YELLOWFACE
Möglicherweise ein Schlüsselroman, ganz sicher ein versiertes Spiel um Identität, kulturelle Aneignung und kreativen Klau
Der Schlüsselroman als solcher erzählt ja meist von real existierenden Personen, die im Text nur marginal verklausuliert werden und somit immer erkennbar bleiben. So gesehen hat Rebecca F. Kuang mit YELLOWFACE (2023; Dt. 2024) sicher keinen klassischen Schlüsselroman geschrieben, erhellende Einblicke ins Verlagsgeschäft und das Gewese drumherum dürfte die Autorin des Bestsellers BABEL (2022/23) hier allerdings schon bieten. Und diese Einblicke eröffnen nicht gerade das schönste Panorama einer Branche, die uns Leser*innen doch so viel Glück und Freude beschert.
Die Ich-Erzählerin Juniper Song, vormals June Hayward, ist eine eher mittelmäßige Autorin, zumindest gemessen an ihrem kommerziellen Erfolg (was an sich ja nichts zu bedeuten hat, aber lassen wir das…). Eine ihrer engen – vielleicht ihre engste, weil einzige – Freundin ist Athena Liu, bei der das mit dem Erfolg schon ganz anders aussieht. Die nämlich ist eine – kommerziell betrachtet – ausgesprochen erfolgreiche Schriftstellerin. Als die beiden gemeinsam Athenas Vertrag mit Netflix feiern, kommt es zu einem Unglück und der neue Stern am Literaturhimmel erstickt auf tragische Weise an einem Stück chinesischen Essens, das ihr im Hals stecken bleibt. June, in Panik, versucht Athena zu retten, ruft den Notarzt und ist außer sich, als ihre Freundin schließlich in ihren Armen verstirbt. Allerdings ist sie geistesgegenwärtig genug, deren neuestes, bisher von niemandem gelesenes Manuskript einzustecken und mitzunehmen. Und so beginnt die Höllenfahrt der Juniper Song, wie sich Ms. Hayward nun nennt, um sich mit ihrem neuen Werk – einer Saga der chinesischen Hilfssoldaten im Ersten Weltkrieg – von ihren früheren Veröffentlichungen abzusetzen. Denn lange dauert es nicht, bis die ersten Verdächtigungen auftauchen – und sich das schlechte Gewissen regt.
Kuang führt ihre Leser*innen auf intensiven 380 Seiten tief in die Psyche dieser Frau, die nicht nur mit ihren Schuldgefühlen kämpft – welche exponentiell zu ihrem Konto wachsen, denn natürlich wird das Buch ein Riesenhit – sondern auch mit den Anfeindungen in der Netzgemeinde, also dort, wo kulturelle Kämpfe heutzutage meist ausgetragen werden. So lernen wir hier allerhand über Cyber-Mobbing, Hate Speech, Ghosting, Shitstorms und darüber, wie es nahezu unmöglich ist, einmal in die Welt gesetzte Verdächtigungen wieder einzufangen – erst recht, wenn sie stimmen. Und wir werden tief hineingesogen in die aktuell wohl extremsten Diskurse im Kulturbetrieb. Es geht um kulturelle Aneignung, um Identität und Identitätsklau, es geht darum, wie wir mit Minderheiten umgehen und wer worüber in welcher Form reden und schreiben darf. Und es geht immer auch um die Hybris des Autors, darum, was Erfolg bedeutet – sowohl monetär als auch psychologisch. Denn wer einmal vom süßen Nektar des Ruhms gekostet hat, der mag davon wohl nicht mehr lassen.
Das sind natürlich eine Menge Themen. Wahrscheinlich zu viel für ein einzelnes Buch, obwohl es Kuang über weite Strecken gelingt, all die verschiedenen Anliegen geschickt verpackt unterzubringen. Oder zumindest – das trifft es wohl eher – anzureißen. Denn letztlich will sie unterhalten, was ihr eher leidlich gelingt. Diese Juniper Song ist als Ich-Erzählerin zwar schon unangenehm ehrlich, was sie auch sein muss, sonst bliebe zu vieles ungesagt und der Text als solcher machte keinen Sinn, allerdings ist sie dadurch auch unangenehm unsympathisch. Was an und für sich kein Problem für einen Roman sein muss, die Literatur strotzt nur so vor unsympathischen Helden und Anti-Helden und ein gerüttelt´ Maß davon erzählt seinem Publikum auch direkt aus der subjektiven Perspektive von seinen Missetaten. Allerdings sind die allermeisten dieser Figuren interessant. Und das ist Junipers Problem: Sie ist nicht interessant. Sie ist einfach nur eine neiderfüllte mittelmäßige Autorin, die sich im richtigen Moment als skrupellos erweist und sich weniger die Identität als schlichtweg die Arbeit einer anderen, als Konkurrentin empfundenen Autorin aneignet. Immerhin steckt sie selbst noch allerhand Arbeit in den Text und überarbeitet ihn, redigiert ihn, poliert ihn, rundet ihn ab und lässt ihn glänzen. Zumindest behauptet sie das ihren Leser*innen – also uns – gegenüber.
