ALLES WAS WIR GEBEN MUSSTEN/NEVER LET ME GO

Zwischen Coming-of-Age-Erzählung und Dystopie verliert Kazuo Ishiguro den Weg aus den Augen

Der Genreautor hat es in gewissem Sinne gut – kauft der Leser einen Roman aus dem Krimi -, dem Horror- oder dem Sci-Fi -Fach, erklärt sich recht einfach, was er verlangt: Spannung, Unterhaltung, einen guten Plot mit Kniffen und Wendungen, die die Lektüre zu einem Abenteuer, bestenfalls einer Achterbahnfahrt werden lassen. Der Genreautor bezieht die Legitimation dessen, worüber er schreibt, aus einem dem Werk selbst entäußerlichten Gerüst – eben dem des Genres. Dieses stellt in seiner jeweiligen Ausprägung spezifische Regeln, gewisse Topoi, Figuren, Symbole, eine funktionierende innere Grammatik und einen allgemeinverständlichen Pool an Metaphern zur Verfügung. Der Genreautor darf diese Regeln bis zu einem gewissen Grade verletzen, muß jedoch glaubwürdig bezeugen, daß er sie kennt und respektiert. Will er sie brechen, ausdehnen, dekonstruieren oder gar parodieren, läuft er immer Gefahr, beim Rezipienten ins Leere zu laufen; Genrefans sind eigen und verlangen Respekt. Dieser muß immer spürbar sein. Ist das so, darf sich der Genreautor durchaus Freiheiten im Umgang herausnehmen und selbst gewisse Unlogiken sieht man ihm nach. Nur den Leser an der Nase herumführen – außer er macht das wirklich gut und auf hintersinnige Weise, die dem Leser zumindest den Eindruck vermittelt, intelligent hintergangen worden zu sein – oder für dumm verkaufen, darf er nicht. Das macht Genreliteratur zugleich einfach und schwer, eben weil man auf eine funktionierende Symbolik zurückgreifen kann, die zu beherrschen, ihr dann Originelles abzugewinnen, allerdings zu einem unüberwindbaren Hindernis werden kann.

Genreferne, sozusagen „freie“, Literatur funktioniert anders. Sie muß ihre Legitimation immer aus sich selbst beziehen. Jedes Werk muß seine eigene Grundspannung finden, sich seine eigenen Regeln entwerfen, die dem Autor dann als Leitlinie dienen mögen. Man merkt als Leser, ob ein Werk diese Grundspannung aufweist, diese innere Legitimation gefunden hat. Manchmal merkt man aber auch, daß der Autor Einzelteile zu einem ganzen vermischen will, die sich sperren und sich seinem Wunsch widersetzen. Dann verliert ein Werk sein inneres Gleichgewicht und gerät ins Schlingern. Das die  einzelnen Teile des Ganzen dennoch oft von großer Kunstfertigkeit sein können, daß die zugrunde liegenden Gedanken dennoch interessant, tiefsinnig, ungewöhnlich sein können und die Schicksale der Figuren dennoch berühren können, ändert dann nichts an der Tatsache, daß all diese Zutaten kein Ganzes ergeben wollen.

