UNTER WAHNSINNIGEN. WARUM WIR DAS BÖSE BRAUCHEN

Florian Schröder führt seine Leser*innen in mal mehr, mal weniger abseitige Bereiche menschlichen Daseins

In seinem Langessay UNTER WAHNSINNIGEN. WARUM WIR DAS BÖSE BRAUCHEN (2023/25) geht der Kabarettist und studierte Philosoph Florian Schröder also der Frage nach, was das Böse in einer säkularisierten Welt sein könnte und weshalb der Mensch immer wieder auf diese im Kern doch eigentlich religiöse Denkfigur zurückgreift.

Um seinen Fragen nachzugehen und sich ihnen anzunähern, begibt sich der Autor dorthin, wo das vermeintlich Böse heute zuhause ist: Er beschäftigt sich mit dem Krieg, vor allem jenem, den der russische Präsident seit 2022 gegen die Ukraine führt; er untersucht die „toxische Männlichkeit“, die in den letzten Jahren zu einem wahren Hort des Bösen erklärt wurde; er trifft sich mit extremen Egozentrikern, die vor allem Lügen nutzen und perfektionieren, um Doppelleben zu führen; er besucht einen Pädophilen, der sich in Sicherheitsverwahrung befindet; er begleitet Mitglieder der „Letzten Generation“ bei einer ihrer Aktionen; trifft sich über Jahre mit Rechtsextremen – namentlich Martin Sellner und Horst Mahler, also einem Vertreter der „Neuen Rechten“ und einem der klassischen Neo-Nazi- und Holocaustleugner-Szene – und versucht, deren Sichtweise auf die Realität nachzuvollziehen; in seiner Beschäftigung mit einer Schizophrenen, die im Wahn ihre Mutter angegriffen und schwer verletzt hat, nähert er sich dem Phänomen „Krankheit“ an, Krankheiten, die uns Angst machen; die Auseinandersetzung mit der KI schließt seinen Rundgang durch die Hallen des vermeintlich Bösen ab.

Schröder findet auf seinen Streifzügen sehr viel Interessantes, Vieles allerdings ist aufmerksamen und am Thema interessierten Leser*innen schon länger bekannt und bewusst, wenn auch, möglicherweise, nicht im Kontext des „Bösen“. Gerade die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten oder dem Wahnsinn in klinischer und damit wissenschaftlicher Diagnostik betreffend, kann Schröder wenig Erhellendes beitragen, wenn seine Ausführungen auch interessant sind.

Allerdings stellt sich so oder so die Frage, was er wozu beitragen will? Ist „das Böse“ wirklich eine Kategorie, die in den betreffenden Themenfeldern wesentlich ist? Heute noch? Man zweifelt doch stark an dieser These. Natürlich ist „der Kinderschänder“ oder „der Verrückte“ immer eine medial gern genutzte Stereotype, wenn es mal wieder darum geht, Stimmung zu machen. Und vor allem der Boulevard bedient sich solcher Stereotypen. So gesehen wäre es vielleicht interessanter, der Frage nachzugehen, inwiefern diese Art der medialen Nutzung des „Bösen“ selbst einen zumindest bösartigen Zug hat? In anderen Zusammenhängen – dies vor allem in Bezug auf die „Letzte Generation“, der Schröder spürbar kritisch gegenübersteht; in diesem Kapitel spürt man auch am deutlichsten den Hintergrund des Autors als Kabarettist und Satiriker – sind schon gewaltige Verrenkungen vonnöten, um überhaupt am Thema des „Bösen“ anzudocken. Selbiges gilt auch für den Komplex der Lügner, zumindest in dem von Schröder gewählten Kontext. Denn was er da beschreibt und untersucht, sind extreme Egozentriker, die, um die verschiedenen Lebenswelten, in denen sie verkehren, voneinander abzugrenzen, zu vielen, eben auch dem unlauteren Mittel der Lüge greifen, aber ob es sich hierbei um wirklich „Böses“ handelt, auch im klassischen Kontext? Man mag daran zweifeln. Die KI wiederum bietet all jene Schrecken, die man bisher aus James-Bond-Filmen und allerlei Schreckensszenarien der Science-Fiction kannte: Der unberechenbare Superrechner, der die Weltherrschaft übernimmt. Hier nähert sich Schröder auch am ehesten jenen Bereichen an, in denen „das Böse“ auch heute noch am ehesten in seiner reinen Form anzutreffen ist: Der Kultur und ihren Exponaten.

So fragt man sich während der an sich leicht zugänglichen Lektüre oftmals, wie Schröder nun eigentlich auf sein Thema gekommen ist, weshalb ausgerechnet die erwähnten Einzelaspekte für ihn in die Kategorie des „Bösen“ fallen, er aber eben nirgends auf jene Orte eingeht, wo das Böse noch am nachvollziehbarsten verhandelt wird: In der Kultur. Geht man zunächst auf den Ausgangspunkt zurück, dass es – biblisch gesehen – jene Schlange gewesen ist, die Eva dazu verführt, vom Apfel abzubeißen, womit die Ursünde in die Welt kommt, und folgt von diesen Standpunkt aus den Schwellen des Bösen über die Ausarbeitung eines Orts wie der Hölle, der „Geburt“ des Teufels, der Theodizee – der Frage also, wie sich ein Gott gegenüber einer Welt verhält, in der das Böse vorkommt, ja manifest wird -, der sich anschließenden Säkularisierung und der Verlagerung des Bösen in die Ästhetik und schließlich in die Wirklichkeit, manifest in einem Ort wie Auschwitz, muss man konzedieren, dass das Böse selten wirklich profan oder gar banal im Sinne von Hannah Arendt ist.

