DAS NAPOLEON-SPIEL
Christoph Hein spielt ein perfides Spiel mit dem Leser...und der Literatur
Nur wo er spiele, sei der Mensch ganz Mensch, wird Friedrich Schiller gern zitiert. Es könnte das Motto des namenlosen Erzählers, bzw. Schreibenden, sein, den Christoph Hein in seinem Roman DAS NAPOLEON-SPIEL seinem Anwalt berichten lässt, wie es zu einer „unerlässlichen“ Tötung kam, die er begangen hat. Weit ausgreifend versucht er darzulegen, daß er ein Spieler, ein „wahrer“ Spieler sei, den nicht der Gewinn interessiere, sondern nur der Einsatz selbst und der Verlauf des Spiels. Schon im Moment, so seine Einlassungen, da die Kugel rolle, das Blatt geworfen sei, interessiere den wahren Spieler kaum mehr das Ergebnis, ja, wende er sich innerlich bereits dem nächsten Spiel, dem nächsten Einsatz zu. Das Spiel, das der Angeklagte spielt, heißt allerdings „Leben“.
Nach einer als glücklich zu bezeichnenden Kindheit in Stettin, als Sohn eines Schokoladenfabrikanten, verschlägt es den Berichterstatter durch die Unbilden des Krieges schließlich nach Westdeutschland, wo er Jura studiert und im Rheinland schnell zu einer lokalen Größe aufsteigt. Von dort zurück gen Berlin, wo er etliche gewichtige Prozesse gewinnt, verdingt er sich gut zwanzig Jahre in der Politik, dabei jedwede Nähe zu einer bestimmten Partei meidend, um immer für alle interessant zu bleiben. Dies ist sein Spiel: Mit den Möglichkeiten der Jurisprudenz, denen der Politik, schließlich denen der einzelnen menschlichen Existenz. Letzteres hat ihn nun in die Lage gebracht, seinem Verteidiger, Doktor Fiarthes, seine Motive, seine Begründung, sein Movens darzulegen. Zwei Metaphern dienen ihm: Das Billardspiel als Bild des „Spiels an sich“, der Berechnung, des Handwerks und der Kunst – der Kunst der Planung, der Voraussicht, und der des entscheidenden, des perfekt ausgeführten Stoßes, der den wahren Spieler vom Lottoscheinausfüller unterscheide. Mehr noch nutzt er aber die historische Figur Napoleons, den er als Spieler par excellence, als den Spieler schlechthin, bewundert, weil der das ganz große Rad gedreht, den Kontinent als Spielbrett, seine Soldaten als Einsatz betrachtet habe und sich nicht mit dem minderen Einsatz der individuellen menschlichen Existenz begnügen musste.
Dostojewski kommt dem Leser zwangsläufig in den Sinn, der sowohl das Spiel als auch die Metapher von Napoleon als Genie und damit herkömmlichen Regeln und Gesetzen enthoben thematisch bedient hat. In DER SPIELER (1867) ist es die Sucht nach dem Spiel, die den russischen Autor umtrieb, in SCHULD UND SÜHNE (1866) wird Napoleon als Metapher eines Übermenschen genutzt, den seine innere Größe, sein Genie zum Übergeordneten erhebt und ihm deshalb selbst einen Mord erlaubt. Daß es Dostojewski gelingt, hinter dem apologetischen Manifest des „Napoleonischen Charakters“ die banale, ja kleingeistige Gier zu entlarven, spielt im Kontext des NAPOLEON-SPIELS allerdings keine Rolle. Viel mehr zeigt sich der Berichterstatter selbst – sowohl in der Nutzung der Sprache als auch in dem, was er durch diese Sprache ausdrückt – als Epigone des Raskolnikow-Charakters, der in Dostojewskis Roman geradezu eine dementsprechende Philosophie ausformuliert. Und der, Camus´ Figur des Meursault in DER FREMDE nicht unähnlich und doch enteilt, den Tod eines andern, vielleicht gar den Tod an sich, zu einem Einsatz erhebt, der den Spieler aus der existenziellen Bedrängnis vollkommener Bedeutungslosigkeit zumindest sich selbst gegenüber entheben kann.