Wenn ein Autor beispielsweise von seinen feinen und hintergründigen Beobachtungen und Reflektionen der Gesellschaft, in der er lebt, berichten will, zugleich aber auch eine berührende Dreiecksgeschichte aus der zarten Adoleszenz von Heimzöglingen erzählen möchte und zudem ein Statement zu zeitgenössischen Fragen von Reproduktion, Humanwissenschaften und dem gesellschaftlichen Umgang damit abzugeben gedenkt, wird er möglicherweise lange nach einem passenden Sujet suchen müssen, um diese Ebenen zueinander bringen und miteinander verbinden zu können. Da sich das Problem, daß eine solche Zusammenführung zwangsläufig konstruiert und hergeführt wirkt, sowieso aufdrängen wird, bietet sich der Umweg über das Genre ab, ein – Umweg, der als Abkürzung wahrgenommen wird. Das Genre mit seinen Regeln und seiner ureigenen Grammatik bietet Formen, die es oft erlauben scheinbar Gegensätzliches oder schwer miteinander Vereinbares zusammen zu führen, die Konstruktion ist Teil seines Wesens und muß somit nicht camoufliert werden. Das Zukunftsgenre zum Beispiel erlaubt es, mit populärwissenschaftlichen Versatzstücken zu hantieren, ohne daß man als Autor in eine Legitimationskrise schliddert, weil man von der Materie im Grunde nichts versteht. „Gute“, sprich: anerkannte, Science Fiction ist sowieso immer in einer der Gegenwart ähnelnden Zukunft angesiedelt, damit der Leser die gesellschaftspolitischen, meist dystopischen, und kulturellen Zusammenhänge begreift. Und wenn man richtig geschickt ist, siedelt man das ganze so an, daß es im Grunde gar keine Science Fiction mehr ist. Vielmehr stellt man die Gegenwart in Frage und fördert beim Leser eine gehörige Portion Paranoia. Dann aber hat man es geschafft, wieder literarischen Grund unter die Füße zu bekommen und bewegt sich auf dem Gebiet der „Kunst“.

Neu-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro wählt für NEVER LET ME GO, so der Originaltitel des Werkes ALLES WAS WIR GEBEN MUSSTEN, genau diese Strategie und greift noch zusätzlich auf sprachliche Muster des Spannungsromans zurück, indem er die Ich-Erzählerin, eine Frau namens Kath, allenthalben darauf verweisen lässt, daß sie dies oder jenes im Lichte der späteren Ereignisse natürlich anders beurteilt,  generell auf noch nicht Geschehenes und noch zu Berichtendes rekurriert und damit dauernd kleine Cliffhanger einbaut, die teils billigen Pulp-Geschichten entnommen wirken. Ob dies dem unbedingten Willen geschuldet ist, Genreliteratur zu schreiben und also auch als solche wahrgenommen und beurteilt zu werden, oder ob dies eine Art postmoderne Strategie sein soll, das Wesen der Genreliteratur, eben die oben erwähnten Regeln und die innere Motorik, auszustellen, ist schwer einzuschätzen, vielleicht soll es auch genau so sein. Die Diskrepanz zwischen der Grobheit dieser klischeehaften Spannungshaken und der fein gesponnenen Sprache, ihren Bildern und ihrem Rhythmus, derer er sich hier bedient, ist umso auffälliger, als der Autor des Meisterwerks THE REMAINS OF THE DAY (WAS VOM TAGE ÜBRIGBLIEB) über eine ausgeprägte Fähigkeit verfügt, Stimmungen und Atmosphären zu erzeugen, die in die oft nur skizzenhaft angedeuteten Szenarien ein zartes Leben hauchen und empathisch feine, verborgene Strukturen der menschlichen Existenz erahnen lassen. Das Setting hier ist eine vermeintliche Lehranstalt irgendwo in Mittelengland für Mädchen und Jungen an der Grenze zur Pubertät. Wie ein Hauch von Romantik wirken die zarten Bande zwischen den Schülern, automatisch denkt man an die imperialen Plateaus eines Evelyn Waugh oder E.M. Forster. Flüchtig drängt sich Peter Weirs Meisterwerk PICNIC AT HANGIG ROCK (PICKNICK AM VALENTINSTAG – 1975) als Referenz auf. Ishiguro evoziert das Bild eines Englands, in dem ein jeder seinen gesellschaftlichen Platz kannte und – besser noch – akzeptierte. Offensichtlich angesiedelt im späten 20. Jahrhundert, in einer Zeit kurz vor der Digitalisierung, die die globalen gesellschaftlichen Strukturen grundlegend und nachhaltig verändern sollte (und in deren Zeitalter die Geschichte, die Ishiguro erzählen will, vielleicht zu erzählen nicht möglich gewesen wäre), distanziert er den Leser des Jahres 2005 – das Jahr in dem der Roman erschien – so, daß dieses nur angerissene England des Romans durchaus noch in eins gesetzt werden kann mit einem England, daß mit dem Zweiten Weltkrieg endgültig untergangen ist, sich in seiner inneren Struktur aber immer noch nicht der (Post)Moderne angepasst hatte. Ein England, wie es in den 1980er Jahren noch deutlich zu spüren war. Ein im Kern viktorianisches England.

