NORDEN UND SÜDEN/NORTH AND SOUTH

Elizabeth Gaskells frühfeministischer, fast dialektisch zu nennender Industrie-Roman

„Manchesterkapitalismus“ nennt man jene Spielart des „wilden“ Kapitalismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Großbritannien im Zuge der Hochphase der Industrialisierung entstand. Fabrikanten und Besitzer, die quasi machen konnten, was sie wollten, Arbeiter ohne Rechte, in Lebensverhältnissen, die sozial, baurechtlich und  hygienisch jeder Beschreibung spotteten, Kinderarbeit, die reiner Ausbeutung glich – die Mißstände aufzuzählen, wäre eine an sich schon aufreibende Arbeit. Allerdings wurden diese Mißstände schon früh wahrgenommen und sowohl sozial (Robert Owen), wissenschaftlich (Friedrich Engels), wie auch literarisch aufgearbeitet und angeprangert. Für letzteres wird gern Charles Dickens angeführt, der sicher immer wieder auf Fehlentwicklungen hinwies, doch sollte unbedingt und vielleicht noch dringlicher auch Elizabeth Gaskell genannt werden, die selber lange in Manchester lebte und 1855 in NORTH AND SOUTH ein in Teilen doch sehr  realistisches Bild davon zeichnete, unter welchen Umständen der gemeine Arbeiter zu leben – und zu sterben – hatte.

Es war Gaskells vierter Roman und nach CRANFORD (1853) ihr zweiter wirklicher Erfolg. Sie hatte bereits in ihrem Erstling MARY BARTON. A TALE OF MANCHESTER (1848) das Leben und Leiden des Proletariats beschrieben. Was damals oft allzu melodramatisch daherkam, wurde in NORTH AND SOUTH in eine literarisch angemessene Form gegossen und dadurch umso überzeugender; allerdings schleicht sich auch hier – vergleichsweise typisch für die Literatur des 19. Jahrhunderts – ein durchaus salbungsvoller Ton gerade zu Beginn des gut 500 Seiten starken Werkes ein. Vielleicht aber kann es gar nicht anders sein, wenn man ein Werk wie dieses mit der Glaubenskrise eines Geistlichen beginnen lässt, der sein Amt in einer idyllischen südenglischen Grafschaft nicht mehr ausüben kann und stattdessen Arbeit als Privatgelehrter in der aufstrebenden Arbeiterstadt Manchester im Norden Englands annimmt. Dieser Mr. Hale zieht in seiner Sinnkrise Frau und Tochter mit sich: Beide sind gezwungen, ihren gewohnten ländlichen Lebensraum gegen die rauchende, stinkende, verrußte, enge und in harscher Diskrepanz zwischen elender Armut und durchaus fast luxuriösem Reichtum existierende Stadt einzutauschen. Hier muß Gaskells Hauptfigur Margaret Hale, Tochter des kriselnden Geistlichen, die schreiende Ungerechtigkeit gegenwärtigen, die zwischen den wenigen an der Spitze der Gesellschaft und der Masse der Armen am unteren Rand herrscht.

