MARY REILLY
Stephen Frears erzählt die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde noch einmal - und anders
London im späten 19. Jahrhundert.
Die junge Mary Reilly (Julia Roberts) findet Anstellung im Haus von Dr. Jekyll (John Malkovich). Gemeinsam mit einigen weiteren Angestellten – darunter dem Butler Mr. Poole (George Cole), dessen Assistenten Mr. Bradshaw (Michale Sheen), der Köchin Mrs. Kent (Kathy Staff) und der Hausangestellten Annie (Bronagh Gallagher), mit der Mary auch Kammer und Bett zu teilen hat – kümmert sie sich um die Belange des Doktors.
Durch Mrs. Kent erfährt sie, dass der Doktor – etwa um die vierzig Jahre alt – zusehends der Melancholie verfalle, offenbar krank sei und seine Vorlesungen gänzlich eingestellt habe. Zudem verkrieche er sich immer häufiger in seinem Laboratorium, welches über einen düsteren Innenhof erreichbar ist.
Schon bald zeigt Jekyll Interesse an Mary. Dies ist zunächst rein praktischer Natur – der Arzt will von ihr wissen, weshalb sie an Hals und Handgelenken Narben aufweise – erweitert sich aber schnell auf ihr Wesen – der Doktor merkt, dass Mary lesen und schreiben kann und stellt ihr seine Bibliothek zur Verfügung – und es deutet sich an, dass er auch Interesse an ihr als Frau entwickelt. Doch diese Gefühle, die sie nach und nach zu erwidern scheint, unterdrücken sie beide.
In der Küche, wo Mary einiger für sie ekelerregender Dinge ansichtig wird – darunter die Zubereitung eines Aals, der bei lebendigem Leib zerteilt und ausgenommen wird – beginnt schon bald das Geflüster darüber, weshalb Mary morgens lange in des Doktors Gemächern bleibe, wenn sie ihm das Frühstück bringt. Mrs. Kent erinnert an eine Hausangestellte, die ihr bekannt sei, die immer morgens eine halbe Stunde bei ihrem Herrn verbringen musste und schließlich schwanger ohne Zeugnis entlassen wurde. Mary weist solche Verdächtigungen empört zurück und erfindet die Geschichte, sie spräche mit dem Doktor über die Begrünung des Innenhofs. Als die Lüge aufzufliegen droht, deckt Jekyll sie.
Mary ist naiv genug zu glauben, dass Dr. Jekyll ein reines, gutes Wesen sei. Als die Angestellten ihr mitteilen, dass er, anstatt zu heiraten, gern in „Häuser“ – also Bordelle – ginge, will sie dies nicht glauben.
Mary wird nachts von Alpträumen geplagt, in denen vermehrt auch Dr. Jekyll vorkommt, manchmal in recht eindeutigen, sexuell konnotierten Szenen.
Bei einem ihrer Gespräche offenbart Mary dem Doktor schließlich, weshalb sie vernarbt ist: Ihr Vater (Michael Gambon), ein harter Trinker, hat sie als Kind, nachdem sie eine Tasse zerbrochen hatte, in einen Verschlag gesperrt, wo sie einen ganzen Tag ausharren musste. Um ihre Qualen zu steigern, steckte er einen Sack zu ihr, in dem eine Ratte versteckt war. Das Tier fügte Mary die Bisswunden zu. Erst ihre Mutter (Linda Bassett) konnte sie retten.
Dr. Jekyll teilt der Hausgemeinschaft mit, dass er einen neuen Assistenten einzustellen gedenke. Dieser heiße Mr. Hyde (ebenfalls John Malkovich) und dürfe sich im Haus frei bewegen, habe zu allen Räumen Zutritt und sei von den Angestellten wie der Doktor selbst zu behandeln.
Es dauert, bis Mary des neuen Mitbewohners ansichtig wird. Hyde, ein Mann mit langen Haaren und im Gegensatz zum Doktor bartlos, der ein Bein nachzieht, gibt sich von allem Anfang an als Freigeist zu erkennen. Er verachtet Konventionen und gute Manieren, konfrontiert Mary bald mit seinen Ansichten zum politischen System des Königreichs und allerlei obszönen Schmierereien, auch scheut er nicht davor zurück, sie anzufassen und an sich zu ziehen und macht ihr vermehrt deutlich, dass er sie – körperlich – begehrt.
Mary ist von dem Mann, ohne es sich einzugestehen, ebenso abgestoßen wie fasziniert.
