DAS JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER/LE BANQUET ANNUEL DE LA CONFRÉRIE DES FOSSOYEURS

Mathias Énard besucht die Provinz und findet dort den Urgrund allen Seins

Die sogenannten „schwierigen“, weil anspruchsvollen Bücher verführen ja dazu, ihnen gute bis sehr gute Rezensionen zukommen zu lassen, allein weil man es geschafft hat, sie zu lesen und – zumindest rudimentär – zu verstehen. Man sollte widerstehen und trotz aller Begeisterung über sich selbst sehr genau darüber nachdenken, was ein solches Buch einem gegeben hat, was daran denn nun eigentlich „gut“ war und ob man in den allgemeinen Chor der Begeisterten einstimmen will – und soll.

Nun haben es die „schwierigen“ Bücher natürlich auch so an sich, daß sie selten einfach nur „gut“ oder nur „schlecht“ sind, sondern meist in Grauzonen fallen, wo Vieles zusammenkommen muß – das Thema, der Stil, die eigene Verfasstheit während der Lektüre, innere Zustimmung oder gar Abneigung. Und so muß man vielleicht umso genauer überlegen, wie man ein „schwieriges“ Buch denn nun bewerten will.

Also sei dieser Einstieg in eine Besprechung von Mathias Énards jüngstem Roman DAS JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER (LE BANQUET ANNUEL DE LA CONFRÉRIE DES FOSSOYEURS; Original erschienen 2020; Dt. 2021) gewählt: Wie meist beim französischen Autor Mathias Énard, hat man es auch hier mit einem schwierigen, weil außerordentlich gelehrten Buch zu tun. Einem Roman, der inhaltlich wie formal und stilistisch – wie eigentlich ebenfalls immer bei diesem Autor – fordernd ist, den Leser anstrengt, ihm viel abverlangt.

Der Weltbürger Énard, Kenner der arabischen Welt und ihrer Sprachen, der sich in seinen Werken häufig mit dem Zusammentreffen – und auch dem Zusammenprall – der muslimischen und der jüdisch-christlich geprägten Kultur beschäftigt hat, kehrt nach Frankreich zurück. Genauer gesagt kehrt Énard in die französische Provinz zurück. Und untersucht eine Entwicklung, die in der (west)europäischen Kultur und auch in der (west)europäischen Literatur seit geraumer Zeit festzustellen ist: Den Trend zum Landleben, respektive den Gegensatz von Land, ländlicher Region, und urbaner Prägung.

Da Énard selbst in Niort, im Département Deux-Sèvres, geboren wurde und aufwuchs, liegt es also nahe, daß er den Protagonisten seines Romans, den angehenden Anthropologen David Mazon, nicht weit von Niort in einem kleinen Dorf einkehren lässt, um hier seine Dissertation zu schreiben – eine Art Feldstudie des ländlichen Lebens zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dank der Beziehung zum Bürgermeister der Gemeinde La-Pierre-Saint-Christophe, der zugleich das Amt des lokalen Leichenbestatters und Totengräbers bekleidet, und auch zu seiner Vermieterin, gelingt es Mazon schnell, an die benötigten Interviews zu kommen, die er mit den Einheimischen führen will, um durch ihre Auswertung an die geforderten Daten zu gelangen, die er für seine Studie braucht. Ebenso schnell ist er allerdings auch in die Runde der Pichler und Kartenspieler im Café eingemeindet, bändelt mit der jungen Lucie an, die verzweifelt versucht, eine biologische Landwirtschaft aufzubauen, und er freundet sich auch schnell mit dem Künstler Max an, der wie Mazon selbst aus Paris stammt, sich dort aber verkannt fühlte und sich nun im selbstgewählten Exil in der Provinz aufhält. Zudem erliegt Mazon schnell den Reizen dieser scheinbar unscheinbaren Landschaft, ihren verträumten Weilern, dem Moor, der Abgeschiedenheit.

