CITY ON FIRE (Don Winslow)
Don Winslow bietet den fulminanten Auftakt zur Abschluss-Trilogie seiner Laufbahn als Schriftsteller
Ist es möglich, heutzutage noch einen originellen Gangsterroman, überhaupt eine originelle Gangstergeschichte zu erzählen, ganz gleich, ob in einem Roman oder in einem Film? Wahrscheinlich nicht. Zu sehr sind die Autoren solcher Geschichten, aber auch die Rezipienten derselben von den medialen Vorbildern geprägt. Angefangen bei den klassischen Hollywood-Gangstern, die von Edward G. Robinson, Jimmy Cagney, George Raft oder Humphrey Bogart in den 30er und 40er Jahren zumeist für Warner Bros. gespielt wurden, über die ebenso harten wie melancholischen Gelegenheitsverbrecher des Film Noir, bis zu den einerseits realistischeren, zugleich aber noch stärker ins Mythische überhöhten Gangsterfiguren der 70er Jahre – Prototyp dafür ist natürlich Marlon Brando als Don Corleone in Coppolas THE GODFATHER (1972) – und der 80er und 90er Jahre, in denen vor allem Brian De Palma mit SCARFACE (1983) und Martin Scorsese mit Filmen wie GOODFELLAS (1990) und CASINO (1995) das Bild des organisierten Verbrechens prägten, gab es immer ein Wechselspiel zwischen den realen Figuren und ihren medialen Abziehbildern. Männer wie Al Capone, das ist bekannt, mochten die Art und Weise, wie sie auf der Leinwand dargestellt wurden. Und am Set zu THE GODFATHER wachte die Mafia höchstpersönlich darüber, dass das Bild, welches von ihr gezeichnet wurde, den realen Bossen auch gefiel. Unter den harten Jungs der Streetgangs der 80er und 90er Jahre war Tony Montana, die Figur, die Al Pacino in SCARFACE spielte, ein wirkliches Role Model. Es scheint also kein Entkommen zu geben aus dem Kreislauf der Klischees, die gerade im Gangster-Genre kursieren.
Zugleich aber lässt sich – gerade in den USA – kaum ein Genre (vielleicht noch der Western, der, ebenfalls schon häufig totgesagt, immer wieder aufersteht und sich neu erfindet) finden, das einerseits antik anmutende Tragödien und Dramen und zugleich messerscharfe Analysen der Gegenwart zu bieten hat. Coppolas THE GODFATHER – in vielerlei Hinsicht so etwas wie der Prototyp des (post)modernen Gangsterfilms – ist eng an Shakespeares HENRY IV. angelehnt und erzählt, wie dieses Königsdrama, von Treue und Verrat, von Loyalität, von Ordnung und von der Frage, wie ein Herrscher seine Macht konsolidiert und verwaltet. Und zugleich ist es eine Interpretation der amerikanischen Geschichte und der amerikanischen Gesellschaft, die auf Gewalt baut, auf Raub – Landraub, Lebensraub, Vermögensraub – und darauf, sich Macht zu erkämpfen und zu sichern. Um jeden Preis.
Was also läge näher als das Gangstergenre, wenn man über die amerikanische Wirklichkeit nach 2016 nachdenken und berichten will? Warum 2016? Weil in diesem Jahr mit Donald Trump ein Mann nach dem höchsten, weil mächtigsten Amt griff, welches die Welt zu vergeben hat – das des amerikanischen Präsidenten –, der nicht nur ganz real mit wirklichen Mitgliedern der Mafia zu tun hatte, als er in den 80er Jahren zu einem der führenden Immobilienmoguln in New York aufstieg, sondern dem diese Typen offenbar derart imponiert haben, dass er sich seither nicht scheut, ihren Stil in jederlei Hinsicht zu imitieren. Trump betrachtet das Amt – und damit das Land – als eine Art persönlichen Besitz, den es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt. Recht und Gesetz sieht er für sich als unerheblich an, Loyalität und persönliche Ergebenheit sind die Währung, auf die es ihm und den seinen – scheinbar – ankommt. Allerdings – auch darin ganz Mobster – gilt dies meist nur in eine, nämlich seine, Richtung. Wenn es passt, lässt Trump ihm treu Ergebene gerne auch einmal fallen und wirft sie den Hunden – sprich: den Medien, der Justiz, dem politischen Gegner – zum Fraß vor.
