LORD JIM/LORD JIM: A TALE

Joseph Conrads großer Roman über moralische Verwerfung und tiefen Selbsthass

Man erinnere sich: Am 13. Januar 2012 havarierte das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia, nachdem es vor der Insel Giglio mit einem Felsen kollidiert war. Das Schiff schlug leck, war nicht mehr manövrierfähig, wurde vom Wind gegen die Insel gedrückt, wo es zunächst liegen blieb. Das Unglück forderte 32 Menschenleben. Ein Schiffsunglück, wie es sie im Laufe der Jahre und in der Geschichte – auch der modernen Seefahrt – immer wieder gegeben hat. Besonders an diesem natürlich tragischen Unfall war allerdings, dass der Kapitän, Francesco Schettino, sein Schiff verließ, bevor die Rettungsaktionen wirklich angelaufen, geschweige denn abgeschlossen waren. Ein Unding. Wenn es eine Regel in der Seefahrt gibt, dann die, dass ein Kapitän niemals, unter keinen Umständen, sein Schiff verlässt. Seinerzeit bedeutete dies: Er ging mit dem Schiff unter. Natürlich sind moderne Seefahrtregeln nicht mehr derart archaisch, doch selbstredend bleibt ein Kapitän an Bord, bis zumindest Mannschaft oder, wie in diesem Fall, die Passagiere gerettet sind.

Joseph Conrad, der auf eine lange Karriere in der Marine und der Seehandelsflotte Frankreichs und Großbritanniens zurückblicken konnte, bevor er sich gänzlich der Schriftstellerei widmete, berichtete in seinem vierten Roman LORD JIM: A TALE (1900) von einem vergleichbaren Fall. Es war eine fiktionalisierte Geschichte, doch beruhte sie auf einer wahren Begebenheit, dem Fall der Jeddah, eines Pilgerschiffes, welches am 3. August 1880 leck schlug, woraufhin der Kapitän und zwei Offiziere das Schiff verließen und die nahezu 1000 Menschen an Bord ihrem Schicksal überließen. Erstaunlicherweise wurde das Schiff gerettet und es gab schließlich – schlimm genug – lediglich 18 Tote.

Für Conrad war dies eine Ungeheuerlichkeit, welche an eben jenen Tugenden rüttelte, die ihm nahezu heilig waren: Ehre, Loyalität, Pflichtbewusstsein. Wer sich gegen diese Tugenden wandte, konnte in Conrads Augen schnell jede moralische Relevanz verlieren. Doch war er auch ein sehr genauer Beobachter der menschlichen Natur und wusste um die Schwächen seiner Mitmenschen. So wurde ihm ein Vorfall wie der oben geschilderte zur Ausgangssituation einer zutiefst menschlichen Tragödie, des Ringens eines Mannes mit sich selbst und den Dämonen seiner eigenen, von ihm so empfundenen Niedertracht. Denn es ist die Titelfigur Lord Jim, ein junger Mann, dessen Liebe der See gehört, der sich hier in eine Situation drängen lässt, in der er ein Pilgerschiff, an dessen Deck er der vierte Offizier ist, im Stich lässt und sich mit seinem Kapitän und einem weiteren Mann von dannen macht. Wochen später erreichen die drei ihren Zielhafen, in welchen das vermeintlich gesunkene Schiff, das sie im sicheren Glauben verlassen hatten, dass es sinke, schon längst eingelaufen ist. Die Katastrophe ist ausgeblieben, die sich an Bord befindlichen Pilger konnten sämtlich gerettet werden. Dennoch haben die Offiziere des Schiffes, die es verlassen hatten, natürlich ihre Seemannsehre verletzt und verloren. Doch während Kapitän und erster Offizier sich erneut aus dem Staub machen, stellt Jim sich dem Gericht, das zusammentritt, um über ihn und sein Fehlverhalten zu urteilen. Und obwohl die Sache juristisch gesehen für Jim weitestgehend glimpflich verläuft, kann der junge Mann sich sein Tun selbst nicht verzeihen. Von nun an ist sein Leben ein stetes Davonlaufen vor einer Vergangenheit, die ihn in seinen eigenen Augen immer wieder einholt, obwohl ihm seine Landsleute und Kollegen im Grunde längst verziehen haben.

