WIR HABEN SCHON IMMER IM SCHLOSS GELEBT/WE HAVE ALWAYS LIVED IN THE CASTLE

Shirley Jacksons letzter, enigmatischer, surrealer und äußerst vielschichtiger Roman

Jeder kennt es aus eigener Erfahrung oder medial vermittelt: Dieses düstere Haus am Ende der Straße, am Ende eines Weges im Dorf der Oma, die mit wildem Wein überwucherte Villa auf dem Weg zu Onkel und Tante, das von der Straße zurückgesetzte Gebäude gegenüber, dessen Fenster immer dunkel sind, wie blind, und die doch zu starren scheinen. Und wer es nicht aus eigener Anschauung kennt, dem ist dieses Haus irgendwann einmal in einem Roman, einem Film, einer Fernsehserie begegnet. Man geht schnell dran vorbei, manchmal bleibt man stehen und es ist eine Mutprobe, sich der Wirkung, der Aura, die davon ausgeht, auszusetzen. Hinter diesen Häusern stecken immer irgendwelche Geschichten, die niemand gern erwähnt, die eher geraunt denn erzählt werden, Geschichten, die meist den Legenden näher sind als den Tatsachen, die sowieso längst jeder vergessen hat.

Irgendwann während der Lektüre von Shirley Jacksons WIR HABEN SCHON IMMER IM SCHLOSS GELEBT (Dt. bei Festa 2019; das Original erschien 1962 unter dem Titel WE HAVE ALWAYS LIVED IN THE CASTLE) kommt dem Leser in den Sinn, daß hier die Vorgeschichte eines solchen Hauses berichtet wird.

Die Ich-Erzählerin Mary Katherine Blackwood, genannt Merricat, erzählt träumerisch vom Leben in einem großen, abseits des Dorfes gelegenen Haus, in dem sie mit ihrer Schwester Constance und ihrem wohl dementen Onkel Julian lebt, seit der Rest ihrer Familie vergiftet wurde und gestorben ist. Constance stand im Verdacht, sechs Jahre zuvor Arsen ins Abendessen gemischt zu haben und wurde schließlich von dem Vorwurf gerichtlich freigesprochen. Seitdem sind die verbliebenen Blackwoods im Dorf unerwünscht, Personae non gratae, Aussätzige. Merricat nimmt uns zu Beginn des Textes auf eine ihrer zweimal wöchentlich stattfindenden Einkaufstouren ins Dorf mit und wir erfahren schnell, wie die Kinder ihr die Reime hinterherrufen, die die Mördermoritat vom Gift im Zucker wiedergeben. Merricat hasst die Dörfler, sie hat grässliche Fantasien von Tod und Zerstörung, die sie gern über das Dorf bringen würde. Nur im Dunstkreis des Hauses fühlt sie sich sicher. Und um es zu schützen, hat sie es mit Zauberformeln und allerlei vergrabenen Schätzen – Murmeln, Silberdollars, Ketten usw. – bedacht, hat geradezu ein magisches Netz ausgelegt, dessen Teile und Abschnitte auf den Leser willkürlich wirken mögen, in Merricats höchst eigener (Gedanken)Welt aber alle Sinn machen.

Es ist weniger das, was uns diese junge Frau, die immerhin achtzehn Jahre alt sein soll und doch eher wie ein Kind klingt, als wie sie es berichtet, was die Lektüre des Romans so außergwöhnlich macht. Nüchtern, ohne Scham oder Zurückhaltung, kommt diese Erzählung daher, die von einem Leben zeugt, welches wie aus Zeit und Raum gefallen scheint. Nichts von diesem recht ungewöhnlichen Leben abseits aller gesellschaftlicher Konventionen wirkt in Merricats Bericht unklar, seltsam oder abwegig, sondern es gelingt Jackson, einen Ton zu setzen, der alle Gedankengänge der jungen Frau, und seien sie noch so von magischem und von Wunschdenken, Traumerfahrung oder überbordender Phantasie geprägt, logisch und in sich schlüssig wirken lässt. Überall meint man Echos von Lewis Carrolls ALICE IM WUNDERLAND zu vernehmen[1], aber ebenso die alter Sagen und Märchen. Nie können wir uns in einem historisch verbürgten Zeitablauf verorten, nie sicher sein, ob wir einem endlosen Tagtraum oder einem endlosen Albtraum beiwohnen, aus dem es kein Erwachen gibt.

