SELTSAME BLÜTEN/STRANGE FLOWERS

Donal Ryan findet Glauben und Hoffnung in Irlands grüner Provinz

Vielleicht wäre eine Studie interessant, in welcher die Kriterien analysiert werden, nach denen Leser*innen sich ihre Lektüre aussuchen. Wie oft bspw. lässt man sich von auf die Rückseite des Covers gedruckte Blurbs – also jenen meist gekauften Aussagen anderer Schriftsteller zum vorliegenden Werk – verführen? Wenn ein vom Leser geschätzter Autor wie Joseph O´Connor (REDEMPTION FALLS) mit den Worten „Ein Triumph.“ zitiert wird, kann das schon mal überzeugen. Und dann sitzt man da, hat Donal Ryans Roman SELTSAME BLÜTEN (STRANGE FLOWERS; Original 2020, Dt. 2024) zur Hälfte gelesen, bewundert zwar den gelegentlich durchaus ansprechenden Stil des Autors, empfindet aber zugleich auch verstärkten Kitschalarm.

Ryan erzählt eine herzergreifende Geschichte aus seiner Heimat, dem südwestlichen Irland, angesiedelt in den 70er und frühen 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Irland beherbergt bekanntlich ja eine durch und durch katholische Gesellschaft und dementsprechend sind Menschen wie die Gladneys ausgesprochen gläubig, einfach, aber rechtschaffen. Kit Gladney glaubt an Gott und ihren Gatten Paddy und daran, dass sich schon alles nach Gottes gerechten Weisungen richten wird, Paddy verrichtet niedere Arbeiten auf den Ländereien der Jackmans, denen auch das kleine Haus gehört, in welchem die Gladneys wohnen, arbeitet ansonsten als Postbote und ist ein gottesfürchtiger Mann. Die gemeinsame Tochter Mary, genannt „Moll“, ist vielleicht ein wenig still, ein wenig unscheinbar, ein wenig blass, aber sie ist das freundlichste und liebste Mädchen, das man sich nur vorstellen kann. Bis sie eines Tages abhaut. Und fünf Jahre verschwunden bleibt. Und dann eines Tages einfach wieder vor der Tür ihrer trauernden und doch immer auch hoffenden Eltern steht. Kurz darauf taucht dann ein Schwarzer auf, der sie offenbar sucht.

Nun ist Ryan beileibe nicht der erste, der die Provinz besingt, ihre Stärken und Schwächen herausstreicht, das Leben der sogenannten „kleinen“ Leute verherrlicht. Das hat sogar ein William Faulkner getan. Oder, um es eine Nummer kleiner zu machen und damit eher auf Ryans Level, ein Kent Haruf. Nur vergisst Kent Haruf dabei nicht, dass diese Provinz – seine Geschichten sind in den Great Plains von Colorado angesiedelt – trotz aller Weite des Horizonts auch immer etwas Beengendes, etwas Einengendes hat. Bei Donal Ryan wird dieses Einengende zwar ebenfalls beschrieben, doch scheint es so, als sei alles überwindbar, wenn die richtigen Menschen nur zueinanderstehen. Da tritt ein Schwarzer – für viele hier, so wird es explizit im Text gesagt, der erste Schwarze, den sie je zu Gesicht bekommen – in diese ländliche Gemeinde und bis auf einige gelegentliche Anfeindungen, die eher am Rande geschehen und erwähnt werden, findet er Aufnahme in der Gemeinde, wird sofort von Molls Familie angenommen und freundet sich mit ihrem Vater, Paddy, an. Erklärt wird das dann immer wieder mit der Kraft der Liebe. Und die Liebe in diesem Roman ist immer umfassend, hat nie Risse, keine doppelten Böden.