Erzählt wird dies dem Leser auf gut 530 Seiten von Charles Marlow, Conrads in einigen Romanen und Geschichten genutztem Alter Ego (oder, wie der Autor gelegentlich erwähnt, seinem Freund, der ihn gefunden habe), der hier den Hauptteil der Geschichte bei einem Abendessen, Jahre nach den Geschehnissen, zum Besten gibt. Den letzten, die abschließenden 100 Seiten des Romans umfassenden Teil der Geschichte, der davon berichtet, was aus Jim geworden ist, wie er zu eben jenem Tuan Jim – Lord Jim – wurde, irgendwo im asiatischen Dschungel, berichtet Marlow einem nie näher benannten auktorialen Erzähler in Form eines Briefs und eines längeren, von ihm, Marlow, abgefassten Berichts. Wie so häufig in seinen Geschichten, ist es auch hier schon der Fall, dass dieser Marlow einerseits durch sein scheinbar unfassliches Erinnerungsvermögen besticht – so ist er in der Lage, Jahre zurückliegende Gespräche nahezu wortgetreu nachzuerzählen – , mehr aber noch ob seiner fast obsessiven Fokussierung auf das Objekt seiner Geschichte, eben jenen Jim. Ein junger Mann, der einen Fehler begeht, zu diesem steht und doch seines Lebens nicht mehr froh werden kann, empfindet er den Makel des eigenen Versagens doch so stark, dass es ihn immer weiter weg treibt von jener westlichen Zivilisation, in welcher seine Moralvorstellungen überhaupt erst ausgebildet wurden und herrschen. Und immer tiefer treibt er hinein in das, was westliche Beobachter als Wildnis, Dschungel, Barbarei bezeichnen und damit eine immer sich überlegen wähnende, letztlich zutiefst rassistische Weltsicht offenbaren. Eine Welt, die eigenen Moralvorstellungen folgt, Ideen und Idealen, die einem Europäer vielleicht fremd vorkommen und die es einem Mann wie Jim doch zu erlauben scheinen, noch einmal glücklich zu werden. Oder zumindest so nah an einen Zustand wie Zufriedenheit heranzureichen, wie ihm möglich ist.

Joseph Conrad erzählt seinen Lesern hier zwei Geschichten in einem Roman. Es ist auf der reinen Handlungsebene eine Abenteuergeschichte, gespickt mit allerlei durchaus actiongeladenen Momenten. Einerseits die Geschichte um die Patna und ihre ehrlose Besatzung, die flieht und die Pilger im Stich lässt, dann eine ebenfalls spannendes Gerichtsdrama, in welchem Jim zu bestehen hofft; später werden, wenn auch auf Umwegen, die Geschehnisse im Dschungel wiedergegeben, bei welchen es Jim gelingt, die verfeindeten Stämme an den Ufern des Flusses zu vereinen und einen wenn auch fragilen Frieden auszutarieren, wozu er aber zunächst einen kleinen regionalen Krieg gewinnen muss usw. Dabei flicht Marlow immer wieder die Geschichten einiger eher nebensächlicher Protagonisten in seine Erzählung ein. Sei es die des diensttuenden Richters am Seegericht, Montague Brierly, ein Seemann ohne Fehl und Tadel, der sich wenige Tage, nachdem er über Jim zu urteilen hatte, ohne nähere Erklärung umbringt; sei es der Holländer Stein, ein Freund Marlows, der Jim unter seine Fittiche nimmt und ihm eine Stellung an einem der Außenposten seines Handelsimperiums gibt; sei es Cornelius, einst Steins Vorarbeiter, nun ein Gefallener, der Jim nach dem Leben trachtet; seien es diverse Eingeborene oder jene Frau, von Jim Jewel tauft und in die sich der immer auf der Flucht sich Befindende verliebt – sie alle kommen in Conrads/Marlows Geschichte zu ihrem Recht, von ihnen allen wird ausführlich berichtet, weit über ein Maß hinaus, das das Vorankommen der eigentlichen, engeren Handlung rechtfertigen würde.

