VERGIESS DEINE TRÄNEN FÜR KEINEN, DER IN DIESEN STRASSEN LEBT/NO DERRAMES TUS LÁGRIMAS POR NADIE QUE VIVA ES ESTAS CALLES

Fakten und Fiktionen: Literaturgeschichte und Historie in einem atemberaubenden Werk

Allgemein wird es für einen Künstler schwierig, wenn er mit allen möglichen Größen seines Fachs verglichen wird. Erst recht, wenn man ihn in bestimmten Regionen der Welt noch gar nicht besonders gut kennt. So ergeht es momentan dem Schriftsteller Patricio Pron, in unseren Breiten ein noch eher Unbekannter, dem die Ehre zuteilwird, mit Jorge Luis Borges und Roberto Bolaño, mit Julio Cortázar und Pier Paolo Pasolini verglichen zu werden – alles Größen der lateinamerikanischen, bzw. italienischen Literatur, die in ihren langen Künstlerbiographien neben vielem andern auch politisch Relevantes geschrieben haben. Und zumindest ist nicht von der Hand zu weisen, daß Pron mit Borges die Lust am freien Fabulieren vermeintlich wissenschaftlich Exaktem teilt, mit Bolaño jene an der Auseinandersetzung mit der Literatur allgemein und im Besonderen, mit Pasolini, der meist als Regisseur von Skandalfilmen erinnert wird, zumindest das Interesse an der Entstehung und Wirkmächtigkeit des Faschismus spezifisch italienischer Provenienz. Und doch erhebt sich hier eine vollkommen eigenständige Stimme, die in Südamerika bereits deutlich vernehmbar ist und dies auch bei uns in Europa bald sein sollte.

VERGIESS DEINE TRÄNEN FÜR KEINEN, DER IN DIESEN STRASSEN LEBT (Dt. erschienen 2019, Original 2016 unter dem Namen NO DERRAMES TUS LÁGRIMAS POR NADIE QUE VIVA ES ESTAS CALLES) lautet der sperrige Titel seines Romans, in dem er sich mit dem italienischen Faschismus auseinandersetzt und spürbar macht, wie Geschichte fortdauert, wie sie generationenübergreifend wirkt, wie sie Handlungen bedingt, die scheinbar wenig bis nichts mit den Ursprüngen zu tun haben, die ihnen zugrunde liegen, und eben doch immer präsent sind. Ein junger Mann, der sich offenbar im Umfeld der Brigate Rosse bewegt, jener linksextremen Terrorvereinigung, die Italien in den 70er Jahren ähnlich in Atem hielt, wie seinerzeit die Rote Armee Fraktion, kurz RAF, die Bundesrepublik Deutschland. Aufgrund verschiedener Verwicklungen begreift dieser junge Mann – Peter oder Pietro Linden – daß seinen Vater, einen ehemaligen Partisanen im Kampf gegen die italienische Sozialrepublik, jenen Marionettenstaat, den die italienischen Faschisten noch unter der Führung von Benito Mussolini und von Hitlers Gnaden am Gardasee installiert hatten, eine geheime Geschichte mit einem Schriftsteller verbindet, der dort an einem Kongreß futuristischer und faschistischer Autoren im April 1945 teilgenommen hatte. Linden sucht die noch in Italien lebenden Vertreter dieser Gattung auf und befragt sie nach den damaligen Vorkommnissen und dringt so immer tiefer in das historische Gewebe aus persönlicher und politischer Geschichte vor.

Pron erzählt seine Geschichte keineswegs stringent. Er setzt sie vielmehr in acht „Bücher“ genannten Abschnitten aus Berichten – Abschriften der Tonbandaufnahmen, die Linden mit den wesentlichen noch lebenden Autoren führen konnte – , Erzählung und lexikalischen Einträgen zusammen, wodurch ein vielstimmiger Kanon anhebt, in dem  die Tatsachen sich ergänzen, oft auch widersprechen, in dem sich nach und nach ein tiefsitzendes Geflecht aus Schuld, Verletzung, Mißtrauen, aber auch Freundschaft und an Liebe grenzender Zuneigung einiger der damaligen Protagonisten offenbart. Stilistisch bedient sich Pron dabei völlig unterschiedlicher Mittel. Die Erzählung um Linden, der später eine lange Gefängnisstrafe für eine wenn auch eher nebensächliche Beteiligung an einem Attentat der Brigate Rosse absitzen wird, ist in jenen Endlossätzen gehalten, die oftmals die Bekennerschreiben der linksextremen Terrororganisationen der 70er und die theoretischen Schriften jener Jahre prägten, dabei nutzt er gern und viel das Futur II, jene grammatikalische Form, die so selten ist und aufgrund ihrer Konstruktion meist einen ironischen Unterton vermittelt, auch wenn sie durchaus Schreckliches berichtet. Die Erzählungen der Futuristen hingegen, alle in ihren 70ern und 80ern mittlerweile, sind direkt, manchmal ausladend, ihnen ist die Eitelkeit jener eingeschrieben, über die die Geschichte hinweggegangen ist und die der Meinung sind, ihr Anteil an eben dieser Geschichte sei niemals genügend gewürdigt worden.

