VERRÄTERKIND/ENFANT DE SALAUD
Sorj Chalandon beschreibt ein sehr persönliches Drama, eingebettet in ein viel größeres, historisches Drama
Schwer festzustellen, ob Sorj Chalandon in seinem Roman VERRÄTERKIND (ENFANT DE SALAUD; 2021/Dt.: 2022) autobiographisch erzählt oder ob er sich die Geschichte vom Journalisten, der während des Prozesses gegen den Gestapo-Mann Klaus Barbie, von dem er für eine Zeitung berichtet, mit dem eigenen Vater abrechnet, der sich zeitlebens damit gebrüstet hatte, bei der Waffen-SS gedient und u.a. den Führerbunker sogar noch verteidigt zu haben, als der Führer gar nicht mehr lebte, ausgedacht zu haben. Sei es, wie es sei, Chalandon ist mit seinem Roman ein ebenso ergreifendes wie schmerzhaftes Buch gelungen, das sein Augenmerk auf eine Seite der jüngeren französischen Geschichte richtet: Die Kollaboration.
Dieser Vater, mit dem der Erzähler sich auseinandersetzen muß, ist ein Monster. So viel lässt sich feststellen, ohne allzu viel zu verraten über die Wendungen des Textes. Der Autor, Ich-Erzähler, Berichterstatter, wird durch das, was er im Laufe seiner Recherche zum Barbie-Prozess erfährt, einmal mehr auf die Geschichte des eigenen Vaters zurückgeworfen. Der rühmt sich lange, in der Résistance gekämpft zu haben, findet es dann aber, als der Großvater dem Enkel mitteilt, der sei ein „Verräterkind“, der Vater sei in der „falschen“ Uniform, nämlich der deutschen, rumgelaufen und habe keineswegs zum Widerstand gehört, nicht weiter schlimm, die eigene Geschichte zu revidieren und nun mit ebensolcher Überzeugung und Begeisterung von seiner Zeit auf deutscher Seite zu berichten. Und all diese widersprüchlichen Geschichten und Andeutungen bringen den Ich-Erzähler schließlich dazu, Nachforschungen über einen Freund anzustellen, wodurch er erfährt, daß dieser Mann, dieser fremde Vater, in den Kriegsjahren mehrfach die Uniformen getauscht, die Seiten gewechselt und die Fronten vertauscht hat. Offenbar war er ein junger Mann, der den Krieg als tödliches Ereignis nie ernst genommen, sondern als eine Art Spiel betrachtet hat. Ein Abenteurer, der nicht einsehen wollte, daß die Geschichte, die Zeitläufte ihm sein Leben bestimmen sollten und dies dann eben selbst tat – ohne Gewissensbisse oder irgendeine Vorstellung von Heldenmut oder Vaterlandsliebe. Und so sitzt dieser Mann, dieses Monster, tagtäglich einige Reihen hinter dem Sohn beim Prozess und verhöhnt allein durch seine Haltung den Schmerz der Opfer. Die interessieren ihn schlichtweg nicht. Ihn interessiert Barbie und mehr noch dessen Verteidiger Jacques Vergés.
