MARTYRS: Französisches Terrorkino am Siedepunkt
Von der Kälte der Aufklärung, vom Wissenschaftsglauben und von der Gewalt...
Eine vierköpfige Familie läßt sich zum Frühstück nieder, es scheint ein normaler Alltag zu sein. Es schellt an der Tür, der Vater öffnet und wird von dem Schuß aus einer Schrotflinte praktisch zerrissen. Eine junge Frau dringt in das moderne Haus der Familie ein und tötet systematisch die Kinder, schließlich auch die Mutter. Es ist Lucie (Mylène Jampanoï), die als junges Mädchen Anfang der 70er Jahre aufgegriffen wurde, als sie blutüberströmt und vollkommen verstört in einem Industriegebiet umherirrte. Sie ruft ihre Freundin Anna (Morjana Alaoui) an, die den Anruf erwartet hatte. Sie will zum Haus, wo sie ihre Freundin treffen wollte, die das Haus lediglich beobachten sollte. Julie hat in den Eltern dieser Familie, v.a. der Mutter, ihre Peiniger von einst erkannt, als sie sie auf einem Zeitungsfoto gesehen hatte. Von dem Dämon einer jungen Frau verfolgt, die sie damals hatte in dem gemeinsamen Gefängnis zurücklassen müssen, wollte Julie für Gerechtigkeit sorgen durch den Tod der Familie, doch läßt der Dämon – eine Halluzination – sie nicht in Frieden. Anna will Julie helfen, die Leichen im Garten des Hauses zu vergraben. Als sie die scheinbar tote Mutter durch das Haus schleppt, merkt sie, daß diese noch lebt. Anna will ihr helfen, zu entkommen, hatte sie doch niemals mit diesem Wahnsinn gerechnet, der an diesem scheinbar so schönen Morgen über diese Familie, sie und auch Julie hereingebrochen ist. Julie merkt jedoch, daß die Mutter noch lebt und erschlägt sie mit einem Hammer. Als auch dies den eingebildeten Dämon nicht besänftigen kann, zerschneidet Julie sich mit einem Messer die Kehle. Anna findet einen Geheimgang im Haus, der in ein vollkommen steriles unterirdisches Gefängnis führt. In diesem entdeckt sie ein junges Mädchen, dem eine Maske aus Metall an den Kopf genagelt wurde. Nun begreift sie, daß die Geschichte ihrer Freundin keineswegs nur auf Einbildung oder Halluzinationen beruhte, sondern wahr gewesen ist: In diesem Haus werden junge Frauen gefangen gehalten und systematisch gefoltert. Anna befreit die junge Frau und bringt sie hinauf ins Haus. Beide schlafen ein. Anna erwacht, weil die junge Frau versucht, sich die Handgelenke zu zerschneiden. Sie will sie davon abhalten, als eine Art Einsatzkommando das Haus stürmt, die namenlose Frau erschießt und Anna in das unterirdische Gefängnis verschleppt. Hier wird sie eingesperrt und erhält Besuch von einer alten Dame (Catherine Bégin), die ihr erklärt, was es mit alldem auf sich hat: Lucie und auch die von Anna gerettete Frau seien Opfer gewesen, die durch Zufall hätten entkommen können. Die Dame erklärt Anna das Wesen des Märtyrers, zeigt ihr auch Bilder von Märtyrern – durchaus auch moderne Formen des Märtyrertums. Menschen, fürchterlich gepeinigt – zerschlagen, gehäutet, furchtbar verstümmelt – die im Moment der Aufnahmen jedoch alle noch lebten. Und im Vergleich mit religiösen Darstellungen von Märtyrern erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen: Der scheinbare Blick in ein Jenseits, jedenfalls in eine Welt, die den Peinigenden verwehrt bleibt. Daraus leitet die Dame ab, daß Märtyrertum keineswegs mit Religion oder auch nur Glaube zu tun habe, nein, es sei der Schmerz, der den Märtyrer an die Grenze des Todes bringe und darüber hinaus, so daß dieser – gelänge es, ihn lang genug am Leben zu erhalten – den Zurückbleibenden Bericht erstatten könne von dem ‚Dahinter‘, einem angenommenen ‚Danach‘. Alles habe man bereits versucht – Männer, Kinder, alles – es sei festgestellt worden, daß junge Frauen sich am besten eigneten. Der Schmerz bräche erst den Willen, dann die Persönlichkeit der Betreffenden und ab diesem Moment begänne die Transzendenz, die die jungen Frauen aus ihrem Körper führe heran an die Grenze zum Jenseits. Anna ahnt nun, was auf sie zukommt: Sie wird betäubt und erleidet die ganze Prozedur des Schmerzes, bis sie vollkommen gebrochen ist. Nachdem sie gehäutet