MARTYRIUM

Das Grauen wächst gleich nebenan...

Der Unterhaltungskünstler Marc Stevens (Laurent Lucas) tritt mit Klassikern des Chanson in Altenheimen und bei Kaffeekränzchen auf. Dort ist er allerdings sowohl bei den älteren Damen als auch deren jüngeren Betreuerinnen ausgesprochen beliebt, letztere beehren ihn regelmäßig mit freizügigen Angeboten und Bildern. Auf dem Weg „nach Süden“, zu einer Weihnachtsvorstellung, verirrt er sich in den belgischen Wäldern. Dank der Hilfe eines etwas wirr wirkenden Einheimischen, gelangt er auf den Hof des alten Bartel (Jackie Berroyer). Dieser – zunächst hilfsbereit – entpuppt sich nach und nach als offenbar psychotisch, da er in Marc seine verschwundene Frau wieder zu sehen meint. Als die Dorfbewohner sich Bartels Hof nähern und Marc Hilfe erwartet, muß er feststellen, daß es zu jedem Grauen, jedem Wahn scheinbar noch eine Steigerung gibt…

Spätestens seit Alfred Hitchcock der Welt den ebenso netten wie gestörten Norman Bates bescherte, wissen wir, daß der eigentliche Schrecken nicht aus Transsylvanien oder aus den Labors verrückter Heidelberger Wissenschaftler kommt, meist auch nicht mit jahrhundertealten Flüchen oder ähnlichem zu tun hat, sondern mitten unter uns hockt, lauernd, unauffällig und lange unerkannt. Und dieser Schrecken kommt auch nicht von außen (auch wenn Filme wie William Friedkins THE EXORCIST von 1973 das wieder zu relativieren suchten), sondern ist in uns implementiert. Es ist unsere beschädigte Seele, unser fragmentiertes Ich, das uns zusetzt und das Monster in uns entfesselt. Doch gibt es einen Horror, der uns – vielleicht – nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gar noch mehr Schrecken einzuflößen imstande ist; Franz Kafka hat ihn so perfide wie genial beschrieben in DER PROZESS: Wir geraten in die Mühlen einer Institution oder Bürokratie, die uns nie mitteilt, wessen wir eigentlich angeklagt oder auch nur verdächtig sind, die sich unserer jedoch komplett bemächtigt und der wir bis an das bittere Ende ausgeliefert sind. MARTYRIUM erzählt davon, wie das innere Ungeheuer und der bedrohliche Zugriff von außen in eins fallen, sich bedingen und eine für das Opfer dieses Zusammentreffens gnadenlose Unausweichlichkeit erzeugen.

 