Zunächst lernen wir David Mazon anhand des von ihm verfassten Tagebuchs kennen, das er parallel zu seiner Doktorarbeit zu schreiben beschlossen hat. So erleben wir sein Staunen ob der Freundlichkeit der Einwohner, erleben aber auch – ungeschminkt – seine Eitelkeit hinsichtlich seines zukünftigen wissenschaftlichen Status´, spüren sein Fremdeln mit einem Leben, bei dem die Natur immer sehr nah ist; manchmal zu nah, wenn er bspw. sein Badezimmer mit einem Gewimmel unidentifizierbarer roter Würmer teilen muß, in seiner Behausung zudem einige Schnecken leben und er diese außerdem mit zwei Katzen teilen muß, die ihn adoptiert zu haben scheinen. Ohne dies zu wollen, offenbart Mazon all die kleinen Neurosen des verwöhnten Städters. Denn sein Ekel ist nicht auf seine Mitbewohner begrenzt, sondern erstreckt sich durchaus auch auf einige der lokalen Leckereien, die man ihm kredenzt. Um die Contenance zu wahren, erinnert er sich gern an die Größen seiner Zunft – allen voran Claude Lévi-Strauss, nach dessen Buch DAS WILDE DENKEN er seine Wohnung benennt – , die unter ganz anderen Bedingungen in Dschungeln und Wüsten, auf fernen Kontinenten abgelegene Archipel erforscht haben.

Énard lässt es sich nicht nehmen, uns diesen David Mazon durchaus als eine etwas lächerliche Figur zu zeigen, als einen Mann, der in seiner Selbstbezogenheit, in seiner Egozentrik, zunächst keinen wirklichen Zugang zu seinen Forschungsobjekten findet. Das allerdings soll sich im Laufe der Zeit, also des Romans, ändern. Allerdings ändert sich auch Mazons Verhältnis zu sich selbst und seiner Arbeit. Ganz nebenbei berichtet Énard hier auch vom Scheitern an den Bedingungen und Ansprüchen der akademischen Welt. Denn zusehends gibt Mazon sein Forschungsunternehmen auf und beginnt, Teil seiner Umgebung zu werden, er engagiert sich, er ist kein Beobachter mehr.

Doch Énard wäre so oder so nicht Énard, wenn er es dabei bewenden ließe. Sobald wir uns also an diesen David Mazon gewöhnt, ihn ein wenig kennengelernt und auch ein wenig verstanden haben, emanzipieren sich Autor und Roman von der einmal eingeschlagenen Richtung, lassen die Tagebuchform hinter sich, und brechen in ein wildes Durcheinander aus Erzählung, Einsprengseln und Allegorien auf. Wahrlich „wildes Denken“ – und wildes Schreiben. Zwischen die einzelnen Abschnitte (oder Kapitel, wenn man so will) des Buchs, werden „Chansons“ eingeschoben, deren Originaltexte im Anhang nachgeliefert werden, die Énard jedoch umschreibt, bearbeitet, sich zu eigen macht, um mit ihnen und durch sie Geschichte, Historie, und die Formen ihrer Vermittlung zu vermitteln. Er scheut sich dabei nicht, sie massiv umzuschreiben, ihnen Bedeutungen einzuschreiben, die die Originaltexte nicht zwingend ergeben und die teilweise schwer zu ertragen sind. Denn die Geschichte Frankreichs ist eben auch eine blutige und nicht immer leicht zu verdauende.

Der Roman DAS JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER selbst jedoch ist nicht einzuhegen, er bricht auf, dem Leser das Universum einer/der Provinz zu eröffnen und es zu ergründen. Kultur ist überall und selbst die scheinbar ödeste Gegend bietet sie, wenn man sie sucht. Und alles hängt mit allem zusammen. Genau diese (im Grunde postmoderne) Annahme macht sich Énard zunutze, indem er den Leser in ein schier unendliches Labyrinth von Bezügen, über Generationen sich fortsetzende Geschichten und Zusammenhänge führt, aus dem es kein Entrinnen mehr zu geben scheint und das, daran lässt dieser Roman keinen Zweifel, sich auch weit über diesen Text hinaus fortsetzen könnte. Denn in der Provinz findet Énard den Mythos, der eine Gesellschaft grundiert, ihr Selbstgewißheit gibt. Und er findet und begreift den Mythos des Lebens als ewiger Kreislauf, den Mythos der Wiedergeburt, wodurch die Seele einer Gegend, eines Landstrichs, durch etliche Seelen, die wieder und wieder – in anderen Menschen, durch alle Zeiten, in Steinen, Wildschweinen, roten Würmern oder Bettwanzen (und etlichen anderen Möglichkeiten) – das Licht der Welt erblicken, weitergegeben wird.