wurde und nur dank des enormen Aufwandes noch lebt, den die Organisation, die diese Experimente durchführt, am Leben erhalten werden kann, treffen aus der ganzen Welt Mitglieder ein, die der Verkündigung beiwohnen wollen, denn es geht die Kunde: Anna habe wirklich und wahrhaftig eine Vision gehabt! Die alte Dame will als erste erfahren, was Anna gesehen habe und schließt sich mit ihr in einem Zimmer ein. Als sie schließlich abgeholt werden soll, um der versammelten Gesellschaft mitzuteilen, was die sterbende Anna ihr erzählt habe, hat sie sich in deren Zimmer eingeschlossen. Durch die Tür teilt sie dem sie Abholenden mit, daß dieser zweifeln solle – zweifeln, was das Leben nach dem Tode angehe. Dann steckt sie sich eine Pistole in den Mund und drückt ab.
Dieser Text stellt eine Ergänzung zu jenem über A SERBIAN FILM dar und sollte vielleicht mit diesem gemeinsam gelesen werden – der Autor bemüht sich, anhand dieser beiden Filme sowie eines weiteren, noch zu besprechenden Films, sich und dem geneigten Leser Einblick zu verschaffen und Rechenschaft darüber abzulegen, wann und unter welchen Umständen (post)moderne Filme Gewalt zeigen, zeigen sollten, zeigen dürfen.
Der Märtyrer – das Wort ist eine Ableitung aus dem Griechischen, wo es für ‚Zeuge‘ oder ‚Zeugenschaft‘ steht – ist bereit, für seinen Glauben, das Bekenntnis zu seinem Glauben, physischen Schmerz und die Qual physischen Leidens bis hin zum Tode zu ertragen [Quelle: Wikipedia].
In säkularen Zeiten, die vielleicht Gott-los sind, ist dieser doch bekanntlich zum Ende des 19. Jahrhunderts verstorben, bleibt vom Glauben möglicherweise nicht mehr viel, von der Faszination des Todes und der Frage, was danach kommt, rückt der Mensch jedoch kaum ab. Auch nicht von der Hoffnung, daß „dahinter“ etwas auf uns wartet – das Paradies, möglicherweise die Hölle? Der Moment, da uns der physische Schmerz komplett erfüllt und wir zugleich bereit sind, über selbigen hinauszugehen, ihn nicht zu ertragen, sondern das, was er uns offenbart, zu schauen, ist ein Moment der Jenseitsschau. Der Märtyrer wird in der Lage sein, uns zu berichten, wohin ihn der Schmerz, die Pein seines Leibes hat schauen lassen, wohin diese Pein ihn gebracht hat. Dazu ist es lediglich dringend notwendig, den Märtyrer am Leben zu erhalten, bis er berichten konnte.
Angekündigt als Horrorfilm, der die Grenzen im Film darstellbarer Gewalt auslote und ausweite, stellt MARTYRS durchaus eine Herausforderung an den Zuschauer dar. Marcus Stiglegger führt ihn in seinem lesenswerten Band TERRORKINO. ANGST/LUST UND KÖRPERHORROR als die momentan gültige Grenze des Zeig- und Darstellbaren an, ein Film sei dies, der den Zuschauer mitnähme auf diesen Schmerztrip und das Sehen selbst zu einem Teil des Schmerzes werden ließe. Man kann das so sehen, allerdings wird damit das Augenmerk allein auf den (sicherlich nicht zu vernachlässigenden)Aspekt der Gewalt gelenkt. Zu Vieles, das diesen Film besonders macht, bleibt dabei aber ausgespart. Allem voran die Frage, ob man es hier eigentlich mit einem Horrorfilm oder einem harten Thriller zu tun hat? Denn MARTYRS nimmt sein Sujet bitter ernst und begibt sich damit eher auf einen philosophischen Grund, als daß er es auf Spannung, Ekel und Terror anlegt. Nimmt man Filme wie SAW (2004) oder HOSTEL (2005) als Referenz – also Filme, die sich ganz eindeutig in den Horror/Terror/Splatterfilm-Sektor einordnen lassen – ist man hier maximal weit von eben diesem Sektor entfernt. MARTYRS ist ein zutiefst beunruhigender Film, er stellt Fragen an den Zuschauer – explizit wie implizit – und läßt uns nicht mit einfachen Antworten entkommen, im Grunde – man betrachte nur die Schlußszene des Films – gibt er gar keine Antworten. Er läßt uns verängstigt und allein zurück in einer Welt, die sich des Glaubens im religiösen Sinne entledigt hat, jedoch nichts an dessen Stelle setzen konnte, was nicht schlußendlich die gleichen Fragen aufwirft und ähnlich inhuman bereit ist, den Menschen zu benutzen, wie es der Glaube getan hat bis hinein in die Aufklärung.