Diese elliptische Erzählweise entspricht ganz dem, was man gern als „Seemannsgarn“ abtut. Conrad war ein Seemann und er versteht es, seiner fast allegorisch anmutenden Geschichte über Ehre und Ehrverlust, über Treue, Loyalität, Pflichtbewusstsein und Freundschaft, so den äußeren Anschein eben einer ganz normalen Seemannsgeschichte zu geben. Und so kann er seine vielleicht eigentliche Absicht ein wenig verdecken, die dem ganzen Unterfangen zu Grunde zu liegen scheint. Denn wie die Journalistin und Publizistin Renée Zucker einst bemerkte, kann es doch kein Zufall sein, dass LORD JIM ausgerechnet im selben Jahr erschien wie Freuds TRAUMDEUTUNG.

So gelangt man auf die zweite, die tiefere Ebene des Romans – oder eben die zweite Geschichte dieses Buchs. Die verborgene Geschichte. Denn Conrads Text als Traum zu begreifen, fällt nicht schwer. Bei der enormen Akribie, der Genauigkeit, mit der Conrad Marlow sich erinnern lässt, Jahre, nachdem er Gesprächen gefolgt ist und Geschichten gelauscht hat, merkt aber eben dieser Marlow, dieser Erzähler von Gottes Gnaden mehrfach an, dass er Jim nicht zu fassen bekommt, dass der junge Mann oft nebulös bleibe, ja, dass er, Marlow, sich seiner kaum erinnern könne. Jim bleibe undeutlich, seltsam verschwommen in seiner Erinnerung, konturlos. Und so stellt sich dem Leser immer wieder die Frage, wer dieser Jim, jenseits der Abenteuergeschichte, die sich um sein Verschwinden im Dschungel und seinen Aufstieg zum Tuan rankt, eigentlich ist? Kann es sein, dass Jim Marlows Alter Ego ist, wie dieser seinerseits Joseph Conrads Alter Ego ist? Sind Jims vermeintliche Verfehlungen vielleicht die Ängste, die einen Mann wie Marlow, der in vielerlei Hinsicht so selbstbewusst und vor allem selbstsicher wirkt, umtreiben und heimsuchen? Manifestieren sich in Jim Marlows Versagensängste? Ist Jim schlichtweg eine Projektion? Ist, wie es einige Jahre später in einem der Schlüsseltexte des 20. Jahrhunderts aus der Feder Joseph Conrads – die Rede ist von HEART OF DARKNESS (als Buch 1902; zuvor in Teilabdrucken schon 1899 veröffentlicht) – der Fall sein sollte, all das, was Jim ist und was ihn umgibt, lediglich allegorisch zu verstehen, als Seelenlandschaft? Ist der Dschungel, in den sich Jim in seiner ganzen Frustration und Scham immer tiefer zurückzieht, nichts weiter als die Terra incognita des eigenen Unbewussten? Eine Möglichkeit, wer Marlow auch hätte sein können? Und ist Jims Geschichte deshalb für einen Mann wie Marlow – und damit indirekt für einen Mann wie Conrad – deshalb auch solch ein Grauen, weil darin die Erkenntnis steckt, dass es letztlich immer eine einzige Entscheidung sein kann, eine Sekunde, ein Moment der Schwäche vielleicht, der darüber entscheidet, wer wir sind? Zumindest darüber, wer wir in unseren eigenen Augen sind, in unserer eigenen Wahrnehmung?

