EDEN LAKE

Horrorfilm? Terrorkino? Oder doch nur ein drastisches Sozialdrama?

Ein junges Paar – Jenny (Kelly Reilly) und Steve (Michael Fassbender) – fährt auf ein Campingwochenende in einen alten, abgelegenen Steinbruch, den Steve von früheren Tauchausflügen mit seinen Kumpels kennt. Schon bald kommt es am Strand zu einer Auseinandersetzung mit einer Horde Jugendlicher, die sich hier offenbar regelmäßig rumtreibt. Über anderthalb Tage hinweg schaukelt sich die Situation auf – die Jugendlichen provozieren, Steve läßt den harten Kerl raushängen, Jenny versucht zu schlichten – bis es bei einer Rangelei zu einem Unfall mit einem Messer kommt und der Hund des Anführers der Teenager stirbt. Nun entpuppt sich die Truppe um den brutalen Brett (Jack O’Connell) als extrem zynisch und gewalttätig.

Man müsste einmal lexikalisch erfassen, wann auf der Leinwand die „bösen Kinder“ erstmals auftraten, wie sie sich entwickelten und wo sie heute stehen. EDEN LAKE ist vorläufiges Endprodukt einer neuen Welle harter Terrorstreifen, deren „böse“ Protagonisten Kinder oder Jugendliche sind. Ob die Jack-Ketchum-Verfilmungen THE GIRL NEXT DOOR (2007) oder RED (2008), ob die englische Produktion WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN (2011) – es scheint so, als sei da eine Generation vollkommen vom Weg abgekommen.

Was sich dann entwickelt, ist allerdings von derartiger Härte und Kompromißlosigkeit, daß es den Verehrer harter Terror- und Splatterkost durchaus erfreuen dürfte; ob man Regisseur und Drehbuchautor James Watkins wirklich noch sein Anliegen abnehmen will, dies solle eine Art Sozialstudie einer verrohenden Jugend sein, kann man getrost einmal dahingestellt sein lassen. Das Anliegen ist schon zu spüren, das ist keine Frage. Obwohl der Film gerade einmal eine ungeschnittene Lauflänge von knapp 88 Minuten aufweist, läßt er sich im ersten Drittel ausreichend Zeit, sowohl das Mittelklassemilieu des jungen Paares – sie Kindergärtnerin, er offenbar aufsteigender Jungmanager o.ä – ebenso auszuleuchten, wie er sich Mühe gibt, keinen Zweifel daran zu lassen, daß man es bei Brett und seiner Gang mit Kindern aus der in England noch deutlich auszumachenden sozialen Unterschicht zu tun hat. Gerade im Original nutzt Watkins Slang, Dialekt und Ausdrucksweise recht geschickt, um diese Klassenunterschiede zu markieren. An dem alten Steinbruch soll eine Luxus-Wohnanlage erbaut werden, was den bisherigen Anwohnern wahrscheinlich den Zugang zu ihrem Reservoir abschneiden würde und tatsächlich sind die Wälder, die den zu einem See (Eden Lake) umdefinierten Steinbruch umgeben, von allerlei Bauzäunen und anderen Sperren durchzogen.

Der sich anbahnende Konflikt – hier ein junges, aufstrebendes Pärchen, von dessen männlichem Part wir wissen, daß er das Wochenende nutzen will, um seiner Freundin einen Heiratsantrag zu machen, dort eine Gruppe gelangweilter Teenager, die all die guten Sachen wie Ray-Ban-Sonnenbrillen oder schicke, dicke Autos wahrscheinlich nur aus der Werbung kennen – wird von Watkins geschickt angebahnt, ohne dabei allzu didaktisch vorzugehen, ohne zu dick aufzutragen oder das Publikum an die Hand zu nehmen. Die Teenager – allen voran Brett und die junge Paige (Finn Atkins), einziges Mädchen der Gang – sind sehr gut sowohl als Gruppe wie als Individuen erfasst, es leuchtet schnell ein, wie hier die Hierarchien verlaufen und wer wem was zu sagen hat. Wer als Jugendlicher oder auch sonst je mit einer solchen Gruppe zu tun hatte, erkennt schnell, wie gut das Buch diese Jugendlichen portraitiert, ohne dabei in überdeutliche Details zu gehen. Es sind eher skizzenhafte Striche, die aber perfekt gesetzt sind, um sie ausreichend zu charakterisieren. Der mittlerweile zum kommenden Superstar aufgestiegene Michael Fassbender ist als Schauspieler für einen Film wie EDEN LAKE ein echter Trumpf, gelingt es ihm doch, Steve mit der richtigen Mischung aus mittelständischer Arroganz und unterschwelliger Angst, der Situation gar nicht gewachsen zu sein, auszustatten. Sein Changieren zwischen behauptetem Machismo und Unsicherheit macht die Figur glaubhaft und auch die späteren Reaktionen nachvollziehbar. Man könnte also sagen, Watkins hat alles richtig gemacht, er richtet ein Sozialdrama an, das Fragen nach der immer noch herrschenden Klassen- und Schichtgesellschaft zumindest in England aufwirft, dabei eben auch bereit ist, in Regionen zu gehen, die wehtun, weil das Thema ein schmerzhaftes ist.