Elizabeth Gaskell nutzt Margaret Hale als ihr Alter Ego und kann somit ihre eigenen Erfahrungen als Frau eines Geistlichen eben in Manchester – eine soziale Position, die es ihr erlaubte, mit Vertretern der unterschiedlichsten Klassen und Schichten auf Augenhöhe in Berührung zu kommen, gerade so, wie es auch Margaret im Roman gelingt – verarbeiten. Margaret begegnet so dem Fabrikbesitzer Mr. Thornton, dem Arbeiter und Gewerkschafter Nicholas Higgins, dessen gottergebener Tochter Bessy, deren Schwester Mary und dem Nachbarn Boucher, der die Streiksituation eskaliert und dadurch mitverantwortlich wird, daß Thornton und andere Fabrikanten irische Streikbrecher in die Stadt holen und es zu Gewalttätigkeiten kommt. Margaret, die in jüngeren Jahren lange Zeit in London bei ihrer Cousine gelebt hat, ist mit dem Leben der „höheren Gesellschaft“ durchaus vertraut und somit auch für die Gegensätze zwischen der klassischen Londoner High Society und den neureichen Emporkömmlingen, den Industriebaronen des Nordens, empfänglich. Margaret erkennt gerade im Luxusleben ihrer Cousine die Oberflächlichkeit und Irrelevanz eines Lebens, das sich nur um die eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse dreht und vom Leben der anderen, vor allem dem der unteren Klassen, nicht nur nichts weiß, sondern auch nichts wissen will. Mr. Thornton, zwar ein Kapitalist, wie er aus dem Buch der Klischees entsprungen zu sein scheint, hat sich seinen Reichtum selbst erarbeitet und tritt den Streikenden auch deshalb mit der ihm eigenen Härte entgegen. Doch gerade in seinem Verhältnis zu Higgins, dem er als Gewerkschafter zwar besondere Antipathie entgegenbringt, aber eben auch den Respekt des Kämpfers einem Kämpfer gegenüber, kommt auch ein schon an die Hegel´sche Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft erinnerndes Verhältnis zum Ausdruck.

Ob Gaskell diese zentrale These der PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES (1807) gekannt hat – es sei dahingestellt. Doch erfasst sie den Kern exakt. Es gelingt ihr im Laufe des Handlung ihres Romans, beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sie stellt die Grausamkeit eines Systems, das Menschen benutzt und dann ausspuckt und mißachtend vergisst ebenso aus, wie sie die Macht der Gewerkschaften schildert, die einen Mann wie Boucher in den persönlichen Ruin treiben, indem sie ihn unter enormen Druck setzen und damit in sein Unheil treiben. Daß Gewerkschaftsarbeit aber ein absolut notwendiges Gut, eine maßgebliche Begleiterscheinung des „wilden“ Kapitalismus, ein Instrument seiner Einhegung und Domestizierung ist, daran lässt die Autorin keinen Zweifel. Zudem ist sich Gaskell aber – und hier unterscheidet sie sich sowohl von der etwa eine Generation älteren Jane Austen, die wahrscheinlich denkbar wenig lebensnahen Kontakt zu Mitgliedern anderer als ihrer eigenen Schicht hatte, als auch von ihrer Freundin Charlotte Brontë, die sich schlicht für andere Themen interessierte – generell des englischen Klassensystems sehr bewusst. Nicht nur im Verhältnis Arbeitgeber zu Arbeiter wird das deutlich, sondern ebenso anhand der Beschreibungen der verwandtschaftlichen Verhältnisse, in denen ebenfalls eine Herr-Knecht-Beziehung sich andeutet von der wohlhabenden Tochter zur mittelosen Cousine, die in diesem Fall Margaret darstellt; ebenso anhand der Geschichte von Margarets Bruder Frederick, der aufgrund einer von ihm aufgrund einer Ungerechtigkeit angezettelten Meuterei auf einem Marineschiff nie wieder nach England wird zurückkehren können; ebenso anhand des Verhältnisses zwischen Margaret und Dixon, der Hausangestellten, die wie ein Faktotum der Familie angehört und in Opposition zu Margaret steht und damit auch eine Prüfung für deren Hochmut darstellt. Auch hier, in all diesen Beziehungen, gelingt Gaskell ein erstaunliches dialektisches Spiel, in dem ein jeder in irgendeiner Beziehung Diener und in einer anderen ein Herr ist.