Dabei erscheint der Alltag im Haus vollkommen normal: Es wird geputzt und gekocht, eingemacht und angesetzt und sehr, sehr viel gegessen. Constance, die offenbar seit den Anschuldigungen vor Jahren nicht mehr aus dem unmittelbaren Umkreis des Hauses herausgetreten ist, übernimmt all diese Aufgaben und pflegt zudem noch Onkel Julian, der Tag für Tag an einer minutiösen Widergabe jenes „letzten Tages“, an dem alle starben, arbeitet, sich dabei nie sicher ist, ob all das je wirklich stattgefunden hat und keinen Hehl daraus macht, daß er es mit der Wahrheit keinesfalls genau nimmt. Ab und an schauen Nachbarn vorbei und nehmen ein Tässchen Tee im Salon, immer darauf bedacht, nicht vom Zucker zu kosten, war doch darin, so die Legende, das Arsen, welches den Großteil der Familie Blackwood dahingerafft hat. Kommt einmal eine Fremde mit zu Besuch, ist es nur eine Frage der Zeit, bis jener schicksalhafte Tag zur Sprache kommt und sich die Frage stellt: Wer war´s? Und mehr noch: Warum? Erstere Frage bekommen wir schließlich – nicht unerwartet – beantwortet; letztere müssen wir uns – wenn wir es im Laufe der Lektüre denn überhaupt noch für erheblich halten – aus den meist rein deskriptiv vorgetragenen Ereignissen zusammeninterpretieren.

Solange man Merricats Erzählung folgt, bewegt man sich im Innern eines scheinbar magischen Denkprozesses, der immer dann von positiven Gedanken geprägt ist, solange sich die Gedanken auf sie selbst, ihre Schwester und Onkel Julian richten, zu dem netter zu sein sich die Erzählerin den gesamten Roman hindurch vornimmt. Alles erscheint in sich folgerichtig, auch die Tatsache, daß Constance alle Hausarbeiten erledigt, dabei immer wieder Anweisungen sowohl vom Onkel als auch der Ich-Erzählerin erhält, was diese zu den diversen Mahlzeiten zu essen wünschen. Merricat ist hingegen immer dann von „bösen Gedanken“ geleitet, wenn diese sich auf das Außen richten. Seien es, wie erwähnt, die Dorfbewohner, die sich garstig zeigen, seien es die Damen, die zum Tee erscheinen, und sei es erst recht Cousin Charles, der eines Tages auftaucht und sich sehr interessiert an Constance, mehr aber noch am Safe im Arbeitszimmer des früheren Hausherrn zeigt.

Mit dem Auftauchen von Charles gerät das ganze offenbar so präzis austarierte Gefüge im Haus durcheinander. Und diese Anwesenheit führt schließlich in die Katastrophe, die das Leben von Onkel Julian beenden und jenes der Schwestern für immer verändern wird. Denn aufgrund einer Fahrlässigkeit des Cousins, der Merricat allerdings beherzt nachhilft, fängt das Haus Feuer. Es wird zwar von der lokalen Feuerwehr gelöscht, anschließend aber von den Dorfbewohnern, die herbeigeströmt sind, um das Schauspiel des brennenden Blackwood-Anwesens zu genießen und hämisch zu kommentieren, in einer kollektiven Raserei gestürmt und zerstört. Auch diese Zerstörung nehmen die Schwestern zwar nicht unbeteiligt zur Kenntnis, doch wenden sie sich unmittelbar am darauffolgenden Tag der Frage zu, wie man sich nun in der Ruine einrichten sollte. Sie verbarrikadieren sich mehr oder weniger im unbeschädigten Erdgeschoß, vor allem der alten Küche, die schon zuvor eine Art Lebensmittelpunkt war, und beobachten aus dem Haus heraus, wie Dorfbewohner voller Schuldgefühle Essen vor der Tür abstellen, Kinder im Garten spielen und Mutproben damit bestreiten, wer sich nah an die verfallenden Mauern herantraut und belauschen zufällige Besucher bei den raunend dargebotenen Geschichten über die zwei Schwestern, die angeblich hier immer noch hausen, abgeschnitten von der Außenwelt. Währenddessen wird das Haus immer stärker von wildem Wein und Efeu überrankt, bis es eben genau jenen eingangs beschriebenen Gebäuden gleicht, die wir alle kennen. Spukhäuser.

