Geschichte zu einem guten Abschluss zu bringen.

JENNY bleibt als Roman aber dennoch interessant. Allerdings aus literaturwissenschaftlichen und historischen Gründen, weniger aus literarischen – oder gar aus Gründen der Unterhaltung. Aber ab und an liest man dann ja auch mal ein paar Seiten, die zwar nicht packen, aber aufklären. Zumindest wenn man zwischen den etwas schwülstigen Formulierungen das Wesentliche gefunden hat.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.