Diese Gesellschaft beobachtet Ishiguro genau – wie genau, hat er in diversen Romanen und Erzählungen bewiesen. Es ist eine Gesellschaft, die er zunächst als Fremder beobachtete, kam er selbst doch erst mit fünf Jahren aus seinem Heimatland  Japan nach England. Vielleicht liegt darin die Wurzel dieser außergewöhnlichen Fähigkeit, eine spezifisch englische Atmosphäre zu erspüren und sprachlich auferstehen zu lassen. Über seinem Text liegt die  Stille eines englischen Parks an einem warmen Juninachmittag. Das ist verführerisch und wiegt den Leser in Sicherheit, verbirgt aber nur oberflächlich einen Schrecken, den Ishiguro leider nicht andeutet, sondern mit all den erwähnten Plattitüden geradezu herausbrüllt. Ununterbrochen werden wird darauf hingewiesen, daß  hier etwas nicht stimmt – nie werden Eltern dieser „Internatsschüler“ erwähnt, worin deren Ausbildung besteht, erfahren wir ebenfalls nicht, dafür wird uns zugeraunt von ihren „Spenden“ und davon, daß sie bei Zeiten „abgeschaltet“ werden. Ishiguro bietet uns manch geradezu schrillen Hinweis, anderes wird uns erst nach und nach bewußt. Die Diskrepanz zwischen den atmosphärischen Feinheiten und den manchmal grob gesetzten Hinweisen ist literarisch so auffällig, daß man sich fragt, weshalb der Autor sich ausgerechnet DIESES Genre gewählt hat. Oder überhaupt meinte ein Genrewerk schreiben zu müssen? Eigentlich ist sowohl die konkrete Geschichte um biotechnische Reproduktion und ihren Nutzen in einer, in ihrer Dekadenz ihre humanistischen Ideale verratenden Gesellschaft, als auch die allegorische Ebene, in der Ishiguro eine Gesellschaft reflektiert, die seltsam erstarrt wirkt in ihren vielleicht endzeitlichen Ausprägungen, höchst bedenkenswert und dementsprechend interessant. Doch beides miteinander zu verschränken, will ihm nicht recht gelingen, geht das eine doch nicht wirklich im andern auf.