Das nämlich ist das wirklich Interessante an Kuangs Buch. Das Spiel mit Identitäten, das Wechselspiel eines Romans mit der Wirklichkeit, welches der Roman darstellt, selbst aber auch ist. Kuang ist selbst chinesischer Herkunft, liest man ihren Werdegang, dann entspricht der in vielerlei Hinsicht ziemlich genau jenem, den sie im Roman Athena Liu angedeihen lässt. Aber Kuang lässt diese Autorin chinesischer Herkunft im ganzen Roman nie selbst sprechen. Im Gegenteil: Bedenkt man, dass sich im Grunde alles um sie und ihren Text dreht, dann muss man feststellen, dass diese Autorin seltsam abwesend bleibt in diesem Buch. Wie ein MacGuffin im Film, eine Leerstelle, um die alles kreist, ohne je in diesen Raum zu gelangen, den sie markiert, wo einst etwas, ein Mensch, eine Frau, eine Autorin existierte. Alles was wir über Athena Liu erfahren, erfahren wir aus dem Munde Haywards. Und alles was sie über Athena Liu zu sagen hat, ist immer schon gefiltert. Und der Filter ist die von Hayward selbst eingestandene Mittelmäßigkeit, der sie mit dem geklauten und angeeigneten Manuskript entkommen will. Immer wieder wird Athena Liu uns unsympathisch geschildert, herablassend, arrogant, desinteressiert.
Kuang gelingt es recht eindrucksvoll, sich in diese June Hayward/Juniper Song – also eine recht typische Vertreterin mittelmäßiger weißer amerikanischer Mittelklasse – hineinzudenken. Und zugleich lässt sie durch deren Sprechen immer mal wieder – im Grunde eine reine und sehr gewollte Dekonstruktion – durchscheinen, dass diese angeblich so selbstherrliche und arrogante und aufgesetzte Athena Liu (also sie selbst, Rebecca F. Kuang) eigentlich eine recht freundliche, manchmal zugewandte, nicht ganz dumme Person war, die einfach sehr viel Glück hatte. Und schreiben konnte. Doch dann erzählt Hayward ihrem Publikum von Lius Regelverstößen und Diebstählen. Die nämlich hat sich vollkommen skrupellos das Leid anderer, in das sie sich zugegebenermaßen gut einfühlen und eindenken konnte, zu eigen gemacht, um daraus ihrerseits Geschichten zu kreieren. So auch in Haywards Fall, als die in Yale, wo die beiden einander kennengelernt hatten, vergewaltigt wurde und Athena Liu die einzige weit und breit war, der sie sich anvertrauen konnte. Bis sie ihre Erfahrungen eins zu eins in einer Kurzgeschichte in der Campus-Zeitung wiederfand.
Kuang spielt also auf äußerst geschickte Art und Weise das Spiel mit der kulturellen Aneignung, stellt sich selbst hier und da einen Persilschein aus und gibt dann doch durch die Blume zu verstehen, dass auch sie – oder Athena Liu, wer weiß das schon – nicht immer so freundlich gewesen ist, wie sie es hätte sein können, und manchmal, um im Sound des Romans zu bleiben, eine ganz schöne Bitch sein konnte. Zugleich spielt sie aber auch mit der Erzählperspektive und der Stimme, die spricht. Wer erzählt da was von wem? Und wie sehr ist dem, was da erzählt wird, zu trauen? Juniper enthält ihren Leser*innen mindestens zweimal entscheidende Informationen vor, mit denen sie spät(er) im Roman herausrückt. Eine davon wurde oben erwähnt, es ist die frühere Vergewaltigung in Yale. Man kann das für einen billigen Trick der Autorin Rebecca F. Kuang halten, man kann das aber eben auch für genau die Art der Verunsicherung halten, die einer subjektiven Schilderung immer innewohnt. Wer spricht? Und was wird der oder die Sprechende den Hörenden mitteilen? Was vorenthalten? Was wann preisgeben? Denn nicht jede Information ist zu jedem Zeitpunkt der Preisgabe das gleiche wert.
All das ist auf der theoretischen Ebene dann zwar alles ein Genuss, aber es ist einmal mehr eine sehr gute Idee, die auf die Gesamtstrecke eines Romans irgendwann nicht mehr trägt. Wie so viele theoretische Ideen. Und so versandet der Roman irgendwo im letzten Drittel, man liest das natürlich bis zum nicht ganz so bitteren Ende, weil man wissen will, wie sich Junipers Schicksal nun wenden wird und schlussendlich hat sie dann auch eine recht gute Idee, wie sie sich wehren wird – doch ist der Unterhaltungswert des Ganzen eher begrenzt. Zu uninteressant die Protagonistin, zu klischeehaft die Entlarvungen aus der Literaturszene (Eifersüchteleien und Neid, wer hätte das gedacht; eingebildete Lektor*innen und Agent*innen, denen der oder die Autor*in oft ausgeliefert ist; ein Betrieb, der seine Kinder gnadenlos frisst, verdaut und wieder ausspuckt; ein Betrieb – Stichwort Sensitivity Reading – der selbst maßlos verunsichert ist), die man so in etwa erwartet hatte, letztlich auch zu durchschaubar das Konzept, welches dem Ganzen zugrunde liegt. Als Schlüsselroman in eigener Sache funktioniert Rebecca F. Kuangs Roman wahrscheinlich noch am besten.