Vielleicht sollte man gar noch einen Schritt weiter gehen und den gesamten Roman als eine Allegorie auf das Schreiben begreifen? Es gibt in der Literaturwissenschaft die Theorie, dass jener Moment, in dem Jim springt und das Schiff letztlich gegen den eigenen Willen verlässt, gegen die eigenen moralischen Regeln verstoßend, die ihm in diesen Moment seht wohl bewusst sind, dass also dieser Sprung den Schriftsteller Joseph Conrad selbst meint. Ein Mann der Tat, der Seefahrt, ein Mann, der konkret sein Leben lebt, geht das Wagnis ein, sich in ein ganz anderes Abenteuer zu stürzen. Nicht nur begibt er sich in die unendliche See des geschriebenen Wortes, wo alles doppeldeutig, wenn nicht immer gleich mehrdeutig ist, sondern er begibt sich auch noch in das semantische und semiotische Meer einer ihm im Grunde fremden Sprache: Conrad war polnisch stämmig, sowohl das Französische als auch das Englische, das literarisch seine Heimat werden sollte, waren ihm fremde Sprachen. Als Jim springt, begeht er einen Frevel. Als der gestandene Seemann Conrad sich von seiner Profession abwendet und es wagt, ins Offene des Schreibens zu springen, muss dies für ihn eine ähnlich doppelbödige Angelegenheit gewesen sein.

Gleichwohl – sie ging für ihn denkbar besser aus, als dies für Jim der Fall war. Interessanterweise stellt LORD JIM – und dies spräche erneut für eine allegorische Interpretation des gesamten Romans – in vielerlei Hinsicht eine Übergangsgeschichte dar. Sowohl Conrads erste beiden Romane ALMAYER´S FOLLY: A STORY OF AN EASTERN RIVER (1895) als auch AN OUTCAST OF THE ISLANDS (1896) und auch HEART OF DARKNESS, an dem Conrad teils parallel zu LORD JIM geschrieben haben muss, sind Bücher, in denen Flüsse ganz wesentliche Rollen einnehmen, quasi zu Protagonisten in der Handlung werden. Die beiden ersten Romane sind an einem Fluss irgendwo in einem malaiischen Delta angesiedelt, der eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Geschichten spielt, in HEART OF DARKNESS sind es gleich zwei Flüsse, die zu Protagonisten und Treibern der Handlung werden. Anfangs sitzt die Gesellschaft, der einmal mehr Marlow von seinen Abenteuern berichten wird, auf einem Schiff auf der Themse, die hier für einen der großen Kulturströme Europas steht. Seine Geschichte aber handelt von einer Fahrt den Kongo hinauf und damit immer tiefer in das Unterbewusste eines verkommenen Europas, das sich moralisch in einer der restlichen Welt überlegenen Position wähnt und letztendlich begreifen muss, dass es mit all seiner Moral fast ausschließlich Schaden anrichtet. Am Ende ist es die völlige moralische Zerrüttung, der sich Marlow in der Figur des Leiters der Kolonialwarenstation, Kurtz, stellen muss.

Bevor Conrad LORD JIM veröffentlichte, war HEART OF DARKNESS teilweise bereits als Fortsetzungsgeschichte erschienen, vor allem aber hatte er THE NIGGER OF THE NARCISSUS (1897) veröffentlicht. Dieser Roman sticht gegen alle genannten insofern hervor, als er erstmals in Conrads Schaffen von einer reinen Seefahrt erzählt. Erstmals wagt sich der Seemann Joseph Conrad mit diesem Roman auf das offene Meer hinaus und lässt den Leser teilhaben an einem echten Seeabenteuer, inklusive eines fürchterlichen Sturms, einer Fast-Havarie, einer echten Meuterei und einmal mehr eines moralischen Dilemmas. LORD JIM beginnt als echtes Seeabenteuer, endet aber noch einmal als Flussroman. Als müsste sich der Autor Joseph Conrad ein letztes Mal der festen Ufer versichern, bevor er das Terrain in HEART OF DARKNESS aufgeben, es geradezu auflösen wird und sich dann anderen, ganz anderen Gefilden zuwendet.

LORD JIM: A TALE wäre so gesehen also auch als Versuch zu lesen, sich schriftstellerisch, literarisch, zu befreien und aufzubrechen in neue Gewässer. Die Schriftstellerei und das Meer bieten schlicht zu viele Möglichkeiten der gegenseitigen Entsprechung und damit der Metapher, um es nicht (auch) so zu sehen. Und doch kann man diesen Roman auch einfach als Abenteuergeschichte lesen. Auch auf dieser Ebene funktioniert er nach wie vor. Und wird vielleicht erst dadurch zu der großen Literatur, der Weltliteratur, die er ist.

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