Don Winslow, der sich spätestens mit der dreiteiligen Saga um die mittelamerikanischen und mexikanischen Drogenkartelle und die Versuche der DEA (Drug Enforcement Administration), diese zu bekämpfen, in die erste Riege der amerikanischen Thriller-Autoren katapultiert hat, lässt die Welt seit mehreren Jahren wissen, dass er seine schriftstellerische Karriere aufzugeben gedenkt, um sich ab nun dem Kampf gegen Trump und den Trumpismus zu widmen. Eine letzte Trilogie – die sogenannte Danny-Ryan-Trilogie – soll sein literarisches Vermächtnis werden. CITY ON FIRE (2022), der erste Teil der Serie, macht den ebenso fulminanten wie actionreichen Auftakt. Und schnell ist man wieder bei den ersten Sätzen dieses Textes: Kann man heutzutage noch eine originelle Gangstergeschichte erzählen? Oder kann es eigentlich nur noch darum gehen, die längst bekannten Versatzstücke, bekannt aus etlichen Romanen, mehr noch aber aus den weiter oben erwähnten Filmen, so zu arrangieren, dass etwas Neues, Originelles, zumindest Spannendes, ein überzeugendes Pastiche daraus entsteht?
Winslow ist viel zu intelligent und viel zu belesen, als dass er nicht sehr genau um eben diese Fragen, um die Fallstricke der Wiederholung, mehr noch um jene der Klischees wüsste. Und so setzt er seiner Geschichte Auszüge aus Homers ILIAS voran, womit einerseits die Fallhöhe markiert ist, andererseits etwaige Interpretationsmuster vorgegeben sind. Die Winslow dann aber genüsslich unterläuft. Er nutzt Klischees und walzt sie teils aus, doch gelingt es auch immer wieder, Umwege einzuschlagen, neue Strecken, die die Klischees dann außer Kraft setzen, sie zumindest unterlaufen und als solche entlarven.
Im Grunde – der Verweis auf die ILIAS verdeutlicht es ja schon – geht es um eine Frau, deren Schönheit so arg ist, dass sie den Vertretern unterschiedlicher Gangsterbanden – Italiener und Iren, die sich die Provinzstadt Providence, Rhode Island, untereinander aufgeteilt haben – derart die Köpfe verdreht, dass sie einen Bandenkrieg beginnen. Tatsächlich ist die Frau namens Pam natürlich nur ein Vorwand, um schon lang herrschende Gelüste, in die Macht- und Geschäftsbereiche der jeweils anderen Gang vorzudringen, zu befriedigen. Und so bricht eine Auseinandersetzung aus, die etliche Opfer fordert und an deren Ende nichts mehr ist, wie es an einem herrlichen Sommertag zu Beginn des Romans anfing. Danny Ryan, der im Laufe der drei Romane zu Reichtum und ungewolltem Ruhm aufsteigen wird, ist hier, im ersten Teil der Saga, noch ein Mitläufer, lediglich dadurch aus dem Meer der Handlanger der Bosse herausgehoben, weil er eine Tochter des Chefs geheiratet hat und mit dessen ältestem Sohn, Pat, seit Schulzeiten befreundet ist. Mehr noch: Die beiden sind wie Brüder. Auch das alles sind natürlich schon Klischees. Danny, Pat und ihre Widersacher auf italienischer Seite wissen, wie sie sich zu verhalten haben, was sie zu tun haben, weil auch sie all die Filme kennen, die diesen Klischees einst zugrunde lagen. Lediglich Liam, Pats jüngerer Bruder, schlägt über die Stränge und löst dadurch den Krieg aus, dass er seine Finger nicht bei sich behalten kann und eben jene Pam begrabscht, die mit einem der führenden Italiener liiert ist.
Doch gerade auch Liam ist ein wandelndes Klischee, erinnert er doch ein wenig an Fredo, einen der Söhne des Corleone-Clans in Mario Puzos GODFATHER-Saga, die dann zur Vorlage für Coppolas Filme wurde. Der fühlte sich grundlegend zurückgesetzt, kann nie die Erwartungen der Familie erfüllen und wird schließlich zum Verräter, was ihn schlussendlich das Leben kostet. Gerichtet durch den eigenen Bruder. So weit gehen die Vertreter der irischen Familie in Winslows Geschichte nicht, doch Danny Ryan könnte sich gut vorstellen, Liam in den Orkus zu schicken, gefährdet der doch ein prekär austariertes System, das sich seit langem in der Stadt etabliert hat. Ryan seinerseits erinnert an einige Handlanger-Figuren aus den Filmen Martin Scorseses, aber auch an jene, die man aus Romanen von Dennis Lehane kennt, der ebenfalls zu den Chronisten der amerikanischen Wirklichkeit unter den verschärften Bedingungen des organisierten Verbrechens gehört. Winslow siedelt seine Geschichte auch stilistisch irgendwo zwischen Lehane und dem West-Coast-Kollegen James Ellroy an.