Geschickt spielt Christoph Hein mit den Möglichkeiten einer manchmal gestelzten, oft schon aufgeplusterten Sprache, in der ein Begriff wie „inkommodiert“ durchaus geläufig ist. Der Erzähler suhlt sich geradezu in seinem Zynismus, er verhöhnt jene, die er als vermeintlich schwächer betrachtet, er geht über für ihn, aber erst recht für andere, unangenehme Situationen eloquent hinweg und scheut sich auch nicht, Spott und Häme über einige auszuschütten. Allerdings – und das macht für ihn eben den „Herrn von Welt“ aus, der sich die eine oder andere Schwäche leisten kann – scheut er sich auch nicht, sich da über sich selbst lustig zu machen, wo er möglicherweise selber Opfer des Spiels anderer, gar besserer Spieler, geworden ist. Offensichtlich versteht er viel vom Wesen der Justiz, auch dem der Politik, er kann Gegner einschätzen und Ebenbürtigen auch Respekt zollen, vom Wesen der Liebe hingegen hat er offenbar wenig verstanden. Und geht darüber dann eben auch hinweg, meint er das „Spiel der Liebe“ doch früh schon als ein redundantes und damit wenig einträgliches entlarvt zu haben. Die größte Angst dieses Mannes scheint elementare Langeweile zu sein, die Ödnis, die sich dort auftut, wo das letzte Spiel gespielt, der letzte Einsatz gesetzt, die letzte Kugel gestoßen ist. Ein Ort, wo das Individuum, auf sich selbst zurückgeworfen, möglicherweise Rechenschaft ablegen müsste. Und so muß er den Einsatz erhöhen, das Spiel beständig ausweiten und, vollkommen auf das juristische (Spiel)Glück seines Anwalts vertrauend, dann eine neue Ebene, ein neues Level erklimmen. Der Text endet mit genau einer solchen Volte, in der nicht nur Dr. Fiarthes, sondern – und darin liegt Heins Brillanz – auch der Leser desavouiert wird.
Die Literatur strotzt nur so von Monstern, wie dieser Erzähler eines ist. Mal werden sie beschrieben, wie es Dostojewski tat, mal beschreiben sie sich selbst, wie es Nabokovs genial erschaffener Ich-Erzähler Humbert Humbert – übrigens ebenfalls in einem Bericht, der einer Beichte gleichkam – einst in LOLITA (1955) tat. Heins Erzähler reicht an diese Giganten der Weltliteratur sicher nicht heran. Das wäre dann doch zu viel der Ehre, doch gelingen dem Autor Momente, Sentenzen, Sprachbilder und somit Situationen, die, teils zum Schreien komisch, dem Leser kalte Schauer über den Rücken schicken und literarisch dann durchaus auf höchstem Niveau funktionieren. Anders als in seinen jüngeren Werken, die sprachlich immer karger, scheinbar einfacher, aber auch immer genauer wurden, nutzt er hier eine sich durchaus spreizende Sprache, die natürlich dem Charakter, der da Zeugnis ablegt, vollkommen gerecht wird. Weniger gerecht wird die gesamte Grundidee dem schon schmalen Umfang des Romans. Zu häufig wird die Idee des „wahren“ Spiels wiederholt, zu oft werden die Vorzüge des Billardspiels als Übungs- und Entwurfsfeld der großen Züge auf den eigentlichen Spielfeldern – ob Politik, Liebe, Justiz oder eben dem einer Tötung – angepriesen. Mag sein, daß diese Wiederholungen dem Charakter, der sie äußert, entsprechen, mag sein, daß sich gerade darin seine fürchterliche Überheblichkeit, seine Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und die Selbstverliebtheit, aber auch die Leere und Ödnis und die Einsamkeit dessen äußern und verdeutlichen, der sich selbst genialische Züge attestiert – für den Leser bleiben es Wiederholungen, die dann irgendwann auch ermüden.
Doch trotz dieer Kritik bleibt Heins 1993 erstmals veröffentlichter Text ein feines, auch boshaftes Spiel mit den Fragen nach Motiven und juristisch nicht erfassbaren, weil sich aus sich selbst erklärenden Bewegungen, die scheinbar eben auch den Tod eines Fremden rechtfertigen können. Versatzstücke der klassischen, der modernen und sogar der vermeintlich trivialen Krimi-Literatur werden genutzt, um ein hintersinniges sprachliches Netz zu spinnen, in dem der Leser sich zusehends verfängt. Selbst Heins später stärkere Lust an (deutsch-deutschen) Biographien wird hier, als Hintergrundrauschen, als Grundlage und Muster eines Lebens, spürbar und verweist den heutigen Leser auf spätere Werke, in denen wiederum dieser Text wie ein fernes Echo anklingen mag. Was hier noch Basis einer Figur ist, die so auch in jedem anderen Land der westlichen Hemisphäre hätte heranreifen können, auch, weil die kindliche und jugendliche Biographie nur bedingt zur Charakterisierung der Spezifik taugt, wird in jüngeren Werken wie LANDNAHME (2004) oder GLÜCKSKIND MIT VATER (2016) zur Basis einer spezifischen Betrachtung jüngerer und jüngster deutscher Geschichte.
Unabhängig von Werkschau und Entwicklungsgeschichte eines der führenden Autoren der zeitgenössischen deutschen Literatur, ist dies, ganz für sich, ein großartiger Roman, der den Leser durchaus zu brüskieren versteht, ihn auf eigene, vielleicht allergeheimste Gedanken zurückwirft und wie nebenbei mit einigen der wesentlichen Werke der Literaturgeschichte korrespondiert.