Dabei wechseln die Ebenen zwischen einer ökonomischen, einer sozialen und einer emotionalen. So sollte man nie vergessen, daß dies eben auch ein Roman des 19. Jahrhunderts ist, der unterhalten will, der sich durchaus auch um die sentimentalen Befindlichkeiten seiner Leser kümmern wollte. Margaret Hale erhält zwei Heiratsanträge im Laufe dieses Romans, einen sehr zu Beginn von einem Anwalt, einem Abkömmling einer frühen bürgerlichen Schicht Londons, einen von eben jenem Mr. Thornton, den sie verachten zu müssen glaubt. Gaskell spinnt eine kleine, für die zeitgenössische Literatur fast typisch zu nennende Verwirrung um Eifersüchteleien, falsche Informationen und verletzte Eitelkeiten, bis sie ihren beiden Liebenden überhaupt eine Chance einräumt, zueinander zu finden, nutzt diesen Handlungsstrang aber vor allem, um eine starke Frau umgeben von eher schwachen, zweifelnden und unsicheren Männern zu zeigen. Es ist in der Literaturwissenschaft oft hervorgehoben worden, daß Gaskell, die als Autorin anders als die oben genannten Austen und Brontë lange vergessen war und erst Mitte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, als eine Art Frühfeministin gelten kann. Dabei vermeidet sie es, Frauen – oder mit Margaret zumindest eine Frau – als alle andern überstrahlend hinzustellen und die sie umgebenden Männer als schwach zu zeigen. Gerade in Margarets Cousine Edith wird eine sehr egozentrische Person sehr realitätsnah geschildert. Und mit Mr. Thornton, aber auch mit Mr. Lennox, dem Anwalt, der Margaret einen Heiratsantrag macht, und vor allem Nicholas Higgins, dem Gewerkschaftsmann, der das Herz am rechten Fleck und sein Herz auf der Zunge trägt, zeichnet sie starke Männer, die vor allem deshalb stark sind, weil sie modern sind und als Charaktere Schwächen und Widersprüchlichkeiten aufweisen (zumindest Thornton und Higgins; Lennox spielt in der Handlung eine zu untergeordnete Rolle und erfüllt eigentlich eine rein dramaturgische  Funktion). Doch ob Margaret oder ihre Mutter, Mrs. Hale, ob Mrs. Thornton, die schicksalsergebene Bessy oder auch Dixon – der Roman weist eine Fülle sehr, sehr starker Frauenfiguren auf, die in dieser Dichte Ihresgleichen in der Literatur des 19. Jahrhunderts suchen.

So gelingt es Gaskell, auch die eher romantischen Seiten ihres Romans zu nutzen, soziale, gesellschaftliche und durchaus auch psychologische Nuancen im Verhältnis der Figuren zueinander zu analysieren und darzustellen. Daß ihre Sprache manchmal arg anschwillt mit Pathos und ihre gelegentlichen philosophischen Abschweifungen vor allem religiöser Natur und von geistlichen Fokussierungen geleitet sind, muß man in Kauf nehmen. Das wird sowohl ihrer Herkunft als auch ihrer Natur und ihrem sozialen Umfeld geschuldet sein. Elizabeth Gaskell arbeitet mit einem enorm wachen Geist Gegensätzlichkeiten der englischen Gesellschaft heraus: Das klassisch-ländliche England gegen die Brutalität der heranwachsenden Metropolen, aufkommende Geschlechter- und Klassendifferenzen, die in teils offene Konflikte münden, Reichtum und Armut, Bildung um ihrer selbst willen (wie bei Edith) und eingeforderte Bildung als Weg aus Armut und Unterdrückung, aber auch aus einem Schicksal, das als gottgegeben betrachtet wird usw. Was ihr Werk darüber hinaus aber in den Stand hoher Literatur erhebt, ist ihre Befähigung, herauszuarbeiten, wie sich diese Gegensätze bedingen und aneinander sich reibend auch Neues und durchaus der Gesellschaft Zuträgliches hervorbringen.

NORTH AND SOUTH sollte neben den Werken Jane Austens, der Brontë-Schwestern oder George Eliots als eines der großen Werke weiblicher Literatur aus Großbritannien wieder-entdeckt werden. Es lohnt sich, Seite für Seite, Zeile um Zeile.

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