Von Letzterem entlehnt Winslow den fast telegrammartigen Kurzprosa-Stil, ohne es dabei allerdings ganz so weit zu treiben, wie es bei Ellroy mittlerweile Usus ist. Dennoch wirkt Winslows Story oft gehetzt, was wiederum den Empfindungen der wesentlichen Protagonisten entsprechen dürfte. Es dauert ein wenig, bis die Geschichte ins Rollen kommt, die ersten 50, 60 Seiten fließen noch ein wenig behäbig dahin, den Leser*innen werden eine Menge Personen und deren Geschichten nahegebracht. Doch dann zieht Winslow das Tempo an, die Sache kommt ins Rollen und wir befinden uns mitten in einem spannenden und recht rasanten Bandenkrieg zwischen der italienischen Mafia und irischen Gangstern. Dabei wird schnell deutlich, dass es zwar oberflächlich betrachtet um eine Frau geht und wir es also – gemessen am Trojanischen Krieg – mit einem antik anmutenden Drama, einer Tragödie gar, zu tun haben, doch darunter schlummern eben knallharte ökonomische Interessen. Die Italiener kontrollieren das Glücksspiel und die Prostitution, die Iren vor allem den Hafen, was soviel bedeutet wie: Sie kontrollieren die Gewerkschaften. Interessenkonflikte, Marktanteile, Macht, auch politische Macht – das sind die Dinge, die hier wirklich verhandelt werden. Und der einzelne wird zwischen den waltenden Kräften zerrieben.
Winslow erzählt angemessen dramatisch, doch durchaus auch episch, manchmal weite Zeitstrecken in wenigen Absätzen überspringend davon, wie Danny Ryan, der Mitläufer, mehr und mehr zu dem Danny wird, der als einer der wenigen noch den Überblick bewahrt – und überlebt. Und damit mehr und mehr in die Rolle des neuen Chefs hineinwächst, eine Rolle, die er dann in den Folgeromanen der Trilogie ausfüllen wird. Danny will vor allem seine Familie – seine Frau, die an Krebs erkrankt und schließlich nicht mehr zu retten sein wird, und seinem neugeborenen Sohn Ian – aus der Schusslinie bringen, wozu er sogar den Kontakt zu seiner Mutter zulässt, die ihn einst im Kindesalter verlassen hatte und nun plötzlich, zu Reichtum, Macht und Einfluss gekommen, wie ein Deus ex Machina wieder auftaucht und Danny zur Seite steht.
Nichts von alldem ist den Leser*innen unbekannt, aber Winslow findet doch einen Dreh, die Einzelteile seiner Story so zusammenzusetzen, dass daraus zumindest ein spannender und in Teilen auch recht origineller Plot entsteht. Da es der Auftakt seiner Geschichte ist, sollte man dies vielleicht auch genau so lesen: Als Beginn. Hier werden die Figuren eingeführt, die Fährten ausgelegt und die Spannungsbögen aufgebaut. Die Folgebände werden das Publikum dann zunächst an die Westküste führen und schließlich, im Abschlussband, in die heiße Wüste von Las Vegas, wo die Geschichte des Danny Ryan kulminieren und zu einem Abschluss kommen wird.
Als Auftakt einer Serie ist CITY ON FIRE (der Titel ist ein wenig verwirrend, gab es vor einigen Jahren doch ein gleich betiteltes Werk von Garth Risk Hallberg) ein durchaus gelungener Thriller, der die Erwartungen insofern erfüllt, als dass er eben exakt das bietet, was sich Leser*innen von einem Werk wie diesem erhoffen mögen. Die Figuren sind interessant genug, dass man ihrem Schicksal folgen will, der Plot verspricht gute Wendungen und bietet einige Höhepunkte, wodurch die Spannung hochgehalten wird. Zunächst also genau das, was ein Genrewerk bieten sollte.