Jekyll bittet Mary, für ihn zum Haus von Mrs. Farraday (Glenn Close) zu gehen und dort eine Unterkunft für Hyde anzumieten, da dieser mit seinem Betragen besser aushäusig schliefe. Mary ist schockiert, als sie begreift, dass Mrs. Farradays Etablissement eben eines jener Häuser ist, die der Doktor wohl gelegentlich aufsucht. Die Hausherrin mustert Mary abschätzend und offenbar in der Absicht, ihren „Wert“ als Dirne zu taxieren. Auch begegnet Mary hier Jekylls Freund, dem Abgeordneten Sir Danvers Carew (Ciarán Hinds), der offensichtlich mit sehr jungen Frauen Verkehr hat. Eine davon trägt den Namen Mary.
Später wird Mary, ausgestattet mit einer beträchtlichen Summe Geldes, zu Mrs. Farraday geschickt. Das Geld soll diese entschädigen: Offenbar hat Hyde in ihrem Bordell gewütet, dabei eine Prostituierte stark verletzt oder gar getötet. Auf dem blutverschmierten Bett der Frau liegt eine tote, ausgeweidete Ratte, was Mary an ihre eigene Geschichte erinnert.
Konfrontiert mit dieser Geschichte, behauptet Jekyll gegenüber Mary, dass Hyde „Amateuroperationen“ durchführe, für die er eigentlich nicht geeignet sei. Gelegentlich passierten ihm dabei Missgeschicke.
Doch es mehren sich die Anzeichen, dass Hyde vor allem ein zügelloser, brutaler Mensch ist. Er tritt eines nachts auf ein Mädchen ein, welches ihm im Weg steht, später wird er des Mordes an Sir Carew bezichtigt, weshalb er in Jekylls Haus Unterschlupf sucht.
Mary begegnet Hyde nun ebenfalls in ihren Träumen, immer eindeutiger in sexuellen Situationen. Hyde scheint all jene von Jekyll verdeckten und unterdrückten Seiten seines Wesens voll auszuleben. Auch aufgrund der Ähnlichkeit von Jekyll und Hyde vermutet Mary, dass letzterer der Sohn des Doktors sein könnte. Auch die Hausangestellten nehmen eine verwandtschaftliche Beziehung an.
Doch merkt Mary, dass beide – Dr. Jekyll und Mr. Hyde – auch vollkommen gleiche Redewendungen nutzen. Beide sprechen ihr gegenüber von der Wut, die sie durchströme und die „wie die Gezeiten“ komme und gehe, unbeherrschbar. Nach und nach vermutet Mary, dass sich hier etwas viel Seltsameres als reine Verwandtschaft abspielt: Sie glaubt, dass Jekyll und Hyde ein und dieselbe Person sind.
Tatsächlich offenbart ihr der Doktor schließlich, dass er ein Serum entwickelt habe, mit dessen Hilfe er seine „bösen“ Gefühle, die ihn wieder und wieder überkämen, abspalten könne. Dann käme Mr. Hyde zum Vorschein. Ursprünglich hatte der Doktor auch ein Gegenmittel entwickelt, das es ihm erlaubte, nach einiger Zeit wieder in sein eigentliches Ich zurück zu schlüpfen. Doch Hyde setzt alles daran, von den Seren unabhängig zu werden.
Und so kommt es auch: Immer häufiger findet die Verwandlung von selbst, ohne Einnahme des Mittels, statt. Jekyll vermutet eine Verunreinigung durch die Apotheke, die das Serum für ihn herstellt. Möglicherweise ist diese Verunreinigung aber auch von Hyde gewollt, um sich von Jekyll zu befreien, wie dieser sich – durch Hyde – von seinen dunklen Seiten befreien wollte.
Hyde wird immer unkontrollierbarer. Nicht nur, dass er Carew ermordet hat, als Mrs. Farraday in Jekylls Haus auftaucht und diesen wegen ihres zunehmend unangenehmen Mieters zur Rede stellen will, tötet Hyde auch sie und reißt ihr den Kopf vom Rumpf. Mary, die zwar nicht weiß, was Hyde getan hat, es aber ahnt, deckt ihn, als die Polizei sie fragt, wo er sei.