Ein Film wie RED hat das vorgemacht. Dort zieht es dem Publikum nach und nach den Boden unter den Füßen weg, denn geschickt manipuliert uns der Film so, daß wir die aufziehende Gewalt zu rechtfertigen suchen, wohlwissend, daß sie es nicht ist, weil wir – natürlich – Selbstjustiz ablehnen. Watkins – und hier liegt das Urteil im Auge des Betrachters – macht entweder einen eklatanten Fehler, unterliegt einer brachialen Fehleinschätzung oder hat sich auf halben Wege entschieden, einen völlig anderen Weg einzuschlagen. Denn spätestens ab jenem Zeitpunkt, da Steve seinen Peinigern in die Hände fällt, entwickelt sich hier einer der intensivsten und gemessen an seinem Realitätsbezug härtesten Splatter- und Terrorfilme seit langem. Und Watkins kann sich des Vorwurfs nur schwer erwehren, daß er nicht reiner Schaulust, der reinen Lust an der Darstellung von Gewalt erliegt. Was schade ist, denn EDEN LAKE bietet eine Menge Anschlußpunkte für Fragen zur englischen Gesellschaft. In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends wurde London von einer Welle fürchterlicher Jugendgewalt erschüttert, als es unter Gangmitgliedern wohl eine Art Initiationsritus war, einen anderen Jugendlichen zu töten. Es kam zu einer ganzen Reihe von Tötungsdelikten in der Londoner Innenstadt und lange wurde gezweifelt und hinterfragt, wie es sein könne, daß eine Generation derart verroht. Allein das hätte dem Film schon genügend Brisanz verliehen. Doch Watkins schwenkt lieber von einer Milieustudie, einem Sozialdrama, in die Gefilde des Horrorfilms, mehr noch des Subgenres des Torture-Movies, mit all seinen Psycho- und Soziopathen, mit all jenen Serien- und Lustmördern, die ohne jedwede Begründung schlitzen, zerlegen, zerreißen und zermalmen. Wo Anführer Brett seine „Untergebenen“ zunächst nachvollziehbar zwingt, sich an den Gräueltaten zu beteiligen und dies alles von Paige mit dem Handy filmen läßt, um seine Mitstreiter erpressen zu können (eine der eindringlichsten, fürchterlichsten und psychologisch wahrsten Szenen des Films), entwickelt der Junge zunehmend psychopathische Züge, bis wir den Eindruck gewinnen, es mit einem Nachwuchs-Jason-Vorhees oder einem Möchtegern-Michael-Myers zu tun zu haben. Und die, das wissen wir, sind bestenfalls mit dünnen psychologischen Diagnosen ausgestattet, selten, daß einer dieser Meuchler einer ernsthaften Untersuchung unterzogen wurde. Halbmythisch ist ihre Aufgabe schlicht, Angst und Schrecken zu verbreiten – und zwar meist unter Jugendlichen. Darin liegt dann wieder eine der Stärken des Films: Er dreht ein bekanntes Muster um und spielt es wirklich gnadenlos durch.

Erst zum Ende des Films kehrt er noch einmal zurück zu seinem angenommenen Anliegen. Es sei gewarnt, ohne etwas zu verraten: Dieses Ende ist eines der gnadenlosesten, auch brutalsten, die man lange hat bewundern dürfen. Und es liefert eine, wenn auch recht herkömmliche, Analyse für die Struktur der Gewalt dieser Jugendlichen. Denn plötzlich werden wir derer Eltern ansichtig und einiges erklärt sich – für uns – sozusagen von allein. Für andere wird die Erkenntnis…tödlich sein.

