ZEITLANG

Das Autorenduo Donata Rigg und Claudia Klischat nimmt seine Leser*innen mit auf eine Zeitreise tief in die bayrische Provinz

Auffallend viele deutsche oder deutschsprachige Romane der jüngeren Vergangenheit beschäftigen sich mit der Frage, was den oder die Einzelne/n zu seinen oder ihren Handlungen motiviert. Inwiefern Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst, geradezu prägt, ob es unsere individuelle Sozialisation ist, die unsere Identität ausmacht, oder vielleicht doch die Gene unserer Ahnen? BRÜDER von Jackie Thomae ging dieser Frage nach, ein Roman wie Veronika Kesslers DIE GESPENSTER VON DEMMIN untersuchte die Wechselwirkung zwischen Weltgeschichte und der Entwicklung eines jungen Menschen der Gegenwart.

Das Autorenduo Donata Rigg und Claudia Klischat widmet sich in ihrem Roman ZEITLANG (2024) nun der Frage, ob und inwiefern unsere spezifische Familiengeschichte unser individuelles Verhalten prägt. Und sie erzählen dabei eine wahrlich epische Familiengeschichte aus der bayrischen Provinz, beginnend Mitte des 19. Jahrhunderts und hineinreichend in die unmittelbare Gegenwart, in welcher der Journalist und Kommunikationsberater Benedikt Zwicker trotz eines eher links-alternativen Backgrounds einen Job bei einem aufstrebenden Rechtspopulisten annimmt, dem er bei dessen Medienstrategie unter die Arme greifen soll. Was er dann auch äußerst erfolgreich tut. Das allerdings führt zu Verwerfungen innerhalb seiner Familie, da seine Mutter ihn zwar nicht gleich verstößt, aber zutiefst verstört reagiert, als sie von seinem Betätigungsfeld erfährt. Schließlich müht sie sich, ihm mittels eines alten Aufnahmegeräts zu erklären, aus welchem familiären Hintergrund sie und wo letztlich auch er herkommt.

Doch bevor es soweit ist, erzählen Rigg/Klischat in zwei gegenläufigen, sich jeweils elliptisch bewegenden Handlungssträngen von der Familie Mauer/Bader, deren Urahn einst Zeuge der Ermordung seines geliebten und verehrten Königs Ludwig II. wurde, dem er als Bub bei der Messe dienen durfte und für dessen See in der Nähe des Schloss Neuschwanstein die Familie die königlichen Fischereirechte erhielt. Die Entwicklung der Familie, ihre wirtschaftlichen Erfolge – nicht nur der Fischereibetrieb inklusive des Verkaufs, sondern später auch eine florierende Badeanstalt am See – , die politischen Verirrungen – der Urahn bleibt zeitlebens Monarchist; sein Sohn lässt sich recht früh in die NSDAP einbinden, der er zwar recht schnell skeptisch gegenübersteht, die Vorteile der Parteimitgliedschaft will er dann aber doch genießen; sein Sohn wiederum ist überzeugter HJ-ler und zieht in den Krieg, aus dem er schließlich nicht zurückkehren wird – bis hin zu den emotionalen Verwicklungen innerhalb der Dorfgemeinschaft aber auch der Familie selbst, werden von den Autorinnen in mal weit ausgreifenden, lange Zeiträume erfassenden Passagen, dann wieder in Engführungen anhand einzelner Szenen und Ereignisse geschildert.

Gegenläufig wird die Geschichte Benedikts erzählt. Von seinen Versuchen, im Leben Fuß zu fassen, was ihm trotz hervorragender Voraussetzungen nicht so recht gelingen will; von seiner Liebe zu der älteren Kunstkuratorin Marianne, die ihn für einen wesentlich älteren Mann verlässt und doch zu ihm zurückkehrt; von der Verbindung zu seiner Schwester Agnes und natürlich zu den Eltern, die ihm fremd sind und denen er fremd wird. Zudem spielt der Streit zwischen Benedikts Mutter Edith und ihrer Schwester Brigitte eine wesentliche Rolle, denn während Edith einst aus der Enge der Provinz ausbrach, ins liberale Freiburg zog, mit Gregor einen modernen, progressiven Mann heiratete, half Brigitte, die früh ein uneheliches Kind bekam, weiterhin den Eltern im Betrieb, ohne dafür je eine ordentliche Anstellung oder ein ordentliches Gehalt zu bekommen. Und als die Eltern – von altem Schrot und Korn – dann nicht mehr sind, treibt Brigitte nicht nur die Trennung des Erbes voran, sondern ist im Grunde der Meinung, dass ihr mehr, wenn nicht alles zustehe, da sie hier ihr Leben verbracht habe, in Herzach, jenem Ort, der auch Edith und ihrer Familie immer ein Sommerort gewesen ist, für Benedikt und Agnes ein Hort des Friedens.