Marys Mutter stirbt und sie bezahlt ihr von ihrem Ersparten ein ordentliches Begräbnis. Während der Trauerfeier taucht Marys Vater auf und bietet ihr Geld an, um sich an den Unkosten zu beteiligen. Mary lehnt dies ebenso ab, wie sie es ablehnt, ihn wiederzusehen. Er bittet sie um Verzeihung, die sie ihm nicht gewährt, woraufhin er ihr vorwirft ein Unmensch zu sein, selbst ihre Mutter habe ihm verziehen und sei ein „guter Mensch“ gewesen. Mary flieht.
Die Situation im Haus des Dr. Jekyll eskaliert, als eines Morgens Hyde in Jekylls Bett liegt und Mary empfängt, als sie das Frühstück bringt. Für sie ist in diesem Moment klar, dass Hyde offenbar gesiegt und das Kommando über den Geist Jekylls übernommen hat. Im Laboratorium wird Mary dann Zeugin einer schrecklichen Verwandlung: Aus Hydes Körper befreit sich ein schreiender Säugling. Je stärker diese Prozedur vor sich geht, je größer das Kind wird, desto mehr verblasst Hyde und schließlich tritt Jekyll wieder zum Vorschein.
Doch Hyde hatte diese Mischung zur Rückverwandlung mit Gift versetzt. Dr. Jekyll stirbt an der Dosis. Er liegt auf dem Tisch in seinem Hörsaal, Mary legt sich zu ihm und hält ihn eine Weile – allerdings hat sich der Körper im Tod wieder in den Hydes verwandelt. Der scheint zufrieden zu lächeln.
Mary Reilly verlässt das Haus des Doktors. Sie erklärt ihren früheren Kolleg*innen, dass es Jekyll gleich gewesen sei, was die Menschen über ihn denken. So wolle auch sie es halten.
In seiner eher einem psychoanalytisch angehauchten Melodram denn einem Horrorfilm entsprechenden Literaturverfilmung MARY REILLY (1996) erzählt Stephen Frears die Geschichte von Dr. Jekyll und seinem Alter Ego Mr. Hyde – den der Arzt mittels eines von ihm entdeckten Serums aus sich herausholen, gleichsam befreien kann – aus der Sicht von des Doktors Bediensteter, eben jener Mary Reilly, die in seinem Haus Anstellung findet. Basierend auf dem im Original gleichnamigen, 1990 erschienenen Roman von Valerie Martin hatte Christopher Hampton ein Drehbuch verfasst, dessen sich der britische Regisseur annahm.
Für die Hauptrollen konnte er die internationalen Stars Julia Roberts und John Malkovich verpflichten, deren Leistung half, dem Drama eine entsprechende Fallhöhe zu geben und es über das Level eines herkömmlichen, romantisch angehauchten Schockers zu heben. Allerdings trugen die ca. acht Millionen Dollar Gage, die Julia Roberts für ihre Rolle verlangte, auch dazu bei, dass der Film kommerziell nicht erfolgreich war. Dass er an der Kinokasse floppte, allgemein wenig Beachtung erhielt, mag daran gelegen haben, dass das Publikum nach dem Mega-Erfolg von Francis Ford Coppolas BRAM STOKER´S DRACULA (1992) und dem weniger erfolgreichen MARY SHELLEY´S FRANKENSTEIN (1994), den Kenneth Branagh realisiert hatte, etwas überfüttert war mit Gothic Horror viktorianischer Provenienz.
Dabei ist MARY REILLY – angefangen mit der Vorlage, die eine dezidiert weibliche Sicht auf das Geschehen im Hause Jekyll einnimmt, über die bereits erwähnten Leistungen der Schauspieler, darunter neben den Hauptdarstellern auch solch hervorragende Charakterdarsteller*innen wie Glenn Close, George Cole und Michael Gambon, bis hin zur Ausstattung, dem Dekor und den Szenenbildern – sehr wohl eine gelungene Neuinterpretation eines der wesentlichen literarischen Texte des 19. Jahrhunderts. Mehr als das: In mancherlei Hinsicht ist es eine weitaus genauere Interpretation des Stoffes als die – berühmteren – Verfilmungen aus früheren Dekaden. Denn Frears und durch ihn auch Malkovich´ Interpretation des Doppelcharakters Jekyll/Hyde wird der Vorlage in manchem gerechter als jene – um nur die berühmtesten Fassungen herauszugreifen – durch Fredric March in der Version von 1931 oder Spencer Tracy in jener aus dem Jahr 1941. Malkovich´ Hyde ist durchaus ein Monster, aber – darin zumindest Tracys Version nicht unähnlich – eher innerlich, nicht so sehr äußerlich, wie dies bei March der Fall gewesen ist. Dadurch, dass dem Zuschauer eben kein Unhold präsentiert wird, sondern lediglich eine bartlose, langhaarige, jünger wirkende Version des Doktors, wird der psychologische Aspekt dieses Dramas unterstrichen. Und um diesen psychologischen, mehr noch psychoanalytischen Aspekt ist es Martin, Hampton und schließlich Frears offenkundig zu tun.