Im Original heißt Fabrice Du Welz´ Film CALVAIRE, was natürlich an den Kalvarienberg erinnert, jene Stätte also, an der Christus gekreuzigt wurde, wo sein Passionsweg sozusagen an seinen Höhe- und Endpunkt kam. So liegt also die Deutung, es hier mit einer modernen/säkularen Passionsgeschichte zu tun zu haben, nah. Und diese wurde auch gern und oft herangezogen, worauf das aufschlußreiche Bootleg der Störkanal-Ausgabe des Films Auskunft gibt. Es stimmt schon, das Kreuzigungsmotiv wird zweimal explizit betont, dennoch deutet sich hier weniger religiöser Wahn als vielmehr eine lang zurückliegende Familientragödie und ein fürchterliches Eifersuchtsdrama an, welches die Beteiligten – vor allem Bartel und Robert Orton – schon lange entzweit und zu Feinden gemacht hat. Daß dies für den an sich vollkommen unbeteiligten Marc durchaus ein Passionsweg wird, ist nicht zu bestreiten, doch sollte man den religiösen Bezug vielleicht nicht überstrapazieren. Denn dies alles kann auf der rein inhaltlichen Ebene auch ganz anders verstanden werden – als Initiationsritus, beispielsweise. Wir wohnen der Mannwerdung eines Frauenschwarms bei, der Chansons singt, wie sie einst die Piaf sang. In der Welt, in die Marc im belgischen Hinterland gerät, werden Frauen scheinbar gar nicht gefragt oder gebeten, sie werden „genommen“ und „gehören“ – Männern. Dieses Werk bietet eben weitaus verstörendere Interpretationsmuster als den rein religiösen Bezug. Es fällt sofort auf, daß nach der anfänglichen Szene im Altenheim in diesem Film keine Frauen mehr vorkommen. Das Dorf und seine Bewohner – vor denen Bartel seinen „Gast“ eindringlich warnt – scheint überhaupt nur aus Männern zu bestehen, diese werden beherrscht von einer Familie, die fatal an solche wie die Clantons in John Fords MY DARLING CLEMENTINE erinnert – und sich auch genauso benimmt. Ein alles bestimmender  Vater und eine teils degenerierte Brut, die Du Walz natürlich viel ausführlicher bei ihrer Freizeitbeschäftigung mit einem neugeborenen Kalb zeigen kann, als Ford dies auch nur je in den Sinn gekommen wäre. Der Effekt jedoch zählt: Der Zuschauer begreift, daß er es mit einer Männerwelt zu tun hat, die vom bizarr-verrückten Boris (Jean-Luc Couchard), der dauernd seinen Hund sucht und der Marc zu Bartels Hof führt, über den scheinbar harmlosen Bartel, der sich dann aber als ebenso gefährlicher wie brutaler Psychopath entpuppt, bis zur Familie Orton reicht, die zunächst rational, wenn auch „hinterwäldlerisch“ handelt, bis sich der Patriarch Robert Orton (Philippe Nahon) offenbar von Bartels Wahn anstecken läßt und ebenfalls meint, eine verflossene Liebe in ihm zu entdecken. Eine Welt aus Männern, deren Sehnen Frauen sind, die sie verlassen haben, sich von ihnen abgewendet haben. Männer, die nicht verstehen, was die Frauen von ihnen weggetrieben hat. In der kalten, winterlichen und ausgesprochen abweisenden Landschaft Belgiens trifft Marc, der sich wiederum den ihn begehrenden Frauen entzieht, auf eine Männerwelt, deren Bewohner ähnlich erkaltet und eisverkrustet sind, wie die verkarsten Felder, die den Hof umgeben. Und die einzige emotionale Äußerung, die diesen Männern zur Verfügung zu stehen scheint, ist Wut, das Medium dieser Wut ist die Gewalt.

 

Marc Stevens ist einer Spirale des kalten Wahnsinns, eines eisigen Furors und der daraus resultierenden Gewalt ausgeliefert, die ihn schließlich und endlich selbst dazu zwingt, extrem grausam und brutal zu handeln. Ein Jeder entpuppt sich hier nach und nach als schlimmer denn der letzte Kerl, dem Marc begegnet ist, bis dieser am Ende vielleicht der schlimmste von allen wird. Männliches Überlebensmerkmal wird damit die Gewalt selbst. Initiationsriten – es ist ein zutiefst deprimierendes Zeugnis, das MARTYRIUM der Männerwelt ausstellt.

 

MARTYRIUM scheint aber bei aller Drastik, bei aller realistischen Darstellung, völlig im Abstrakten aufzugehen. So mag der dauernde Hinwies darauf, daß Marc zurückgekommen sei, trotz der „Verwechslung“, die offensichtlich auf der inhaltlichen Ebene vorliegt (denn alle halten ihn für eine Frau), durchaus genau so gemeint sein: Der verlorene Sohn kehrt heim. Der Sohn, der sich bei „den Mädchen“ rumgetrieben hat, die Beweise – Nacktfotos – liegen ja offen in seinem Wagen herum. Bartel findet sie und fühlt sich durchaus angeregt beim Betrachten einer nackten Frau. Marc singt. Bartel erklärt ihm mehrmals, auch er sei ein Unterhaltungskünstler, allerdings ein Witzeerzähler. Auch hier wird das Prinzip einmal mehr deutlich: Ein Kerl erzählt Witze, er singt keine schmachtenden Liebeslieder (zumal Marcs Auswahl – dreimal hören wir ihn singen – immer von einer Liebe berichtet, die es nicht wert sei, gelebt zu werden). Und dann läuft Marc in ihm aufgezwungenen Frauenkleidern durch den Wald und begegnet – den sieben Zwergen. Die ziehen hier als Chor, ganz in Rot, durchs Bild, ohne sich zu bewegen. Erneut wird der Film auf eine vollkommen andere Ebene gehoben, befinden wir uns doch plötzlich in einer Märchenwelt, die auch noch Anleihen ebenso bei der griechischen Tragödie wie bei Godards WEEK END (1967) nimmt. Die Irritation ist gewaltig und sie ist nicht dazu geeignet, den Zuschauer zu entlasten oder auch nur vom Geschehen zu distanzieren. Im Gegenteil – man hat den Eindruck, immer tiefer in einen Strudel kafkaesker Uneindeutig- und Widersprüchlichkeit gezogen zu werden, aus dem es keinen Ausweg mehr gibt. Keinen Ausweg mehr geben kann. No Exit.