Chalandon gelingt die Doppelung des historischen Prozesses, den er selbst verfolgt und beobachtet und für dessen Berichterstattung er einst einen angesehenen französischen Journalismus-Preis erhalten hatte, mit dem sehr persönlichen Prozess hinsichtlich des eigenen Vaters auf brillante Art und Weise. Dabei wird das Persönliche nie stärker als das Historische, was sicherlich peinlich und vor allem unangemessen gewesen wäre. Vielmehr kann Chalandon das Leiden, das den Gerichtssaal immer wieder erfüllt, wenn ZeugInnen auftreten und von der furchtbaren Gewalt, der Unmenschlichkeit und dem blanken Zynismus berichten, der ihnen seitens der deutschen Besatzer entgegenschlug, spürbar machen. Barbies ganz persönlicher Zynismus kommt zum Tragen, wenn die Zerrerei zwischen Gericht, Angeklagtem und Verteidigung beschrieben wird, weil „Klaus Altmann“, wie Barbie sich während seiner Flucht nach und später in Bolivien nannte, das Gericht, den Prozess und die Anklage nicht anerkennen will und seine Verschaffung aus Südamerika – das Land hatte Barbie schließlich an Frankreich ausgeliefert – als illegal betrachtet. Chalandon beobachtet sehr genau und kann diese Genauigkeit auch seinem Text einschreiben. Wie die Opfer, die auf eine leere Anklagebank blicken ein zweites Mal besiegt werden, weil ihr Peiniger ihnen nicht einmal ihren Schmerz zugesteht, wie sie ein zweites Mal ihre Angehörigen, zum Teil auch ihre Würde verlieren, wenn Vergés, der wahrlich berüchtigt war für seine Verteidigungen noch der übelsten Schlächter, sie der Lächerlichkeit preisgibt, ihnen abspricht, die damaligen Vorkommnisse überhaupt einordnen zu können oder gleich ganz ihre Vertrauenswürdigkeit abspricht und sie der Lüge bezichtigt.
Das persönliche Drama des Sohnes, der diesen Fremden, der sein Vater ist, durchschauen, verstehen und letztlich auch stellen, ihn zwingen will, sich zu bekennen, steht dahinter zurück und es doppelt die Geschichte insofern, als daß es einen Täter vorführt, der weder seine Taten, noch die Umstände – den Krieg – die sie hervorgebracht haben, sonderlich bedeutsam findet. Da dieses Monster, verglichen mit dem Monster Barbie, eher lächerlich wirkt – ein Hochstapler, ein notorischer Lügner und Leugner, ein Abenteurer, den nichts anficht, was ihn nicht unmittelbar betrifft, so gesehen auch ein Soziopath – vollführt Chalandon mit dieser Doppelung auch eine Volte, die der Karl Marx zugeschriebenen Aussage entspricht, daß Geschichte immer zweimal geschieht, einmal als Tragödie, einmal als Farce. Denn genau das ist das Leben des Vaters: Eine Farce.
Eine Farce, gegründet auf Lügen und Falschbehauptungen, ein Leben ohne Mehrwert, voller Bitternis, worauf eigentlich, versteht man nicht so genau, voller Hass gegen alles und jeden. Schließlich kommt es zu der vom Ich-Erzähler herbeigesehnten Auseinandersetzung. Und wie so viele Kinder, wie so viele Söhne und Töchter, muß auch er feststellen, daß man gegen die eigenen Eltern nicht ankommt, daß schlußendlich, wenn alles gesagt ist, nur Leere bleibt. Man kann sie nicht zwingen, Rechenschaft abzulegen, es bleibt immer ihr Surplus, daß sie älter sind, sich auf die Position zurückziehen können, man wisse ja nicht, wovon man rede, man sei ja nicht dabei gewesen. Und selbst wenn es gelingt, die Eltern in die Ecke zu drängen, sie zu zwingen, sich den Lebenslügen zu stellen, sie sogar einzugestehen, führt auch das meist nirgendwohin. Ein solcher Erfolg, gar Triumph, mündet auch wieder in Leere und dem Gefühl, nichts erreicht zu haben, nichts erreichen zu können. Dies ist auch die französische Weise, die Alten mit den damaligen Ereignissen zu konfrontieren und zu erfahren, was sie damals gemacht, was sie getan, wie sie sich verhalten haben. Anders als viele deutsche Eltern, die den Rückzug ins Schwiegen bevorzugten, verhält sich der Vater jedoch auch hier unberechenbar: Er redet und redet, sagt aber nie die Wahrheit.
So wird VERRÄTERKIND zu einem in doppelter Hinsicht sehr, sehr aufwühlenden Buch. Einmal erinnert es an jene fürchterlichen Tage im Frühjahr und Sommer 1987, als der Prozess gegen Klaus Barbie nicht nur Frankreich erschütterte, zum anderen hat der Leser es mit einer wirklich erschreckenden Auseinandersetzung eines Sohnes mit einem völlig fremden und letztlich auch verhassten Vater zu tun, die in ihrer Eindringlichkeit lange nachwirkt.