An diesem Punkt, auf den letzten 30, 35 Seiten des Romans, sind wir vollends im Innen des Mythos, der Legende, angekommen. Und Jackson gelingt hier Erstaunliches, indem sie uns mit Merricats glasklarer und in ihren Beschreibungen immer akkurater Stimme in dieses Innen führt und zugleich das Raunen des Außen anklingen lässt. So entsteht eine Metaebene, auf der wir die Schnittstelle erleben, ja spüren können, zwischen dem Ereignis und seinem letztlich immer literarischen Fortleben. Was das Gerücht flüstert, was die Legende wissen will, was der Mythos geradebiegen soll – denn Schuld haben auch und gerade die Dorfbewohner auf sich geladen, eine Schuld, die man hinter der Erzählung der unsichtbaren Schwestern im verwunschenen Haus verstecken kann – hat einen wahren Grund, einen Kern, der in seiner Verdichtung wie auch in seiner Ver-Dichtung eine weitaus vielschichtigere Wahrheit enthält, als es das Gerücht, die Legende oder gar der Mythos je erfassen oder wiedergeben könnten – und ihrem Wesen nach auch gar nicht wiedergeben sollen. Jackson hingegen spürt genau dieser Wahrheit in ihrer Ver-Dichtung dieses Kerns nach. Sie erfasst exakt die Schnittstelle, an der aus einer wahren Begebenheit Literatur wird.

Oft wurde in der einschlägigen Literaturwissenschaft der feministische Subtext in vielen Werken von Shirley Jackson herausgearbeitet und betont. In WIR HABEN SCHON IMMER IM SCHLOSS GELEBT wird dieser Ansatz vielleicht deutlicher, als anderswo, da das Sprechen Merricats, ihre Erzählung in all ihrer Abwegigkeit, immer auch eine Selbstermächtigung ist. Eine weibliche Selbstermächtigung, die sich hier vor allem gegen eine Männlichkeit richtet, die in Cousin Charles repräsentiert ist. Sie reflektiert weder auf die Wirkung dessen, was sie uns erzählt, wie sie auch nie die darin mitschwingende Aggression gegen eine Außenwelt reflektiert, die sie als feindlich wahrnimmt. Vielleicht würde eine psychoanalytische Interpretation diese junge Frau als eine Verletzte, Traumatisierte, vielleicht auch als eine Autistin diagnostizieren, das mag sein. Der Roman, so wie er konzipiert wurde, lässt uns niemals an Merricats geistiger Gesundheit oder ihrem Selbsbewußtsein zweifeln. Wie bereits oben erklärt, folgt sie einer inneren Logik, die im Innenraum des Textes weder durch sich selbst, noch durch die Erzählerin je in Frage gestellt wird.

In diesem Sprechen kommt auch Dünkel zum Ausdruck. Jackson wurde gern unterstellt, daß der Roman im Grunde von sozialem Druck und sozialer Kontrolle gerade in der neuenglischen Provinz handelt, wo man das Werk fast automatisch verortet, ohne darauf einen wirklichen Hinweis zu erhalten. Doch so einfach ist das nicht. Die Blackwoods, darüber klärt der Text verschiedentlich und explizit auf, waren – oder hielten sich für – immer auch etwas Besseres. Eine Familie, die mit dem Pöbel der gemeinen, dahergelaufenen Dorfbewohner bitteschön nichts zu tun haben wollte. Die Aggression ist beiderseitig – und zwar von Beginn an. Der nach der Verwüstung einsetzende – oder sich vollendende – Rückzug der Schwestern ins Haus, ist einerseits die absolute Differenz zu dieser feindlich gesinnten Dorfgemeinschaft, zugleich ist es aber auch der Rückzug auf einen Standpunkt, der sich maximal entfernt von den patriarchalen Bedingungen einer Außenwelt, die, eben in Cousin Charles symbolisch verkörpert, nach durchweg maskulinen Prinzipien funktioniert, deren erstes und oberstes Gebot das des Mammons, der ökonomischen Überlegenheit, scheint. Die Raserei der Dorfbewohner – angestachelt durch den Feuerwehrchef selbst – kann wiederum als Aufbegehren gegen eine Familie gelesen werden, die sich immer schon abgesetzt hat, die immer schon in einer gewissen Arroganz auf andere hinabgeblickt hat.

Weder Constance noch Merricat zeigen sich jemals im Text interessiert am wahrscheinlich beträchtlichen Vermögen des Vaters, das im immer verschlossenen Safe schlummern mag. Vielmehr liegt ihr Augenmerk auf der Schönheit und der Anmut jener das Haus bevölkernden Dinge und Gegenstände – „unnütz“ erscheinende Porzellanfiguren, Tischdecken, eine Harfe, die Gemälde der Familie – die die Dorfbewohner in ihrer vermeintlich unmotivierten Raserei zerstören. Auch die Uhr des Vaters, sein Siegelring, die Manschettenknöpfe, die Charles sich aneignet und die in seinem Besitz und an seinem Körper lediglich zu Markierungen von Macht und zu Accessoires des Reichtums verkommen, haben in der Wahrnehmung der Schwestern vielmehr magische Funktionen, erlangen ihren Wert ausschließlich aus sich selbst und der Bedeutung, die sie ihnen zuschreiben und die viel mit Erinnerung und Aufrechterhaltung vergehender Muster und Riten zu tun haben. Das Geld mag sie auch deshalb nicht interessieren, da es genau diese Funktionen nie erfüllen kann. Es ist da, es mag von Wert sein, es bedeutet im Kosmos dieser beiden Frauen aber nichts. Es be-deutet nichts, da es weder ästhetischen noch historischen oder psychologischen Wert hat.