Das Buch – die Vorlage ebenso wie Christopher Hamptons Script – und letztlich auch Frears Umsetzung für die Leinwand, spielen durchgehend mit Versatzstücken der Psychoanalyse: Es sind Doppelungen, vor allem aber Übertragungen und Projektionen begehrlicher wie traumatischer Natur, die immer wieder in die Handlung eingebaut und genutzt werden, um die Figuren auszuloten. So entspricht Mr. Hyde in einigen Charakteristika einer weniger verkommenen Version von Mary Reillys Vater, körperlich schon dadurch, dass er wie dieser hinkt; der Vater seinerseits wird durch das „Serum“ Alkohol zu einem „anderen Menschen“, Jekyll wird durch seine Medizin zu Mr. Hyde – dem, wie der Name bereits andeutet, „Verborgenen“, wobei nicht nur Der Typ Hyde verborgen ist, sondern auch alles, wofür er steht: Zügellosigkeit, Tabubruch, Skrupellosigkeit, Entgrenzung, Triebabfuhr, Gewalt – eben all jene dunklen Seiten des Menschen, die der „gute“ Viktorianer Dr. Jekyll zu unterdrücken und zu verdrängen, eben zu verbergen sucht; ein Aal wird als phallisches Symbol eingesetzt, das die als äußerst naiv gezeichnete Mary ebenso fasziniert wie erschreckt – ganz, wie es auch mit dem Gast in Jekylls Haus der Fall bei ihr ist; die Narben an Marys Hals und ihren Händen entsprechen den seelischen Narben sowohl Dr. Jekylls als auch denen Mr. Hydes, denn dieser entpuppt sich doch auch als fühlendes Wesen, wenn er in denselben Worten wie der Doktor davon spricht, die ihm innewohnende Wut nicht kontrollieren zu können, sie käme „wie die Gezeiten“. Beide Männer vertreten auch ähnliche, sehr dezidierte Ansichten über das Wesen des Menschen, über seine Träume und Ängste, die sie Mary in morgendlichen Stunden, wenn die junge Frau das Frühstück bringt, mitteilen.
Malkovich interpretiert den Doktor als einen melancholischen, etwas anämisch wirkenden Mann, den eine tiefe Traurigkeit befallen hat. Mary Reilly scheint ihn zu faszinieren, doch erlaubt es das strenge moralische Korsett des viktorianischen Zeitalters nicht, dass es zwischen einem Herrn und seiner Angestellten zu einer offenen, also liebevollen Beziehung kommen kann. Der Film lässt dabei die Tatsache, dass etliche Hausherren ihre weiblichen Angestellten durchaus missbrauchten, schwängerten und dann gern abschoben, nicht gänzlich außer Acht, erklärt doch die Köchin Mrs. Kent, dass sie sich eben an eine solche Episode erinnere. Doch hätte eine Vertiefung der sozialen Perspektive auf das Geschehen die eher romantische und auch verinnerlichte, psychologische Thematik und Aussage des Films in der Darstellung wahrscheinlich erschwert. Frears und sein Drehbuchautor sind nicht zwingend an einer Darstellung der sozialen Struktur Englands im 19. Jahrhundert interessiert, obwohl sie diese nicht vollkommen übergehen, sondern immer wieder sowohl in den Bildern als auch in den Dialogen andeuten. Doch in erster Linie umgarnen und belauern sich das Hausmädchen und ihr Dienstherr, bis es schließlich Hyde ist, der sich Mary Reilly gegenüber offen verführerisch gibt.
