MERCY SEAT/THE MERCY SEAT
Ein brillanter, kaum erträglicher Roman in bester faulknerischer Tradition
Ein Mensch soll sterben. Der junge Will, ein Schwarzer, angeklagt der Vergewaltigung einer jungen weißen Frau, sitzt im Gefängnis und wartet darauf, daß der elektrische Stuhl, der ihn vom Leben zum Tode befördern soll, geliefert wird. Es ist das Jahr 1943, die USA stehen im Krieg, eine ganze Generation junger Männer wird vor allem im Pazifik verheizt, und in Louisiana soll ein Mensch von Hand der Zivilgesellschaft sterben.
Elizabeth H. Winthrop erzählt in THE MERCY SEAT multiperspektivisch von den letzten Stunden, bis die Hinrichtung stattfindet – und ein wenig darüber hinaus. Neben dem todgeweihten Will erheben sich die Stimmen von Lane, einem Freigänger, der mit Seward gemeinsam den „Mercy Seat“ liefert, den todbringenden Stuhl; erheben sich die Stimmen von Polly, dem Staatsanwalt, der das Todesurteil für Will forderte und durchboxte, und Nell, seiner Frau, sowie die von Gabe, ihrem Sohn, der so gern eine Hinrichtung sehen möchte und zum Spielball der Politik jener werden wird, die einen Schwarzen „grillen“ wollen; es erheben sich die Stimmen von Dale und Ora, einem Paar, dessen Sohn in den Krieg gezogen ist und die in dieser Geschichte vielleicht die einzigen sind, die profitieren, weil sie ein Stück der eigenen Menschlichkeit entdecken, bzw. wieder gewinnen; es erhebt sich die Stimme von Hannigan, einem Priester, der in dieses Kaff im Süden kam, das er nicht versteht, und dessen Wirken ihn an seinem Gott zweifeln lässt; schließlich flüstert da die Stimme von Frank, der seinen Sohn noch einmal lebend sehen und ihm einen angemessenen Grabstein bringen will. Aus der Vielstimmigkeit ergibt sich das Portrait einer Gesellschaft unter Spannung. Todesspannung.
Gern und viel wurde Winthrop – eben wegen der Vielstimmigkeit – mit William Faulkner verglichen, erinnert ihr Roman doch gelegentlich an dessen AS I LAY DYING, in dem ebenfalls bis hin zu den Toten unterschiedliche Personen ihre Sicht auf die Dinge und das Leben kundtaten. Doch viel mehr gelingt ihr etwas, das auch Faulkner wieder und wieder gelang: Sie fängt eben diese unterschwellige Spannung, eine Gewaltbereitschaft, eine immer herrschende Brutalität an einem heißen Tag im Süden ein. Es ist, wie auch bei Faulkner häufig, ein besonderer Tag, ein Tag, an dem ein paar Menschen, die durch ein Ereignis, das außerweltlich erscheint in einer Welt, in der ein historisches Ereignis tobt, gegen ihren Willen miteinander verbunden sind. Es ist die Spannung des Er-Wartens, die nach Befreiung, nach einer Explosion, nach Ent-Ladung geradezu lechzt. Schicksalhaft ist dies nicht, denn Winthrop verdeutlicht, wie eine rassistische Gesellschaft funktioniert, ohne dies didaktisch mit dem Zeigefinger zu demonstrieren, sondern indem sie die Zwänge und Nöte derer, die in dieser Gesellschaft bestehen oder etwas werden wollen, nachvollziehbar aufzeigt. Verurteilt sie? Ja, das tut sie. Sie lässt keinen Zweifel aufkommen, daß eine Gesellschaft, in der das, was gemeinhin „Rasse“ genannt wird, so überdeutlich ausmacht, wo jemand steht, innerlich nie zur Ruhe kommen wird, niemals ihren Frieden mit sich selbst wird schließen können. Und anhand der leisen Geschichte um Dale, der einen Brief vom Kommando seines Sohnes mit sich herumträgt, verdeutlicht sie umso eindringlicher, wie die Zerrissenheit einer solchen Gesellschaft wirkt, wo die Risse durch eine solche Gesellschaft verlaufen, die irgendwo an fernen, fremden Orten für Demokratie und Freiheit kämpft, sich aber nicht mit sich selbst im Einklang befindet, wo Freundschaften. Mitleid und Zuneigung dadurch definiert werden, welche Hautfarbe man hat, auf welcher Seite der Gleise man lebt, auf welcher Seite des Feldes man arbeitet. Wie will eine solche Gesellschaft vor sich selber rechtfertigen, daß sie ihre Söhne opfert, wenn sie in ihrem Binnenverhältnis nicht in der Lage ist, friedlich und human miteinander umzugehen?
