KINDER VON HOY. FREIHEIT, GLÜCK UND TERROR

Grit Lemke richtet den Blick auf eine kleine Stadt, die im Westen wegen eines einzigen Ereignisses bekannt wurde - und dies nicht verdient hat

Manche Orte haben das Pech, wegen nur eines einzigen negativen Ereignisses in das öffentliche Bewußtsein zu gelangen. Während, wer Brigitte Reimann kannte und ihren Roman FRANZISKA LINKERHAND (1974 postum erschienen) gelesen hatte, die Stadt Hoyerswerda zumindest als Idee auf dem Radar hatte, wurde die Stadt in der Nähe von Cottbus einem breiteren Publikum erst durch die pogromartigen Ausschreitungen bekannt, die dort zwischen dem 17. und dem 23. September das Stadtbild beherrschten. Ein Mob, angestachelt auch durch nicht in Hoyerswerda ansässige Rechtsradikale und Skinheads, sammelte sich vor einem Wohnblock in der sogenannten „Neustadt“, einem sozialistischen Musterprojekt, das seit Mitte der 50er Jahre dort betrieben wurde, um Arbeiter für die Schwarze Pumpe, einem Veredelungswerk für Braunkohle, anzusiedeln, in dem vor allem Vertragsarbeiter aus Afrika – „sozialistischen Bruderländern“ wie Mosambik – wohnten. Es wurden einzelne Anwohner angegriffen, immer wieder Steine und Brandsätze geschmissen. Die Angreifer zogen, nachdem die Polizei, wenn auch langsam und scheinbar unwillig, das Gelände vor dem Haus halbwegs geräumt hatte, zu einem Flüchtlingswohnheim und machten dort weiter. Schließlich wurde das Flüchtlingsheim evakuiert und die Angegriffenen aus der Stadt gebracht.

Hoyerswerda, für das sich zuvor niemand interessiert hatte und das danach lange Zeit nur noch in Verbindung mit den Ausschreitungen genannt wurde, wurde zu einem Symbol für „den Osten“ einerseits – Abwanderung, Arbeitsplatzverlust, rückwärtsgerichtetes Denken – aber auch für die Probleme, die es bedeutet, eine Wirtschaft abzuwickeln, eine überdimensionierte „Musterstadt“ – ähnlich vergleichbaren Projekten in westlichen Ländern – rückzubauen, neue, völlig andere Konzepte zu entwickeln, um aus „abgehängten“ Regionen blühende Landschaften hervorgehen zu lassen. Mittlerweile sind die sogenannten WK, die Wohnkomplexe, derer es zu Beginn der 90er Jahre und dem Ende der DDR immerhin zehn gab, fast vollständig verschwunden, aus den Baggerlöchern des Tagebaus sind Seenlandschaften geworden, Hotelinfrastruktur hat sich angesiedelt. Allerdings sind die Konzepte, eine Art Naherholungsgebiet für die nicht allzu weit entfernten Regionen Cottbus und Dresden zu schaffen und darüber hinaus auch als Urlaubsgebiet zu reüssieren, bisher nicht wirklich aufgegangen. So wird die Stadt mittlerweile auch als Beispiel für mißlungene Projekte in den neuen Bundesländern herangezogen.

Nun ist es als Großstädter, vor allem als urbaner Mensch aus dem äußersten Westen dieses Landes, natürlich ein Leichtes, sich über eine Stadt wie diese zu echauffieren. Übrigens gilt das auch für Städte wie Duisburg oder Mannheim, die hierzulande ebenfalls gern als „failed cities“ betrachtet werden und rein westliche Entwicklungen spiegeln. Doch wer ehrlich ist, der weiß, daß jede Region, jede Stadt, jedes Dorf, solange man sich dafür interessiert, seine ganz eigene Magie hat. Man sollte auch verstehen, daß diejenigen, die mit dem Stigma leben, „aus…“ zu kommen, das Bedürfnis haben, ihre Heimat zu rehabilitieren oder zumindest ein wenig gerade zu rücken, was das Klischee vereinfacht erzählt.

Grit Lemke versucht genau das in ihrem Band KINDER VON HOY. FREIHEIT, GLÜCK UND TERROR (2021). Die Autorin wurde Mitte der 60er Jahre in Spremberg geboren und zog in sehr jungen Jahren mit ihren Eltern nach Hoyerswerda. Damit teilt sie das Schicksal vieler ihrer Altersgenossen der ersten und zweiten Generation von Kindern und Jugendlichen, die in der Stadt aufwuchsen. Sie waren Zugezogene, die in der Stadt Bedingungen vorfanden, wie sie in der DDR eher selten waren. Es gab vor allem gute, neue Wohnungen. Arbeit war in der DDR kein Problem, doch hier entstand etwas, das hohen symbolischen Wert für das Regime hatte, wollte man doch beweisen, daß es auch im Sozialismus möglich ist, erfolgreiche Industriepolitik zu machen. Lemke erzählt also von den frühen Jahren, erzählt dabei auch von Vielem, das der interessierte West-Leser bereits kennt, beschreibt aber auch immer wieder subtil, wie gewisse Haltungen und Aversionen auch früh schon unter den Bewohnern um sich griffen. Doch seien wir ehrlich – wer nicht gerade aus der Stadt kommt, liest auch dieses Buch im Hinblick auf die Vorkommnisse 1991.