Dieser Mr. Hyde ist – dabei durchaus der Vorlage entsprechend – ein zutiefst amoralisches Wesen, manchmal voller Wut, die er dann an dem oder der erstbesten – notfalls auch an einem Kind, auch darin entspricht der Film der Vorlage von Stevenson – auslässt. Vor allem aber ist er das befreite, zu sich selbst kommende Subjekt, das rein seinen Trieben, seinen Gelüsten und den Wünschen seines Willens folgt. Allerdings – dies ist eine der wenigen deutlichen Anspielungen auf die sozialen Kontexte der Geschichte – ist dieser Mann, Mr. Hyde, eben auch ein Verächter der herrschenden Klasse und des Großbritannien beherrschenden Klassensystems. Offen greift er in einem seiner Monologe, die er Mary Reilly hält, die Aristokratie an, wobei offen bleibt, ob dies tatsächlich ideologischem Denken entspricht oder doch eher der Kränkung geschuldet ist, die Hyde durch die Ablehnung eben jener Klasse erfahren haben mag, die er verteufelt. Hyde wird vom Drehbuch aber durchaus als ein Mann charakterisiert, der eben nicht nur durch seine A-Moralität, seine Tabulosigkeit gefährlich ist, sondern der das Potenzial eines Systemsprengers in sich trägt. Damit findet er Anschluss an eben jenen Typus, der gerade in London in der zweiten Hälfte anzutreffen war: Sozialisten, Anarchisten, Terroristen und Umstürzler. In dieser Charakterisierung weist Hyde subtil über die Rolle des reinen Verführers oder des Berserkers, der er im Roman ist, hinaus.
Doch wird Hampton und Frears der Aspekt unterdrückten Begehrens, unterdrückter Sexualität stärker interessiert haben. Christopher Hampton hat die Thematik immer wieder in seinen Arbeiten – sowohl für das Theater als auch fürs Kino – aufgegriffen, sei es in DANGEROUS LIAISONS (1988), den ebenfalls Frears gedreht hatte, sei es in ATONEMENT (2007), der Adaption eines Bestsellers von Ian McEwan, oder aber in A DANGEROUS METHOD (2011), der sich der Beziehung zwischen dem Psychiater C.G. Jung und seiner Patientin Sabina Spielrein widmet. Immer sind es verdrängte Gefühle, ist es heimliches Begehren und die Manipulation anderer, indem dieses Begehren zum eigenen Vorteil genutzt wird, ist es aber eben auch die zerstörerische Kraft ungezügelter Lust, die in diesen Werken be- und verhandelt wird. Manchmal lustvoll und ironisch, manchmal hoch dramatisch, manchmal gar hysterisch – immer aber mit viel Verständnis für die betroffenen Personen. Es leuchtet ein, dass ein Stoff wie Stevensons Roman einen Künstler wie Christopher Hampton gereizt haben muss.
Doch anders als bei den oben genannten Werken – auf ihre Art alles kleine Meisterwerke – gelingt hier der Sprung von der reinen Idee auf die Leinwand, ins Drama, ins Packende trotz all der guten Ansätze leider nicht wirklich. Der Film wirkt oft wie ein Skizzenbuch, in welchem seine Möglichkeiten angedeutet werden, als dass sie dann wirklich im Bild ausgereizt, ausgespielt würden. So sehr sich Roberts und Malkovich auch mühen – und ihre Leistungen sind beachtlich; Roberts Nominierung für die Goldene Himbeere war keinesfalls berechtigt – fällt es ihnen sichtlich schwer, den Rollen wirkliches Leben, Authentizität, etwas Eigenes einzuhauchen. Diese beiden Figuren, auch wenn die der Mary Reilly in ihrer Mischung aus puritanischer Zurückhaltung und nächtlichen Träumen von Lust und Begierde vielschichtig angelegt ist, bleiben eben letztlich Abziehbilder, Klischees dessen, was man sich unter Figuren der Zeit vorzustellen hat. Malkovich blickt verloren in Roberts´ Antlitz, man sieht ihm das Schmachten an, doch glaubt man es ihm auch? Wirklich zu sich selbst zu kommen scheint er erst, wenn er Hydes Haarpracht und sein lüsternes, Malkovitch-typisch süffisantes bis laszives Lächeln aufsetzen darf. Da der Film, bis auf eine allerletzte Szene sehr zum Ende hin, nahezu gänzlich auf Spezialeffekte – und das bedeutet auch, auf übertriebene Effekte mit der Maske, auf Schockmomente – verzichtet, funktioniert die Unterscheidung Jekyll/Hyde eben nur durch die wenigen äußerlichen Merkmale und Malkovich´ Spiel. Also muss er den Doktor von seiner dunkleren Version maximal abgrenzen. Doch fällt weder dem Drehbuch noch der Regie wirklich etwas ein, um diese Abgrenzung originell zu gestalten. Malkovich wirkt etwas verloren, alleingelassen mit dieser Doppelrolle, die nicht wirklich ausgearbeitet ist.