Der immanente Rassismus dieser Gesellschaft springt den Leser hier praktisch auf jeder Seite an, ohne je offen thematisiert zu werden. Er ist die Voraussetzung für das, was sich auf den 251 Seiten zuträgt, denn er ist dafür verantwortlich, daß nicht sein kann, was nicht sein darf – zum Beispiel eine verbotene Liebe über „Rassenschranken“ hinweg. Die Tragweite dessen, was es hier, im Süden, bedeutet, stigmatisiert zu sein, daß der Tod einen Ausweg bedeutet, der verheißungsvoller als ein Leben „in Schande“ sein kann, daß sich ein Mensch mit dem eigenen gewaltsamen Tod abfindet, weil er den Tod eines geliebten Menschen nicht zu verhindern wusste, daß ein Mann aus politischen Gründen (und persönlichen, denen er sich nicht entziehen zu können meint) bereit ist, ein Menschenleben zu opfern – selten wurden diese Zwänge und Bürden eindringlicher verdeutlicht, als bei Winthrop.
Das kann nur gelingen, wenn ein Autor Herr seiner Sprache ist. Und das ist Winthrop. Selten hat man bei einem Buch den Eindruck, daß wirklich jedes Wort an der richtigen Stelle sitzt, daß jeder Begriff exakt gewählt und genau dort eingesetzt wurde, wo er eingesetzt werden musste. Hier ist es der Fall. Also sei auch dem Übersetzer Hansjörg Schertenleib gedankt, dem es gelang, diesen Text kongenial ins Deutsche zu übertragen. So entsteht eine Atmosphäre, eine Stimmung, in der sich eine ganze Reihe von Geschichten, Lebensgeschichten, entfalten und ihren ganz spezifischen Ton anschlagen können – Geschichten von Verlust und verlorenen Träumen, Geschichten von Utopien, Utopien der Liebe, deren Zeit noch nicht gekommen ist, Geschichten vom Norden und vom Süden und davon, wie das eine nicht zum andern passen will. Ein Panorama amerikanischen Lebens an einer Wegmarke der Geschichte, die immer nur indirekt angesprochen und doch nie aus den Augen verloren wird, die ein Hintergrundrauschen kreiert, das dem Leser immer bewusst ist, ihm immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Unaufdringlich, eben hintergründig, an der Erzählung, nicht der reinen Reflektion orientiert, fließt dieser Text dahin, wie der alte, langsame Fluß, der das Leben im Süden angeblich immer schon geprägt und bestimmt haben soll.
Entstanden ist ein Roman, der in seiner eindringlichen Beiläufigkeit manchmal kaum erträglich ist, der dem Leser, indem er mitten aus dem Leben greift und ihn umfasst, wie selten ein Text nah rückt und, das sei ausdrücklich angemerkt, einiges abverlangt. Nicht an Verständnis in dem Sinne, daß man diesen Zeilen nicht gut folgen könnte. Weit gefehlt. Es ist eine emotionale Tour de Force, die dem Leser hier abverlangt, ja zugemutet wird. Denn wenn man sich einlässt auf all diese verschiedenen Stimmen, die man auf ihre Art und Weise alle verstehen kann und verstehen will, deren Beweggründe alle treffend und nachvollziehbar sind, was eine große Kunst der Erzählerin ist, wird man doch – da ist Winthrops Anordnung geradezu brillant – immer wieder daran erinnert, womit man es hier zu tun hat: Daß ein Mensch sterben wird. Wahrscheinlich aus Räson. Wahrscheinlich zu unrecht. Und wie die Zeiten nun einmal sind, 1943, bei dem, was diese Gesellschaft nun einmal verlangt, selbst wenn manchmal Wunder geschehen, wird dieses Unrecht nicht zu verhindern sein. Zu verhärtet die Fronten, zu tief die Verletzungen, zu verinnerlicht die Ressentiments.
Man möchte mehr solcher Texte lesen – und möchte zugleich, daß es nicht mehr, nie mehr, nötig sein wird, solche Texte zu schreiben oder lesen zu müssen.