 

In den vergangenen Jahren haben der Horrorfilm und das Terrorkino fröhliche Urständ´ gefeiert, nachdem man in den 90ern ja durchaus das Gefühl haben konnte, Ironie und Romantik (oder was Hollywood dafür hält) hätten ihm den Garaus gemacht. Doch gerade in Europa, allen voran Frankreich, entstanden eine ganze Reihe extrem harter, manchmal sehr schockierender und fast immer hochintelligenter Thriller, die entweder einfach das Genre erweitert und bereichert haben (und auch genau das wollten, wie z.B. Alexandre Ajas HAUTE TENSION von 2003) oder sogar über das reine Genre hinauswiesen und durchaus ernsthafte Fragen aufwarfen (Bustillo und Maurys À L`INTÉRIEUR von 2007 wäre da ebenso dazu zu zählen, wie Pascal Laugiers MARTYRS, der ein Jahr später, 2008, entstand) und sich genreimmanenten Fragen wie der nach der Gewalt auf ernsthafte Art und Weise stellten.

 

Doch dieser Boom zog – natürlich – auch in den USA und anderen Ländern, die klassisch Horrorfilme produzierten, neue Produktionen nach sich, die den französischen Beiträgen jedoch meist lediglich im Härtegrad das Wasser reichen konnten, selten aber inhaltlich oder formal – SAW (2004), selber Jahrgang wie MARTYRIUM/CALVAIRE, wäre wahrscheinlich noch das beste Beispiel. Andere – HOSTEL (2005) – gerieten schlicht reaktionär (und ihre Macher ver-rieten, daß sie etwas Wesentliches der „neuen Welle“ nicht begriffen hatten), das Gros offenbarte einfach nur, daß es eben doch mehr braucht, als Atmosphäre und eine schaurige Ausgangsposition, um einen wirklich überzeugenden Horrorfilm zu verwirklichen. Es gibt Massen von Horrorfilmen mit guten Ansätzen, die aber dann, zum Ende hin, ins Schlingern geraten, jüngst war es STARRY EYES (2014) der profund Zeugnis davon ablegte, wie eine gute Idee, eine ausgesprochen bizarre Atmosphäre und gute Darsteller nicht ausreichen, ein letztlich schlicht fehlendes Ende auszugleichen. Was dann mit plötzlicher, drastischer und im Kontext des bis dahin Gezeigten nicht plausibler Gewalt übertüncht werden soll.

 

Nicht so MARTYRIUM/CALVAIRE. Fabrice Du Welz versteht sein Handwerk. Es gelingt ihm von allem Anfang an, eine Atmosphäre extremer Entfremdung zu kreieren, es gelingen ihm nahezu groteske Szenen, die mit einem gnadenlos schwarzen Humor operieren, dann wieder – mit vergleichsweise einfachen Mitteln – wirkliche Schreckensmomente und wenn schließlich Gewalt das Mittel zum Zweck wird, setzt er auch diese gekonnt in Szene, ohne es auf wirklichen Splatter anzulegen – anlegen zu müssen, kann man sagen. Denn obwohl der Film schon ein Maß an Drastik bereithält, wird das Gezeigte doch nie zum Selbstzweck, sondern ist immer Mittel der Dramaturgie. Und so steuert Du Welz auf ein Finale zu, daß es in sich hat und den Betrachter regelrecht verstört zurückläßt, ohne dabei aufgesetzt zu wirken.

 

Hier also liegt ein weiterer – diesmal belgischer – Beitrag zum europäischen Terrorkino vor, der es in sich hat und der sich lohnt!

 

 

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