‚Aufklärung‘ wird einer der bestimmenden Begriffe sein in Bezug auf diesen Film, will man sich ernsthaft mit ihm beschäftigen. Was dem Zuschauer ab jenem Moment von Annas Gefangenschaft zugemutet wird – die in Zeitsprüngen gezeigte Prozedur der systematischen Zufügung von Schmerz – ist sowohl im Setting des gezeigten Gefängnisses als auch in der formalen Darreichung nahezu klinisch. Kalte Räume voller Chrom, Kunststoff und Metall sind der Ort, der Annas letztes Zuhause darstellt; kalt und distanziert schaut die Kamera auf die Prozedur der Schläge, Traumata und schließlich Enthäutung Annas. Das eigentlich Schreckliche für uns Zuschauer, ist die Tatsache, daß diese Bilder kaum mehr Schrecken verbreiten. Verglichen mit dem dem vollkommen unvorbereiteten Zuschauer zuvor dargebotenen Massaker an der Familie, das extrem blutig und unmittelbar gefilmt wird, sind die Bilder von Annas Traumatisierung und ihrem Weg in den Schmerz vor allem deshalb so unerträglich, weil sie erträglich sind. Dieser Schmerz wird ohne Furor, Lust oder Ergötzen am Leid anderer zugefügt. Dieser Schmerz wird zugefügt, wie ein Assistent im Labor den Mäusen, Affen und Hunden Schmerz zufügen würde: bedauernd (was man hier allerdings so nicht behaupten kann), doch vollkommen überzeugt von der Notwendigkeit dessen, was man da tut. Ohne, daß der Film uns die Organisation hinter diesem Programm zur Erzeugung von Märtyrern näher erläutern würde, gelingt es Regisseur Pascal Laugier, keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß dies wohl eine sich wissenschaftlich verstehende Gesellschaft ist.
Dadurch wird die Spannweite dessen, was dieser Film thematisch abzustecken in der Lage ist, schon ausreichend markiert. Wenn die alte Dame Anna erklärt, das Wesen des Märtyrers habe nichts mit Glaube oder Religion zu tun, sein Schmerz sei eine Art säkularer Transzendenz, dann ist dies die mit Abstand schrecklichste Szene des Films, denn der Rezipient weiß im Jahr 2008 ja nur zu gut, was gerade das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat an Horror, Schmerz, Demütigung und Schrecklichem im Namen der Wissendschaft. MARTYRS nimmt dieses Wissen sehr genau, er nimmt es an und er arbeitet mit dem Bewußtsein, daß heutzutage eben nicht immer gewaltgeile Teenager harte Filme als Mutprobe schauen, sondern ab und an auch intelligente Erwachsene, die bereit sind, sich unangenehmen Erfahrungen auszusetzen. Die Perfidie der Schlußpointe erschöpft sich so keineswegs in einer leichten Ironie, die das Gesehene konterkarieren würde. Ganz im Gegenteil: Die Schlußszene erst erhöht diesen Film wirklich in den Bereich des Metaphysischen, hebt ihn heraus aus einem unüberblickbaren Feld extrem harter Filme hinein in den Status einer philosophischen Reflexion. Denn am Ende der Aufklärung – am Ende der Moderne mit all ihren Irrungen und Wirrungen – am Ende der großen Erzählungen, das die Postmoderne (Lyotard) mit sich gebracht hat – bleibt nichts als – Zweifel. Wir sind kein Stück näher am Paradies und kein Stück weiter in uns selbst gekommen. Es treiben uns die gleichen Fragen um, die gleichen Hoffnungen: Was kommt danach und gibt es die Möglichkeit der Unsterblichkeit? Beides Fragen, geboren aus Angst. Das mündige Subjekt, das Kant vorschwebte, bleibt ein menschliches Nichts, die Hoffnung stirbt zuletzt. Und was ist Hoffnung anderes als Glaube? Jenseitsglaube, Paradieserwartung, Himmelsglaube. 