VIOLET
Scott Thomas´ zweiter Roman merzt die Schwachstellen des Debuts aus und präsentiert sich als rundum gelungener Genre-Roman
Man ahnt es: Die schrecklichsten Ungeheuer gebiert der eigene Geist. Nichts ist so fürchterlich, wie die Dämonen, die uns in und durch uns selbst bedrohen, die unserem Unterbewusstsein entsteigen und unser Leben zu übernehmen – oder zu zerstören – drohen. Das ist die Prämisse, die Scott Thomas zum Ausgangspunkt seines zweiten Romans VIOLET (Original erschienen 2019; Dt. 2021) macht. Und er macht es gut. Verdammt gut.
Die Tierärztin Kris kehrt nach dem Unfalltod ihres Mannes mit ihrer noch sehr jungen Tochter Sadie in ihr Elternhaus in einer Kleinstadt in Kansas zurück. Sie hofft hier über die Sommermonate ein wenig Ruhe zu finden und vor allem, dass Sadie sich erholt und wieder zu Kräften kommt, ist die Achtjährige seit dem Tod des Vaters doch nahezu sprachlos. Doch Kris muss die Erfahrung machen, dass das alte, äußerst heruntergekommen Haus außerhalb der Stadt Placington seine ganz eigenen Geister der Vergangenheit birgt, denn hier starb einst ihre Mutter. Und auch die Stadt selbst hat sich verändert, nicht nur Kris. Es ist eine sterbende Stadt, die ihre Attraktivität für Sommergäste verloren hat, die von einer tiefen Traurigkeit heimgesucht wird, sind hier im Laufe der Jahre doch vier Mädchen verschwunden – drei wurden tot aufgefunden, doch die vierte, die kleine Poppy, ist nie wieder aufgetaucht. Und so warten hier alle darauf, dass sich auch ihr Schicksal erfüllt. Während Kris von seltsamen, verstörenden Erinnerungsfetzen heimgesucht wird, freundet sich Sadie derweil mit einer Fantasiefreundin an, wodurch sie zusehends fröhlicher wird, ihr altes unbeschwertes Wesen zurück zu erhalten scheint…
Thomas hatte 2017 mit KILL CREEK seinen Debutroman vorgelegt, ein kommerzieller Erfolg, der vor allem aber auch die Kritiker überzeugen konnte. Es war beeindruckend, mit welcher Sicherheit hier ein Newcomer seine stilistischen Mittel beherrschte. Über die wenigen Schwächen des Romans – seine Länge bspw. – sah, bzw. las man gern hinweg, waren die Ideen, mit denen der Autor jonglierte, doch wirklich originell und spannend. Die Krux mit den zweiten Romanen ist dann ja oft, dass der Druck immens steigt, wenn der Erstling erfolgreich war, Autoren plötzlich nichts mehr einfallen mag, sie vor dem leeren Blatt sitzen und sich fürchten. Thomas scheint diese Probleme nicht gehabt zu haben. VIOLET merzt vermeintliche Schwachstellen direkt aus und überzeugt auf voller Länge. Denn Thomas gelingt es in einem eher bedächtigen Tempo, mit gut funktionierenden Charakteren, die zu erkunden er sich Zeit nimmt und den Leser*innen Zeit gibt, Figuren, die er nicht allzu klischeehaft anlegt, mit einer kaum merklichen und doch sehr genau konzipierten Spannungssteigerung und ohne auf die billigen Mittel der Geisterbahn zurückzugreifen, erneut über die Strecke von weit über 600 Seiten einen Sog zu entwickeln, dem sich das Publikum kaum entziehen kann.
Viele Genreromane – gleich ob Kriminalliteratur, Thriller, Polit-Thriller oder eben im Horrorfach – bedienen sich, um ihren Figuren eine gewisse Tiefe und Dramatik zu verleihen, des Schicksalsschlags. Da haben Ermittler Frau und Kinder verloren oder Soldaten im Einsatz Fürchterliches erleben müssen oder Schriftseller ziehen sich in die Einsamkeit zurück, weil die Welt und der Alkohol ihnen zugesetzt haben. Thomas nutzt ebenfalls einen Schicksalsschlag – den Verlust des Mannes und Vaters Joshua – macht ihn aber zum Dreh- und Angelpunkt der Story. Denn Verlust, Trauer und Trost sind wesentliche Merkmale der Erzählung. Und mehr noch: Die Bedrohung, die sich schließlich offenbart, ist direkte Folge eines Verlusts; sie ist gleichsam aus der Trauer geboren. Und sie ist ihrerseits von Trauer erfüllt, wurde sie doch ebenso verlassen, wie der Mensch, der sie in seiner Einsamkeit und in den Verlassenheitsgefühlen, die ein kleines Mädchen empfindet, während ihre Mutter stirbt, überhaupt erst erschaffen hatte.