Liebe ist hier die alles umwallende Energie, die die Menschen zueinander bringt und aneinanderbindet. Selbst Molls Grund einst die Gemeinde zu fliehen, war die Liebe – eine, wie sie dachte, verbotene, weil gleichgeschlechtliche Liebe. Doch wird diese hier nie gesellschaftlich in Frage gestellt. Immer entstehen die Probleme im Kopf der Menschen, in ihrer Annahme, wie eine abstrakte Gesellschaft reagieren könnte. Was ja auch einen Grund haben muss, also die Annahme. Ryan aber stellt es so dar, als seien diese Annahmen eben falsch, zu kurz gedacht, grundlos. Mit dem richtigen Maß an Liebe sind alle gesellschaftlichen Widerstände – so sie denn überhaupt existieren – und Hürden offenbar zu überwinden, kein Problem. Kein wirkliches. Zumindest vermittelt der Roman diesen Eindruck. Bei aller Melancholie, die Ryan in die Beschreibungen dieser Menschen legt, bei aller möglichen Trauer darüber, dass sie vielleicht nicht mehr aus ihren Möglichkeiten gemacht haben. Die Sympathien sind hier eindeutig verteilt. Da sind die einfachen, guten Leute, dort jene, die ihnen vielleicht Arges wollen. Doch die Kraft der Leibe überwindet alle Anfeindungen – sollte es solche denn jemals geben.

Und in gewisser Weise freut sich das Publikum ja auch, denn haben wir nicht schon genug Literatur – gleich ob irischer, italienischer, spanischer oder bayrischer Provenienz – darüber gelesen, wie die katholische Enge der Provinz das Individuum zerstören kann? Darf es nicht auch mal einen Roman geben, wo diese religiöse Enge keine Rolle, und wenn doch, eine eher positive spielt? Denn immerhin findet Kit in der Religion und ihrem Marienglauben Hoffnung und Heilung ob des Verlusts der eigenen Tochter. Und auch der bodenständige Paddy kann diese schrecklichen fünf Jahre, die Moll verschwunden bleibt, letztlich doch in seinem unverbrüchlichen Glauben an den lieben Herrn Jesus geistig gesund überstehen. Dass der Leser sich fragt, weshalb Moll wort- und damit erklärungslos ein Elternhaus verlässt, welches ihr doch eigentlich immer nur wohlgesonnen war und ausschließlich Liebe entgegengebracht hat, scheint Ryan nie in den Sinn zu kommen.

Erbauungsliteratur nennt man so etwas. Dafür gibt es ein Publikum, keine Frage. Und man will diesen Leser*innen auch den Spaß, die Freude, all das, was diese Literatur ihnen gibt, nicht nehmen. Keinesfalls. Dennoch überwiegt bei kritischer Lektüre dann doch der Ärger. Denn dieses Buch ist in seiner (Gut)Gläubigkeit an die Kraft der Liebe eben auch genau das: Ein Ärgernis. Zu glatt das alles, zu einfach in den vermeintlichen Lösungen, zu flach die Figuren, zu oberflächlich die Konflikte.

Was bleibt, ist eine – von Anna-Nina Kroll kongenial ins Deutsche übertragene – Sprache, die ihrerseits Vieles der Lektüre der Großen, wie bspw. Faulkner, zu verdanken scheint. Denn dessen manchmal überbordende, fast barocke Sprachlust scheint auf Donal Ryan abgefärbt zu haben. Gelegentlich wird die/der Leser*in also mit überlangen, nahezu mäandernden Sätzen konfrontiert, die doch ausgesprochen lyrisch und anmutig dahingleiten und denen es immer wieder gelingt, uns diese Natur und die Schönheit dieses Landes – Irland – zu vermitteln. Und so wird zumindest nachvollziehbar, weshalb es Moll nach fünf Jahren in der lauten, krachigen, schmutzigen und krawalligen britischen Hauptstadt wieder zurück in die Ruhe und den Frieden der ländlichen Gegend ihrer Eltern zieht. Wo sie dann, nach und nach, Frieden mit sich finden kann, aber auch mit ihren Eltern, mit dem Mann, den sie geheiratet und von dem sie ein Kind bekommen hat und der ihr gefolgt ist, und schließlich auch mit jenem Menschen, vor dessen Liebe sie einst geflohen ist.

Dass ihr eigener Sohn ihre Geschichte dann wiederholen zu müssen glaubt, scheint Ryan ein Anliegen zu sein, wird damit doch der Kreis der Natur, symbolisiert in den Jahreszeiten, wiederholt und zugleich die Behauptung aufgestellt, dass wir alle, sobald wir bereit sind, die Liebe in uns und für einander zu entdecken, an unsere Ausgangspunkte zurückkehren können. Älter, erfahrener, vielleicht weiser. Nichts ist verloren, alles steht uns offen. Wir müssen es nur wollen und ergreifen.

Literatur, die ihre Leser*innen etwas glücklicher entlässt, aber womöglich auch etwas verblendet über die wahre Natur des menschlichen Miteinanders….

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.