250 Jahre aufklärerisches Denken und uns fällt nichts anderes ein, als den Schmerz selbst zum Mittel und Zweck zugleich zu machen, um uns zu beweisen, daß Gott eben nicht tot ist, daß wir nicht einfach Geworfene in einer Welt, in einer Natur sind, die uns gleichgültig gegenüber steht und unserem Schicksal gleichgültig begegnet. Wohl soll dies alles aussehen wie eine wütende Absage an Gott, den Glauben, alles Religiöse, doch das, was der Film dann vorführt, ist eine Kathedrale des Schmerzes, der Pein. Anna geht dem Zuschauer irgendwann als Identifikationsfigur verloren, wenn sie mit kahl geschorenem Schädel, aller Individualität, schließlich sogar ihrer Haut, also der Integrität ihrer Körperoberfläche, beraubt nur noch ein Wesen ist, nicht mal mehr ein Opfer. Doch bleiben wir zurück. Und sehen uns mit einem Mal gespiegelt in diesen so selbstgerechten, sich ihrer Sache so sicheren Abkömmlingen der Bourgeoisie, die sich abgeklärt geben und im Grunde nur eine Motivation kennen: Angst.
Kann man das so zeigen? Allein die Tatsache, daß MARTYRS den Schmerz – also den physischen Schmerz – zu seinem eigentlichen Thema macht, erlaubt ihm die Darstellung. Kein Film, der Gewalt zeigt, kann dies tun, ohne den Subtext dessen, was er da veranstaltet, mitzudenken – es sei denn, er will einfach unterhalten und meint, das mit Gewalt und der Darstellung von Schmerz, Folter und Tod tun zu können. Es gibt diese Filme und die Diskussion darüber, ob das geht, ob das erlaubt sein darf, ob es Sinn machen kann. Ohne diese Diskussion hier vertiefen zu wollen, da sie seit nunmehr 40 Jahren eine Zirkelbewegung vollführt, sich im Kreise dreht und keine Antworten liefert außer moralische Empörung einerseits und genervtes Abwinken andererseits, muß man bei diesem Film konstatieren: Es geht, es muß, und hier wird es mit erstaunlicher Sicherheit hinsichtlich dessen, was gezeigt wird, getan. Es wurde bereits angedeutet, daß es einen Bruch ca. zur Mitte des Films gibt. Die Gewalt, die uns bis dahin gezeigt wird, ist unmittelbar, sie ist unfassbar direkt und extrem. Es ist die Gewalt, die ein ehemaliges Opfer seinen ehemaligen Peinigern antut. Natürlich sind wir – gerade nach den anfänglichen Szenen alltäglicher morgendlicher Familienidylle – extrem eingenommen gegen diese verwahrloste junge Frau, die da in dieses Familienglück eindringt und es zerstört. Mit dem erstmaligen Auftauchen des Dämons – also der eingebildeten Frau, die Lucie einst im Verlies zurück gelassen hatte mit dem Versprechen, Hilfe zu holen – wird uns bewußt, daß diese Gewalt offenbar nur teils der Realität des Films entstammt, sich teils lediglich in der Phantasie der jungen Frau abspielt. Was sie natürlich in der Drastik des Gezeigten nicht unbedingt erträglicher macht. Wir begreifen nach und nach, daß das Auslöschen dieser Familie keinem wirklichen Plan folgt, sondern daß wir es mit einer Art Amoklauf zu tun haben. Extrem dreckig, extrem realistisch, blutig und brutal sind diese Bilder bis hin zu Lucies Selbstmord. Die Kamera – eine Handkamera mit den mittlerweile oft so stylish eingesetzten Wackelbildern, die hier jedoch absolut Sinn ergeben – geht extrem nah ran an dieses Geschehen, was es nahezu unerträglich macht. Dem gegenüber steht die aseptische, kalt-distanzierte Gewalt, die Anna später in ihrem Gefängnis angetan wird. In dieser Gegenüberstellung erinnert der Film manches Mal an Michael Hanekes FUNNY GAMES (das Original ist damit gemeint), der ebenfalls eine Art Experiment am Zuschauer durchführt und diesen völlig frontal mit der Frage konfrontiert, warum er sich das eigentlich anschaut? MARTYRS geht dabei weniger experimentell vor, allerdings ist seine Maßnahme nicht weniger geschickt: Denn wir werden dahin gebracht, die Gewalt, die „berechtigt“ erscheint, zu verurteilen, die „wissenschaftliche“ Gewalt der zweiten Filmhälfte jedoch zu ertragen, allein schon deshalb, weil sie uns „erträglicher“ präsentiert wird. Und dadurch stehen wir mit einem Mal auf der „falschen“ Seite, die jedoch jenseits der Leinwand die „richtige“ ist, diejenige, die jedem Geheimnis auf die Spur kommen, jedes Mirakel meßbar und alle Annahme beweisbar machen will. Das besondere an einem Film wie MARTYRS ist, daß er zwingend daherkommt. Wie einst Pier Paolo Pasolini in SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1975), gelingt es MARTYRS zumindest ansatzweise, den Zuschauer mit der eigenen Sehgewohnheit zu konfrontieren, anhand dessen und darüber hinaus jedoch auch das Individuum am ‚Ende der Aufklärung‘ zu hinterfragen. Kein Gran dessen, was uns MARTYRS zumutet, ist überflüssig oder gar reiner Selbstzweck. Dieser Film verherrlicht Gewalt nicht, er ergötzt sich nicht an ihr, er macht sie nicht einmal konsumerabel. Er stellt sie dar, er thematisiert sie als domestizierten Bestandteil einer modernen Gesellschaft, die bereit ist, sie zu akzeptiieren, wenn sie einem scheinbar „höheren“, einem wissenschaftlichen Sinn dient. Daß man es am Ende des Films mit Honoratioren und Mitgliedern „besserer Kreise“ zu tun hat, ist nicht – wie in HOSTEL – billige Kolportage, um sich im Nachhinein eine Rechtfertigung für das Gezeigte zu holen, es ist schlicht die innere Logik des Films, daß es genau DIESE Kreise sind – die Bourgeoisie, die „Stützen der Gesellschaft“ – die sich letztlich erlaubt, die Grenzen des Zumutbaren stetig auszudehnen.
Warum nun bekommt dieser Film die volle – vom Rezensenten selten vergebene – Sternezahl? Was nun unterscheidet diesen Film in seinem Inneren von einem Film wie A SERBIAN FILM, dem anderen Splatterwerk, das momentan die Speerspitze im Film gezeigter Gewalt darstellt? Es gelingt Pascal Laugier, die Gewalt nicht nur zum eigentlichen Thema seines Films zu machen, sondern daran auf einer Metaebene ernsthafte Fragen hinsichtlich der Verfasstheit einer Gesellschaft zu stellen, die sich aufgeklärt wähnt, die sich zivilisiert wähnt, die jene Bereiche, die sie eigentlich mißbilligt, zu rechtfertigen weiß, indem sie sie explizit der Arbeit am wissenschaftlichen Weltbild zuschlägt. Das Setting in MARTYRS ist vollkommen abstrakt, zugleich jedoch präsentieren uns die Bilder eine hyperrealistische Darstellung von Gewalt und Schmerz. Nie hat man bei diesem Film trotz der Drastik der Bilder den Eindruck, daß der Film sich an selbigen ergötzen würde. Wo ein Film wie A SERBIAN FILM eben nicht funktioniert, weil er bei allem Zorn, der die Macher befeuert haben mag, bei allem Anliegen, eine gewaltige und gewalttätige Kritik am (post)modernen Neo-Kapitalismus zu üben, in der Wahl der Mittel zu indifferent ist, funktioniert MARTYRS perfekt, weil er in seiner Darstellung kälter, weniger hysterisch, klinischer ist und dabei dem Zuschauer schleichend und weitaus weniger direkt das Grauen des Erkennens einimpft. Das ist dann – man möge es mir verzeihen – eben wirklich Kunst.