Dass eine Fantasiefigur Wirklichkeit wird, ist im Genre nun nicht allzu neu, der Großmeister des modernen Horrorromans, Stephen King, widmete dieser Subthematik einst mit STARK – THE DARK HALF einen seiner besten Romane. Auch Scott Thomas lässt die Geister der Vergangenheit sich materialisieren und erzählt von Wiederholungszyklen der Trauer. Und er macht dies so geschickt, einfühlsam und genau, dass dies – wie es die besseren Beiträge zur Genreliteratur eigentlich immer sind – zu einem Roman über Menschen und ihre Gefühle wird, das Grauen ist eher eine allegorische, entäußerte Form des eigenen Schmerzes. So gelingen dem Autor mit Kris und Sadie (die Tochter vielleicht etwas weniger) recht authentische, plausibel wirkende Charaktere. Gerade Kris nimmt man ihre Zerrissenheit, ihre Ambivalenz hinsichtlich ihres toten Gatten ab, denn sie wusste zum Zeitpunkt dessen Ablebens bereits, dass er sie betrog und wahrscheinlich verlassen wollte.
Es ist aber die Art, in der Thomas dies erzählt, weniger, was er berichtet, die den Roman so packend machen. Denn sowohl der Schmerz über den Verlust ihres Partners, als auch das Grauen und die Erkenntnis über das, was im Haus ihrer Eltern und mit Sadie vor sich geht, schleicht sich auf leisen Pfoten in den Roman hinein. Es ist ausgesprochen gekonnt, wie der Autor sein Publikum immer wieder in Sicherheit wiegt, wie er uns einen Sommer in der Provinz, die Hitze, das kristallklare Wasser des Sees hinter dem Haus, das nachmittägliche Eis im Diner, die staubige Hauptstraße einer kleinen Stadt vor Augen führt, wie er uns vermittelt, wie gerade die Ruhe des Provinziellen dazu beitragen kann, Ruhe in sich zu finden und zugleich schon immer auch etwas Schreckliches in dieser Ruhe (Grabesruhe?) schlummert.
Wenn Kris und Sadie zunächst damit beginnen, das Haus zu putzen und auszubessern, was an dem verfallenen Kasten noch auszubessern ist, möchte man nach vielleicht 150 Seiten glauben, der Autor wolle sich einen Scherz mit seinen Leser*innen erlauben. Eine Anleitung zum Hausputz hatte man nun nicht erwartet. Doch sind es genau diese Alltäglichkeiten, die Thomas´ Kunst ausmachen und die er sich nicht zuletzt von King abgeschaut hat, der genau dies in Jahrzehnten zu großer Könnerschaft verfeinert hat. Denn da sind schon kleine, kaum merkliche Einbrüche des Unnatürlichen. Mit einem Mal – fast überliest man es, liest weiter, stutzt, blättert eine Seite zurück, liest erneut, ob man sich nicht vertan hat – benutzt Kris das Wort „wir“, wo sie eigentlich nur das Wort „ich“ hätte nutzen dürfen. Und – selten in einem Roman – den Leser*innen stockt einen Moment der Atem, rieselt es kalt den Rücken hinunter. Und langsam, dich stetig, dringt längst Verdrängtes in Kris´ Geist, kommen verschüttete Erinnerungen zurück. Und mit jedem Fetzen dieser Erinnerungen, materialisiert sich, was einst Hilfe und Geborgenheit versprach und nun sein Recht einfordert. Das Recht, nicht in Vergessenheit zu geraten.
Es gelingt Thomas, sein Publikum einerseits sehr lange im Unklaren zu lassen, womit man es nun eigentlich zu tun hat, zugleich aber mit eben vergleichsweise kleinen Hinweisen und der einen oder anderen unheimlichen Begebenheit – wer ist die Gestalt auf der anderen Seite des Sees, die unbeweglich am Ufer steht und Kris, Sadie und das Haus zu beobachten scheint? – bei der Stange zu halten. Das kann sich in seinen Mitteln und Möglichkeiten tatsächlich mit den besten Geistergeschichten des 19. Jahrhunderts messen. Und dennoch ist dies eben keine Geistergeschichte. Das, was da auf Kris und Sadie lauert, ist im Grunde viel, viel Schrecklicher, als es jeder Geist, jedes Gespenst jemals sein könnte. Denn, wie eingangs erwähnt, die schlimmsten Ungeheuer gebiert ja bekanntlich der Geist. Sonst gäbe es ja auch nicht all diese wunderbaren Geschichten, Bücher und auch Filme, die uns immer wieder das Fürchten lehren.