Es ist ein Verdienst der Autorin, diese nicht einmal besonders herauszustellen. Sie werden hier in eine Geschichte eingebettet, die lange vor der Wende begann und wahrscheinlich bis heute nicht überwunden oder gar beendet ist. Lemke erzählt vom Widerstand in dieser Stadt, der lange nicht sonderlich politisch war, sondern seinen Antrieb eher aus Langeweile und Stillstand bezog. Ähnlich, wie Jenny Erpenbeck es in ihrem letzten Roman KAIROS (2021) in Romanform einfing und genial zu vermitteln verstand, gelingt es Lemke, diese letzten Jahre der DDR und diese lähmende Perspektivlosigkeit in dem Wissen darum, daß es so nicht wird weitergehen können, einzufangen und zu vermitteln. Der Stillstand jener Jahre muß fürchterlich gewesen sein, der Druck, der dabei entstand, irgendwann nicht mehr beherrschbar. Aber die Revolution, die dann das Land im Jahr 1989 erschütterte, begann eben nicht in Hoyerswerda. Mehr noch – sie kam erst vergleichsweise spät nach Hoyerswerda.

Lemke war an verschiedenen Initiativen beteiligt, mischte in Kultur- und Jugendclubs oder bei diversen Theaterprojekten mit. Dabei kam sie auch in den Kreis um Gerhard Gundermann. Gundermann galt und gilt als einer der wesentlichen Liedermacher der DDR, der durchaus kritisch auf Mißstände hinweisen konnte, der aber keine grundsätzliche oder systematische Opposition gegen das Land und seine Staatsform einnahm. Gundermann war authentisch, da er bis zu seinem viel zu frühen Tod mit 43 Jahren als Baggerfahrer im Braunkohlebergbau arbeitete. Gelegentlich wirkt Lemkes Bericht wie eine Hommage an den Liedermacher. Allerdings spielte er für linke Kreise, die sich kritisch mit dem Staatssozialismus der DDR auseinandersetzten, eine enorme Rolle, wodurch ihm diese Rolle wie von selbst zuwuchs. Es erstaunt dann etwas, wie wenig Lemke auf die spätere Entdeckung seiner Stasi-Verbindung als IM eingeht. Aber natürlich ist das auch nicht das offizielle Anliegen des Buchs. Klar wird so oder so, wie wesentlich, wie wichtig Gerhard Gundermann auch und gerade für die Oppositionellen in Hoyerswerda gewesen ist. Eine Art Fixstern.

Durch wiederholte Einschübe von O-Tönen, offenbar Interviews mit den damals Beteiligten in der eher linken Szene, erhält Lemkes Bericht selbst eine hohe Authentizität. Und man kann durch die unverfälschten Wiedergaben heraushören, wie sich nach der Wende und in jenem ominösen Jahr 89/90, einer Zwischenzeit, einer Passage im eigentlichen Sinn, die Bedingungen verschoben, wie sich etwas breitmachte, was man zuvor erahnen, jedoch nicht sehen konnte. Wohltuend enthält sich die Autorin tiefgreifenden Erklärungen. Sie lässt die Entwicklungen – in ihren Schilderungen wie eben auch in den eingeschobenen O-Tönen – für sich selbst sprechen. Damit wird dem Leser zwar nicht klar, weshalb es ausgerechnet Nazi-Chic und rechte Ideologie waren, die sich als eine Art Jugendkultur durchsetzen konnten, doch kann er nachvollziehen, wie es auf die gewirkt haben muß, die diese Entwicklung eben nicht mitmachten. Und die die Stadt zum Teil nach den Pogromen verließen. Wie die Autorin selbst eben auch.

Sie ist zurückgekehrt, hat nicht weggeschaut und hat sich der damaligen Ereignisse immer wieder angenommen. Und hier nun unternimmt sie einen – geglückten – Versuch, ihre Heimatstadt in dem Sinne zu rehabilitieren, daß sie nichts beschönigt, jene Ereignisse, wegen derer die Stadt im neuen Deutschland nach 1990 bekannt wurde, klar benennt und auch ihre Auswirkungen zeigt, sie aber in eine größere Geschichte, ein weiteres Panorama einbettet, die gerade dem westlichen Leser en Bild davon vermittelt, wie es dort gewesen ist, in dieser kleinen Stadt am äußersten östlichen Rand des Landes. Allerdings ist es auch ein Buch der Selbstvergewisserung, ein Buch, das sich deutlich auch und gerade an jene richtet, die dabei waren, die sich wiederfinden können in diesen Seiten und Zeiten.

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