Stark ist der Film jedoch in anderen Bereichen. So weist er eine hervorragende Ausstattung auf, das viktorianische London wirkt überzeugend, ohne dass die Set-Dekorateure es mit dem Schmutz und dem Dreck und dem Unrat übertreiben. Wenn Mary Reilly durch die engen Gassen zum Haus von Mrs. Farraday eilt, einem Bordell, in dem der Doktor wohl gelegentlich verkehrt, dann sind diese Gassen in einen schier undurchdringlichen Nebel gehüllt – auch das natürlich ein Spiel mit der Übertragung, versteckt sich doch in diesem Nebel auch die Gefahr, die reizt und zugleich abstößt. Jekylls Haus ist dann ein wahres Meisterstück des Kulissenbaus. Über einen Innenhof gelangt man in des Doktors Arbeitsbereich, wo ein Auditorium darauf wartet, von Studenten besucht zu werden, die nicht mehr kommen und das so von allem Anfang an verlassen wirkt und eine morbide Atmosphäre der Einsamkeit erzeugt, ein Bewusstsein dessen, was einmal war und nicht mehr sein kann. Will man des Doktors eigentliches Laboratorium erreichen, muss man über eine Brücke staksen, die einen Abgrund ohne Boden zu überqueren scheint. Das ganze Anwesen ein Labyrinth, das die Enge des viktorianischen Geisteslebens, seine moralische Begrenzung wundervoll spiegelt.
Gerade die an Ketten hängende Brücke, die immer schwankt, sobald jemand sie betritt, kommt wohl dem am nächsten, was Hampton und Frears mit ihrer Interpretation dieser Erzählung erreichen wollten, wenn auch arg dick aufgetragen: Ein wackeliger, unsicherer Boden, der über einem tiefen Abgrund schwebt, immer die Gefahr des Absturzes bergend. So wird zumindest im Szenenbild, in der Mise en Scene selbst angedeutet, worum es Buch und Regie eigentlich zu tun ist. So wird das Unterbewusste, jener Bereich, wo unsere heimlichen Wünsche und Träume, wo unsere Triebe sich verbergen und herrschen, wo aber auch unsere Ängste und schlimmsten Alpträume zuhause sind, recht plakativ in den Bildern repräsentiert.
Sicherlich sind die Zuschauer*innen dieses Stoffes durch die älteren Verfilmungen eher auf ein dem Horrorfilm zuzurechnendes Werk eingestellt; wer den Roman kennt, weiß um dessen verflochtene, die Erzählperspektive wechselnde Stilistik, die – bei aller Vielschichtigkeit, die Stevensons Roman auszeichnet – Lust am Schauerstück, am Gothic Horror, am Grand Guignol beweist und das Publikum doch auch schockieren will. So mag es dann ermüdend wirken, hier einer Interpretation zuzuschauen, die sich, was an sich ja kein Fehler ist, viel Zeit lässt, einzelne Szenen und Momente dehnt und in ihrer inneren Spannung bis zur Neige auskostet, manchmal in Erwartung größerer Spannung, als ihnen wirklich innewohnt. Es ist eine Interpretation, die als Melodram inszeniert ist, hingegen kaum Interesse an Schock oder gar wirklichem Grusel zeigt – tatsächlich wurden einige etwas „härtere“ Einstellungen, darunter die auf eine tote, zerfetzte Ratte und der abgetrennte Kopf der armen Mrs. Farraday für die Kinofassung entfernt und erst für spätere DVD-Veröffentlichungen wieder eingefügt.
Stattdessen wird hier das Psychogramm einer Epoche erstellt, die von Zwängen und der daraus erwachsenen Hysterie ebenso geprägt gewesen ist, wie durch Gewalt. Abgebildet wird dieses Psychogramm anhand dreier Menschen (wenn man Jekyll/Hyde denn als zwei unterschiedliche Charaktere betrachten will), die zueinander in engen, fast schicksalhaften Beziehungen stehen und in den jeweils anderen Begehrlichkeiten erwecken, die die Betreffenden vor allem verwirren und ängstigen. Dieses Psychogramm überzeugend zu erstellen, gelingt den Machern aber nur bedingt, was den Zuschauer*innen ein bei allen Vorzügen des Films doch eher zwiegespaltenes Vergnügen bereitet.