„Transgenerationale Weitergabe“ ist eines der Konzepte, die momentan in der Sozialpsychologie (und nicht nur dort) für Furore sorgen. Mit der – oft unbewussten und ungewollten – Weitergabe von Generationserfahrungen auf die nächste und sogar übernächste – oftmals handelt es sich dabei die Weitergabe von schweren Traumata – scheint man zumindest ansatzweise gewisse Entwicklungen erklären zu können, die sich zwischen den Generationen abspielen und fortzusetzen scheinen. Oft sind sie über Dekaden, vielleicht gar Jahrhunderte, wirksam. Genau dieses Konzept scheint dem Roman ZEITLANG zugrunde zu liegen – und folgt man dem Klappentext, wird diese Vermutung bestätigt. Ähnliches deutete sich in Verena Kesslers bereits erwähntem Roman DIE GESPENSTER VON DEMMIN an, allerdings blieb diese „transgenerationale Weitergabe“ dort eher Behauptung, da der Roman nicht zwingend nachvollziehbar machen konnte, wie das historische Ereignis sich auf die Entwicklung eines recht jungen Mädchens auswirken konnte, die in der deutschen Gegenwart aufwächst. Rigg und Klischat greifen nicht historische Ereignisse auf, zumindest kein singuläres Ereignis, sondern wollen für die Leser*innen anhand einer Familiengeschichte – die natürlich ihrerseits in die Geschichte eingebettet ist – nachvollziehbar machen, wie sich durch Generationen hindurch gewisse Haltungen, Ansichten und Ideen fortsetzen können.

Zumindest scheint dies das Anliegen des Autorinnen-Duos zu sein. Anders ließe sich ihr a-chronologisches Erzählen, das zudem auf ganz unterschiedliche Erzählstrukturen zurückgreift, nicht erklären. Der Großteil der Geschichte wird auktorial geschildert, der Zweite Weltkrieg dann anhand von Briefen zwischen dem an der Front stehenden Sohn und den Eltern, bzw. seiner Schwester, die schließlich die Mutter von Edith und Brigitte werden wird, dann wechselt der Roman zur Wiedergabe der Sprachaufzeichnungen Ediths an Benedikt und schließlich erzählt Benedikt das Ende der Geschichte aus subjektiver Sicht.

Schon diese unterschiedlichen und nicht immer kohärenten Erzählformen sorgen aber für ein gewisses Unbehagen an der Lektüre. Vielleicht nicht gleich willkürlich, aber auch nicht zwingend nachvollziehbar wechselt der Text seine Formen und Erzählperspektiven, werden die Leser*innen mit den unterschiedlichen Figuren und deren spezifischen Entwicklungen konfrontiert. Aber diese Figuren bleiben blass, schwer fassbar, wenig authentisch und in ihrer Motivation nicht immer nachvollziehbar. Sie gehen gleichsam in den unterschiedlichen stilistischen Mitteln unter. Das spürt man bereits daran, wie schwer es fällt, die einzelnen Figuren und ihre Stellung innerhalb des Familiensystems auseinander zu halten, einzuordnen, wieder zu erkennen, wozu der Wechsel zwischen Namen, Spitznamen und Abkürzungen noch gesondert beiträgt. Die elliptische Erzählform, zumindest in der Form, in der sie hier angewandt wird, führt dann dazu, dass man nicht immer nachvollziehen kann, welche der geschilderten Ereignisse nun eigentlich wesentlich, welche von größerem, welche von geringerem Interesse sind.