Watkins, das muß man so sagen, ist aus unterschiedlichen Perspektiven ein erstaunlicher Film gelungen. Er funktioniert als Drama (auch, weil in en wenigen ruhigen Szenen, die durchaus auch noch vorkommen, nachdem die Gewalt losbricht, wirklich berührende, glaubhaft berührende Momente zwischen Steve und Jenny gelingen, die allerdings den Ablauf der Geschichte noch unerträglicher machen) wie als eine Art von Sozialstudie, er funktioniert als Terrorfilm und also auch als Horrorfilm. Auf dieser Ebene funktioniert er sogar ausgesprochen gut, da er einen Härtegrad erreicht, der auch davon abhängig ist, dem Publikum kein Fantasiereich wie jenes in den HOSTEL-Filmen (2005ff.) zu präsentieren, sondern einen dem Zuschauer durchaus bekannt vorkommenden Wald in einer durchschnittlichen westeuropäischen Provinzlandschaft. Die Glaubwürdigkeit wird durch das alltägliche Setting und das Spiel aller Protagonisten unterstützt, wodurch die gezeigte Gewalt umso drastischer wirkt. Auf dieser Ebene funktioniert der Film sogar als Studie darüber, wie sich eine Gewaltspirale in Gang setzt – unabhängig davon, wer angefangen hat – und zusehends schneller dreht, dabei immer brutaler werdend und kaum mehr aufzuhalten. Es hapert manchmal an der Kohärenz der Erzählung, das muß man Watkins dann allerdings auch klar ankreiden.

Im Grunde kann man von einem rundum gelungenen Film sprechen, der für denjenigen, der bereit ist, sich Filmen abseits des Mainstream mit manchmal abseitigen Themen zu widmen, viel bereithält. Doch muß an dieser Stelle – abschließend – auf einen Aspekt hingewiesen werden, der den Rezensenten stutzig, dann nachdenklich und schließlich sogar ein wenig ärgerlich gemacht hat. Gerade in England, mit einem Großschriftsteller wie dem ewigen Nobelpreisanwärter Ian McEwan an der Literaturfront ausgestattet, verbreitet sich ein Diskurs, an den ein Film wie EDEN LAKE – bewußt oder unbewußt – andockt. Es ist die Frage nach den Ängsten der Mittelklasse vor einem zunehmend verwahrlosenden ‚Lumpenproletariat‘, das sich von der bürgerlichen Gesellschaft längst entkoppelt hat und für Argumente und Dialoge unerreichbar scheint. Eine Diskussion, die ja auch in Deutschland zusehends Fahrt aufnimmt. Allerdings nimmt EDEN LAKE in diesem Diskurs eine ähnliche Haltung ein, wie es Ian McEwan tut: Er betrachtet das Problem gnadenlos aus bürgerlicher Sicht. Unsere Sympathien hier liegen eindeutig auf Seiten des jungen Paars. Keineswegs kann man sagen, der Film mühe sich um Ausgeglichenheit oder gar ein Abwägen verschiedener Perspektiven und Betrachtungsweisen. Natürlich kann man das auch mutig nennen. Mit postmoderner Uneindeutigkeit erlaubt sich Watkins den Spaß, die Unterschicht eben als gräßlich, brutal und dumm darzustellen. Oder erlaubt er sich eben – in postmoderner Uneindeutigkeit – sich über die Sicht der Mittelklasse auf die Unterschicht lustig zu machen? Ist EDEN LAKE im Grunde ein riesengroßer Witz? Der Rezensent würde das verneinen, zu derb, zu brutal, zu kompromißlos und auch schlicht zu unlustig ist der Film. Hier gibt es keinen versteckten, noch so schwarzen Humor, was dem Zuschauer hier geboten wird ist auf gnadenlose Weise realistisch und sehr, sehr ernsthaft. Wenn man Horrorfilme denn als Seismographen einer Gesellschaft, als Gradmesser der Verwerfungen in einer Gesellschaft betrachten will, dann ist EDEN LAKE Ausdruck einer extremen Angst vor einem Teil der Bevölkerung, den man nicht mehr versteht und mit dem man keine Verständigung mehr findet. Allerdings bleibt dabei der eigene Anteil einer Mittelklasse auf der Strecke, die enorm von Mrs. Thatchers gesellschaftlichem Abwrackprozeß der 80er Jahre profitiert hat. Die, die hier ausgestellt werden als primitiv, einfach, dümmlich, die gehören im realen Leben zu jenem Viertel der englischen (britischen) Gesellschaft, das in jener Dekade Jahren einfach abgehängt wurde. Wissentlich abgehängt wurde. Wenn ein Regisseur wie Watkins darauf beharrt, er habe eben KEINEN Torture-Porn-Film gedreht, sondern ein ernsthaftes Sozialdrama, dann muß er sich aber eben auch genau diesen Fragen stellen.

Dies aber soll lediglich eine letzte, sehr persönliche Anmerkung gewesen sein. Eines ist sicher: Wer sich einmal auf EDEN LAKE einläßt, wer sich in den Sog begibt, den der Film entfacht, der wird sich so schnell nicht befreien können von den Bildern und Momenten dieses Films. Drastisch, intensiv, bedrückend und bedrohlich – kaum ein Film der letzten Jahre konnte derart überzeugen, wenn es darum geht, sein Publikum zu terrorisieren. So gäbe es volle Sternzahl, wenn eben die im letzten Ansatz angesprochenen Einwände nicht wären. Dennoch: empfehlenswert.

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