So wird die Magie des Beschriebenen ebenso zu einem immanenten, wesentlichen, ja konstitutiven Element des Textes, wie die Aggressivität und die Träumerei, die in Merricats Wahrnehmung gleichberechtigt neben einer möglichen Realität steht. Ja, all dies definiert den Text selbst als ein Bollwerk, ein magisches Zeichen, eine symbolische Abwehrformel gegen ein Außen, das immer feindlich wirkt, immer übergriffig und immer lauernd auf eine Gelegenheit, Zugriff auf die Schwestern zu bekommen, ohne je den Grund für diesen Zugriff – immerhin hat man es offenbar mit zwei erwachsenen Frauen zu tun – näher zu erläutern, außer daß man (und frau) glaubt, sich „kümmern“ zu müssen, was im Kontext nur bedeuten kann: Die Ordnung wieder herzustellen, die Dinge an ihren Platz zu setzen. So ist die Raserei der Dorfbewohner nach dem Hausbrand auch ein Aufbegehren gegen zwei Frauen, die sich das Recht herausnehmen, die Ordnung außer Kraft zu setzen, besser: Die herrschende Ordnung durch eine eigene zu ersetzen, und sei diese auch noch so weit von gängiger Realität entfernt. Wobei die wieder eingesetzte Ordnung natürlich auch jene ist, in der eine Familie wie die Blackwoods sich auch immer schon über andere gesetzt haben. Jackson baut also auf verschlungenen Pfaden auch das Hegel´sche Gleichnis von Herr und Knecht ein: Auf wen soll man die eigene Wut projizieren, wenn der „natürliche“ Feind nicht mehr da ist, die Angriffsfläche entzieht? Beide Seiten brauchen also einander – bis Merricat und Constance genau diese Ordnung aufgeben, zerstören und außer Kraft setzen.

WIR HABEN SCHON IMMER IM SCHLOSS GELEBT ist ein manchmal unheimlicher Text, aber er ist es auf jene Art und Weise, wie die Texte Kafkas den Leser verstören. Dies ist surreal und behauptet immer sein Recht auf den innerliterarischen Raum, der eigene Logiken und Realitäten definiert. So ist dies kein Horror- oder Schauerroman, eine Gattung, mit der Jackson nicht zu Unrecht gern assoziiert wird, sondern es ist ein äußerst vielschichtiger Text, der das Genre, wenn man ihn denn überhaupt als Beitrag zu einem solchen lesen will, vollends sprengt, es über sich selbst hinausführt und ihm eine Ernsthaftigkeit und Aussagekraft über die Welt, in der wir leben, verschafft, wie es nur den größten Autoren, die sich an ihm versucht haben, erreicht haben. Getrost kann man da einen Roman wie Henry James´ THE TURN OF THE SCREW als Vergleich heranziehen.

Es wäre interessant zu wissen, wohin die Autorin diesen Ansatz noch getrieben hätte, wenn sie nicht viel zu früh im Alter von gerade einmal 49 Jahren einen Herzinfarkt erlegen wäre. So bleibt aber neben der weitaus berühmteren Geistergeschichte THE HAUNTING OF HILL HOUSE (erschienen 1959) und der beängstigenden Kurzgeschichte THE LOTTERY (erstmals erschienen 1948) vor allem dieser Roman ihr Vermächtnis. Ein tiefgreifender Roman, geheimnisvoll, vielschichtig und sich jedweder Eindeutigkeit entziehend.

 

[1]Vielleicht kommt er nie mehr zurück“ sagte ich. „Muss er aber, ich backe Pfefferkuchen für ihn.“ 

Ich überlegte, zum Bach hinunter zu gehen, aber ich hatte keinen Grund zu der Annahme, daß der Bach überhaupt da wäre, da ich ihn noch nie an einem Dienstagmorgen aufgesucht hatte. (beide Zitate S. 132)

Es ist eine in sich geschlossene Logik, die kaum widerlegbar erscheint und dennoch aus der Realerfahrung des Lesers heraustritt, bzw. den Leser in eine Erfahrungslogik hineinzieht, die ausschließlich im Text funktionieren kann, dort aber scheinbar mühelos aufgeht. Carroll nutzt genau diese Logiken ununterbrochen in seinem berühmtesten Werk.

 

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