Exemplarisch seien hier die Briefwechsel während des Krieges erwähnt, die sich über Dutzende von Seiten hinziehen und dann aber doch ermüdend häufig lediglich aus Trivialitäten bestehen: Grüße an diesen und jenen, vielleicht gibt es Fronturlaub, vielleicht auch nicht, Hunger, Durst und Einsamkeit. All das trifft natürlich zu, ist auch in seiner Dramatik, gerade gegen Ende des Krieges, nachvollziehbar, ist dem Leser aber durchaus anhand zwei oder drei Beispielen zu vermitteln, es braucht nicht zwingend zwanzig oder dreißig Abdrucke der entsprechenden Zeugnisse.

Benedikts Arbeit für den Rechtspopulisten, der für den interessierten Leser als eine Melange aus Björn Höcke, Alice Weidel und Alexander Gauland erkennbar ist, wird einerseits zum Anlass des Bruchs zwischen dem Sohn und der Mutter und damit indirekt den Eltern generell, andererseits wird Benedikts Erkenntnis, dass sein Vorgehen – einen Job anzunehmen, nur um irgendeinen Job anzunehmen und sich darin zu profilieren, unter Außerachtlassung aller moralischer Implikationen – möglicherweise weder moralisch noch beruflich klug gewesen sein könnte eher nonchalant und nebenher erzählt. So mäandert die Erzählung ein wenig, ohne zu fokussieren, die Rezipient*innen müssen ununterbrochen interpretieren, was hier nun wichtig, was eher Beiwerk ist. Das ist an und für sich natürlich nichts Schlechtes, wenn ein Text seine Leser*innen fordert. Nur bleibt man hier irgendwann im Beliebigen stecken, fragt sich, wo das eine das andere bedingen soll, wieso der Nazi-Opa verantwortlich dafür ist, dass irgendein Urenkel einem postmodernen Populisten das Wort redet usw. Das sind Behauptungen, grenzt an Kolportage, ist aber weder zwingend noch wirklich fesselnd.

Zudem müssen die Leser*innen in einigen Zusammenhängen schon über eine recht genaue Kenntnis der gegenwärtigen Nachrichtenlage verfügen, sonst werden sie Teilen des Textes, zumindest gewissen Andeutungen, nicht folgen können. Auch das kann man den Autorinnen nicht vorwerfen, immerhin ist dies ein in Teilen dezidiert politischer Roman, insofern sollte, wer ihn kauft und lesen will, wissen worauf er sich einlässt. Dennoch wäre es gelegentlich vielleicht angebracht gewesen, weniger zu raunen und die Dinge deutlicher an- und auszusprechen. Und auch die Figur des „Hunsrückers“, wie der Rechtspopulist von Benedikt genannt wird und sich schließlich auch selbst nennt, könnte schärfer ausfallen, bedrohlicher. So, wie Rigg und Klischat ihn zeichnen, ist er eine doch eher harmlose Figur, vor der man wenig bis keine Angst haben muss. Das aber verharmlost nicht nur die realen Vorbilder, sondern lässt auch den Bruch, zu dem Benedikts Arbeit innerhalb der Familie führt, weniger glaubwürdig und auch nicht so dringlich erscheinen. Aber vielleicht wollten die Autorinnen eben keinen in dieser Hinsicht politischen Roman, sondern das Familienepos, das auch, aber nicht nur familiäre Entwicklungen erklären kann.

Das Familienepos ist allerdings gelungen, man dringt tief in einen Teil deutscher Provinzgeschichte ein, man vollzieht einen gewissen Teil gesamtdeutscher Geschichte nach, der vielleicht gerade Leser*innen, die nicht aus Süddeutschland stammen, weniger deutlich vor Augen stehen. Das spezifisch Bayrische wird hier klar herausgearbeitet, was Klischat – geboren in Wolfratshausen und heute in München ansässig – und Rigg – in Konstanz geboren und aufgewachsen, heute in Berlin lebend – natürlich auch aus eigener Anschauung und eigenem Erleben gelungen sein dürfte. Sie durchdringen die spezifischen Bedeutungen, die das Monarchische gerade in Bayern hat, die können glaubwürdig vermitteln, warum ein Familienbetrieb wie der beschriebene so wichtig und so identitätsprägend ist, wie er im Roman dargestellt wird. So entsteht bei aller Kritik doch ein weites Panorama deutscher Geschichte aus bayrischer Sicht, betrachtet durch das Brennglas einer Familiengeschichte, das zur Erklärung dieses Landes und seiner Entwicklungen durchaus beiträgt.

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