An die acht „Bücher“ schließt sich ein über 50seitiges Kompendium an, das lexikalisch vom Leben und Werk der meisten im Text erwähnten Autoren erzählt. Dabei mischt Pron fröhlich Fakten und Fiktion und lässt der eigenen Spottlust freien Lauf. Einige dieser Einträge sind zum Schreien komisch, andere schreckenerregend, alle offenbaren die Verstrickung gerade der Futuristen in den Aufstieg des italienischen Faschismus. Ebenso wird aber auch deutlich, wie zeitgebunden diese letztlich kurzlebige künstlerische Richtung gewesen ist. Daß auch sie ihren Anteil an der Moderne hatte, das lässt Pron den Leser allerdings ebenfalls spüren und wirft ihn, der sich wohl aufgeklärt wähnt, damit auf sich selbst zurück. Man kann hier viel über die Verflechtung der Kunst mit dem Leben – oder, wie es der Begründer des Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti, forderte, der Deckungsgleiche der Kunst und des Lebens – und darüber lernen, wie noch dem theoriegläubigsten Aktivisten die eigene Begehrlichkeit, die eigene Eitelkeit und vor allem der Neid, die Mißgunst, in die Quere kommen und das ganze Leben, innerhalb wie außerhalb der Kunst, bestimmen und, ja, auch das: vergällen kann. Zudem wird gerade in diesen Kurzbiographien deutlich, daß der faschistisch angehauchte Nationalismus eben doch eine internationale Komponente hat, daß es keine Eindeutigkeit gibt hinsichtlich derer, die „dafür“ und/oder „dagegen“ waren. Wofür schon der Name Ezra Pound steht, an dessen Verstrickungen gerade in den italienischen Faschismus hier noch einmal erinnert wird.

Pron, der, in Argentinien geboren, lange in Göttingen gelebt und gelehrt, schließlich auch dort promoviert hat und heute in Madrid lebt und arbeitet, durchdringt die europäische Schreckensgeschichte ebenso, wie er sich mit der Literatur und ihren Ansprüchen auf Exklusivität wie Totalität auseinandersetzt. So sehr man hier etwas über die Spezifika des Futurismus lernen kann, so sehr kann man auch etwas über das Verhältnis von Literatur und Leben, Literatur und Wirklichkeit lernen. Und dazu kommt die Erkenntnis, all das nicht allzu ernst zu nehmen. Denn so brutal und schrecklich die reale Geschichte gewesen sein mag – und sie war es, zweifelsohne – so entfremdet und irreal ist dieselbe Geschichte zwischen den Deckeln eines Buches.

Ein futuristisch-faschistischer Schriftstellerkongreß im April 1945 im Norden Italiens, zu dem allen Ernstes Vertreter aus Deutschland (noch denkbar), Frankreich, Spanien und natürlich ganz Italien anreisen? Durch die Wirren der vorrückenden Frontlinien auf dem italienischen Stiefel? Während die Alliierten bereits die Grenzen des Deutschen Reichs überschritten haben, Berlin seinen letzten Kampf kämpft? Unvorstellbar, möchte man meinen – und doch passt genau diese Idee zum Größenwahn der Regime, die lieber untergingen, als sich zu ergeben. Es passt zu einer Ideologie, die in ihrem Kern den Größenwahn und den eigenen Untergang längst eingeschrieben hat. Und an dieser Stelle, das stimmt, werden natürlich Erinnerungen an Pasolini und dessen letzten Film SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1975), diese einzige wahre Verfilmung eines Werkes des Marquis de Sade, hervorgerufen. Die Erinnerung daran, wie die „Herren“ in diesem Film darüber schwafeln, daß sie, die Ausübenden der absoluten Macht, die „wahren“ Anarchisten seien, wie sie den Tod allen ihren Handlungen immanent betrachten und letztlich – man denke nur daran, wie sie es genießen, nicht nur zu foltern und zu demütigen, sondern auch selbst den Schmerz und die Demütigung zu spüren – das eigene, gewaltvolle, Vergehen geradezu herbeizusehnen scheinen. Auch an anderer Stelle verweist Pron direkt auf Pasolini, der sich eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den Studenten von 68 lieferte, denen er das wirklich revolutionäre Moment absprach und unterstellte, im Grunde nur selber ein Stück vom Kuchen der Macht anzustreben. Und der in seinen Freibeuterschriften immer wieder vor einem Warenfaschismus warnte, der den „wahren“ Faschismus abgelöst habe und mit weitaus subtileren Mitteln um die Macht kämpfe, als es die „Bewegungen“ der Vorkriegszeit getan hätten.

Gerade in dieser Verbindung mit dem Erbe von 68 versteht es Patricio Pron, die Fortdauer von Geschichte zu verdeutlichen, er greift Muster und Schemata auf, die bspw. Götz Aly in seinem wegweisenden Band UNSER KAMPF 1968 – EIN IRRITIERTER BLICK ZURÜCK (2008) so klar herausgearbeitet hatte. Da wird eine Kontinuität deutlich, die das Radikale vom rechten, dem faschistischen, zum linken Rand umbettet, in seiner Härte und Skrupellosigkeit aber dem historischen Vorbild der Väter in kaum etwas nachsteht. Aly hat über ein spezifisch deutsches Trauma geschrieben, Pron gelingt es, diese Kontinuitäten so aufzudecken, daß man darin ein klares, allgemeingültiges geschichtliches Muster erkennen kann. Die Erinnerung an jemanden wie Pasolini und dessen Abneigung gegen die studentische Revolte 1968 ff. ist da nur einer von vielen geschickten Winkelzügen und Verweisen, die der Autor vornimmt. Allerdings ein exemplarischer.

In seiner Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit ist Patricio Pron ein im besten Sinne des Wortes postmoderner Roman gelungen, unkonventionell, radikal, provokant, den zu lesen nicht schwerfällt, den zu lesen aber immer wieder dazu führt, innezuhalten, abzuwägen und sich der eigenen Position als Leser in einem Gefüge zwischen Realität und literarischer Wirklichkeit, zwischen Fakt und Fiktion und als historisches Subjekt wie Objekt gewahr zu werden. Ein gefährliches Buch, ebenfalls im besten Sinne. Und also: Große Literatur.

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