Sicher, Schröder greift auf dialektische Prinzipien zurück, wenn er bspw. anhand der „Letzten Generation“ untersucht, wie eine Bewegung, die sich dem absolut Guten – der Errettung der Welt vor dem klimatechnischen Untergang – verschreibt, als etwas immer „Böseres“ betrachtet werden kann, einfach, weil die Aktionen nerven und irgendwann in keinem Verhältnis mehr von Aufwand und Ergebnis stehen. Die Vertreter gerade dieser Gruppe ziehen unfassbaren Hass auf sich und werden von einigen tatsächlich körperlich angegriffen, als seien sie Vertreter des Leibhaftigen selbst. Doch wäre es ja weitaus interessanter, zu untersuchen, was mit denen nicht stimmt, die in der Rettung der Umwelt etwas Schlechtes erblicken wollen. Und sicher: Schröder, nicht nur hier, sondern sehr akribisch auch in den anderen behandelten Themenfeldern, trägt nicht nur kulturelle Stimmen, vor allem philosophische (sein Gebiet), zusammen, sondern auch Studien, Statistiken und Analysen aus den unterschiedlichsten Themenfeldern und kann so dem gefühlten Bösen, der Wut, dem Hass, der das Böse immer braucht, um sich an ihm abzuarbeiten und dabei jeden rationalen Zugang zu verweigern, eben diese rationale Ebene entgegenzusetzen.

Und das tut Not und an diesem Punkt ist man Schröder dann dankbar, die selbst gestellte Aufgabe auf sich genommen, sich all diesen Aspekten ausgesetzt und schließlich in diese Buchform gebracht zu haben. Einfach wird das in vielerlei Hinsicht nicht gewesen sein. Gleich ob man sich nach Litauen begibt und – als ehemaliger Kriegsdienstverweigerer – an Übungen mit Scharfschützen teilnimmt, ob man sich mit erwiesen Rechtsextremen trifft und auseinandersetzt und diese, wie Schröder zugibt, sogar sympathisch finden kann, oder in eine Psychiatrie mit Sicherheitsverwahrung fährt und einen Pädophilen trifft, bei dem man sich nie wirklich sicher ist, was sich hinter der doch recht freundlichen Fassade abspielt. Es tut gerade in diesen Extremen Not, einmal die tatsächlichen Statistiken zu Rückfällen geboten zu bekommen und abzuwägen, was ein Leben in Sicherheitsverwahrung bedeutet, was die reelle Gefahr bedeutet, Opfer eines solchen Täters zu werden.

Denn das ist die Frage, die immer wieder in all diesen Kapiteln durch die Zeilen lugt: Wie viel „Böses“, also wie viel Schrecken, ist eine freiheitlich-liberale Gesellschaft bereit auszuhalten? Und ist sie nicht geradezu verpflichtet, diese Schrecken, oder, um es etwas tiefer zu hängen: Gefahren, auszuhalten?

Und just, während diese Rezension entsteht, greift eine psychisch auffällige Frau, tags zuvor aus der Psychiatrie entlassen, auf dem Hamburger Hauptbahnhof siebzehn Menschen mit einem Messer an. Und man hält inne, verfolgt die Medienberichterstattung, liest tatsächlich nur in Kommentarspalten vom „Bösen“ und denkt doch, wie schnell der Begriff wieder im Gebrauch ist, wie naheliegend, um Unbegreifliches begreifbar zu machen. Man muss Schröder also fast dankbar sein. Dass er unter den heutigen Intellektuellen zu den gebildeteren und nachdenklicheren zählt, dass er sich nur schwer fassen und auch politisch, oder, besser: ideologisch, nur schwer einordnen lässt, weiß, wer sich mit ihm und seinen Sendungen und Internetauftritten beschäftigt oder einen seiner Auftritte besucht hat.

Dies ist also ein kluges Buch, dessen Prämisse etwas schwer zu fassen ist, auch wenn der Autor seinen „Weg zum Bösen“ im Vorwort zu erklären versucht und im Nachwort zur Taschenbuchausgabe noch einmal gesondert auf den Konflikt um Gaza eingeht, der mit dem Angriff der Hamas auf Israel und israelische Einrichtungen am 7. Oktober 2023 begann und mittlerweile zu einem vollkommen unverhältnismäßigen Vergeltungskrieg Israels gegen die Hamas und damit auch die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen ausgeartet ist. Banal gesagt scheiden sich an diesem Konflikt die Geister, tatsächlich arten die Auseinandersetzungen um diesen Konflikt – gleich ob auf den Straßen bei Demonstrationen oder in den Seminarräumen und den Vorlesungssälen der Universitäten, ob in den Feuilletons oder in TV-Studios – zu wahren Schlachten aus, in denen die Begriffe „gut“ und „böse“, wenn auch nicht direkt benannt (auch dies oft genug), im Hintergrund irgendwie immer mitschwingen. Es ist gut, dass Schröder sich auch hier noch einmal bemüht, Ordnung in die Gedanken zu bringen. Und sein Buch umso lesenswerter macht.

Weniger Aufregung, weniger Empörung wären vielleicht Mittel, um dem zu begegnen, was gemeinhin – oft in Ermangelung genauerer Kenntnisse, besserer Worte und manchmal auch, weil es bequem ist – als „böse“ assoziiert wird. Und genau darum bemüht sich Schröder: Er nähert sich einem sehr komplizierten und vielschichtigen Themenkomplex unaufgeregt und ohne Empörung, sich dabei immer bewusst, es auch nicht mit letzter Sicherheit zu wissen, immer bereit, sich eines Besseren belehren zu lassen, damit Grundlegendes für jede demokratische Diskussion zu erfüllen und offenbar auch immer im Zweifel. Bei aller – gültigen und notwendigen – Kritik ein kluges, ein nachdenkliches und ein wichtiges Buch in diesen Zeiten.

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