Hinzu kommt dann eine adoleszente Dreiecksgeschichte, die einer unglaublichen literarischen Fülle an Dreiecksgeschichten nichts hinzuzufügen weiß, außer, dßs sie ihr Personal nutzt, um dem Leser einmal mehr vor Augen zu führen, wie gleichgültig man sogar dem eigenen Schicksal gegenüber sein kann, was natürlich erneut allegorisches Potential auf eine ermattete und zunehmend ermattende Gesellschaft birgt. Da eine der drei Figuren dieser Konstellation, eben die erwähnte Kath, die Geschichte erzählt, dabei unbedingt darauf bedacht, sie uns spannend darzureichen, müssen wir wohl oder übel all die kleinen und großen, die subtilen und die groben Manipulationen ertragen, die der Text uns zumutet, ohne daß wir dem Erzählten wirklich trauen können. Ein geschickter Zug, denn so entzieht sich der Autor erneut allzu genauer Deskription wissenschaftlicher Zusammenhänge und sichert sich durch die „naive“ Sichtweise eines noch in idealisierten Vorstellungen verhafteten Jugendlichen dahingehend ab, daß man ihm seine Finten kaum vorwerfen kann. Es sind eben die (Wunsch)Vorstellungen eines Menschen, der einerseits noch im Prozeß des Werdens steckt, zugleich aber auf nie näher erläuterte Weise bereits weiß, daß er „anders“ und sein Schicksal nicht vergleichbar mit dem „normaler“ Menschen ist. Ishiguro schildert uns seltsam unterintellektualisierte und zugleich scheinbar übersexualisierte Wesen, bei deren „Ausbildung“ wir nie zugegen, deren Lehre oder Bildung wir nie bezeugt bekommen. Dem Leser entpuppt sich der Grund all dessen nur zaghaft, obwohl wir früh erahnen, worauf das alles hinausläuft. Wir müssen uns vieles interpretativ zusammensetzen und blicken dabei in manche Abgründe, die Ishiguro geschickt öffnet und so schnell wieder schließt, daß man während der Lektüre stockt, weiterliest, zurückblättert und sich versichert, genau gelesen zu haben. Momentweise beschleicht den Leser durchaus das Grauen, wenn er zu begreifen beginnt, worauf in letzter Konsequenz hinausläuft, was Ishiguro da nur ausschnitthalber andeutet. Und doch sind diese Figuren nicht interessant genug, um zu fesseln. Als Charaktere zu eindimensional (was möglicherweise noch mit ihrer Funktion innerhalb des Textes und der Gesellschaft in Verbindung stehen könnte), in ihrer Psychologie eher medialen Vorbildern als realen Personen verwandt, bleiben sie Abziehbilder, teils Klischees  in einer Welt, die zusehends selbst das Abziehbild einer vermeintlich besseren Vergangenheit zu sein scheint. Es schimmert dabei immer eine gute literarische Idee durch die Zeilen und ihre Abstände, doch liegt genau darin vielleicht die eigentliche Schwäche des Buches: Man spürt die Idee, doch wird man nicht von der Magie einer gelungenen Umsetzung bezaubert. Momentweise erreicht er seine ganze Klasse, erfüllt sich das Versprechen, daß sein Schreiben, seine Literatur immer in sich birgt.

Literarisch wie sprachlich sind es feine Wege, die Ishiguro einschlägt, oft quer durch das Unterholz reiner Verdrängung, er spinnt ein feines Netz, legt eine Menge Spuren und Fährten – doch o, Großen folgt er dann doch eher ausgetretenen Pfaden, scheint er mit den Genreregeln nicht klar zu kommen und will sich eigentlich auch die ganze Zeit aus ihnen befreien. So ist NEVER LET ME GO mal als Spannungsroman, mal als Gesellschaftsportrait, mal als Coming-of-Age-Story angelegt, scheint aber nie wirklich in sich stimmig zu sein. Weder als Science-Fiction noch als Satire, nicht als Allegorie und auch nicht als Drama kann es wirklich überzeugen, außer eben momentweise, wobei Ishiguro sich dann auch nicht scheut, das Melo mit in seinen Text hereinzuholen und den Leser emotional wirklich anzustoßen. So divergiert der Text zu sich selbst, kommt ins Schlingern und mäandert schließlich einem nicht wirklich überzeugenden Ende entgegen, welches dann den fatalen Fehler begeht, dem Leser all das, was er eben auf über 300 Seiten verfolgt und für sich  zu entschlüsseln gesucht hat, noch einmal ziseliert auseinander zu setzen, damit uns bloß keine losen Enden verwirrt und ratlos zurücklassen. Wenn ein Autor dem eigenen Stoff nicht traut…vielleicht ist es gar kein großes Wunder, daß es eher einem Genreautor gelingt, ins „ernste“ Fach zu wechseln, als daß sich „ernste“ Autoren erfolgreich im Genre tummeln.

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