Énard, der in seinem Roman KOMPASS (BOUSSOLE; 2015) ungeheuer empathisch, gelehrt und vor allem sehr, sehr hintersinnig davon zu erzählen wusste, wie sich Orient und Okzident spiegeln, ja, wie sehr das eine auch eine Erfindung des andern ist, eine Projektion, nutzt auch hier, im JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER, ein religiöses Motiv, den Buddhismus und seine Lehre der Reinkarnation im ewigen Rad des Lebens, bis die einzelne Seele sich schließlich nach getaner Karma-Arbeit ins Nirwana zurückziehen darf. Anders, als dies in KOMPASS der Fall war, erschließt sich dem Leser der tiefere Sinn dieses Manövers hier allerdings nicht. Zumindest nicht im literarischen Sinne. Vielmehr – und damit beginnt dann auch die Kritik an Énards Roman – scheint dies ein rein technischer Kniff zu sein. Denn er erlaubt dem Autor, bei nahezu jeder Figur, die im Roman auftritt, eine ellenlange Genealogie der Reinkarnationen zu liefern, womit es ihm eben auch erlaubt ist, Geschehnisse und Figuren zueinander in Bezug zu setzen, über Zeiten und Grenzen hinweg. Das ist reizvoll, keine Frage, wirkt aber häufig allzu willkürlich und auch nicht immer ganz ernsthaft. Allerdings, auch das sei natürlich erwähnt und betont, ist dieser Roman durch den Humor geprägt, sehr viel stärker, als es frühere Werke Énards waren. Eine gewisse distanzierende Ironie gegenüber seinem Sujet kann sich Énard offenbar nicht verkneifen. Eher unangenehmer Nebeneffekt dieses literarischen Konstrukts ist die Tatsache, daß die einzelnen Charaktere keine wirkliche Tiefe erreichen, eher oberflächlich, fast funktional, bleiben.

Es mag sein, daß Émard zunächst an einem ähnlichen Punkt gestartet ist, wie eine Dörte Hansen in ALTES LAND (2015) oder auch Juli Zeh in UNTERLEUTEN (2016), um die beiden wesentlichen deutschen Beiträge zur Literatur des Gegensatzes Stadt/Land der letzten Jahre zu nennen, vielleicht hatte er sogar gehofft, auf Vergleichbares zu stoßen, doch definitiv findet er anderes, gräbt tiefer, durchdringt vor allem die Geschichte des Landes sehr viel stärker und genauer. So findet Énard Legenden, Sagen, Mythen – er kann anhand dieser die Struktur offenlegen, die die Grundbasis einer Gesellschaft ausmacht. Wie einst ein Lévi-Strauss, bewegt sich Énard in der erweiterten Methodik des Strukturalismus. Und bedient sich dafür, genau, um diese Struktur zu greifen und literarisch erfahrbar zu machen, eben des buddhistischen Konzepts der Reinkarnationslehre. Vielleicht schreibt er seiner Geschichte, seinem Roman, damit eine noch weiterreichende strukturelle Erkenntnis ein, eine Ebene, die sich dann nur noch jenen erschließt, die sich in den vergleichenden Religionswissenschaften wirklich auskennen – dem gemeinen Leser erschließt sich dieser Kniff nicht wirklich, er wirkt allzu gefällig und nicht immanent.

Das führt zu einem Kritikpunkt, der vielleicht schwerer wiegt: Man wird das Gefühl nicht los, daß Énard hier zunächst eine Theorie hatte, ein theoretisches Gerüst, um das er dann eine Story herumbaut. Das erinnert gelegentlich an postmoderne Autoren wie Thomas Pynchon, Don DeLillo, Howard Jacobson oder auch Dietmar Dath. Die Meta-Konstruktion erscheint wichtiger, als die (nicht immer stimmige) Psychologie der Figuren. Eine spannende, auch dramaturgisch packende Geschichte gibt es nicht, eher reihen sich passend eingefügte Anekdoten und Ereignisse aneinander. Einiges, was die Handlung vorantreiben würde, wird ausgelassen, anderes betont, wodurch der Erzählfluß eher beeinträchtigt wird oder gar zum Erliegen kommt. Die Assoziationen – gerade jene, die durch die Beschreibungen der Reinkarnationsketten entstehen – lassen Erzählstränge abreißen, die manchmal gar nicht mehr, manchmal sehr viel später wieder aufgegriffen werden.

Énard ist allerdings ein Meister der Konstruktion und der Komposition, wie es vor allem sein interpunktionsbefreiter Roman ZONE (2008) bewiesen hat. Und er hat ein Grundthema, das sich sowohl im Titel des Romans, als auch in der Idee, Reinkarnation und das „Rad des Lebens“ als starkes Motiv einzuführen, bemerkbar macht. Es ist schlicht der Tod. Die Jahreszeiten als Vergehen und Auferstehen. Der Kreislauf des Lebens. Es ist der Mythos des ewigen Lebens, das sich immer und immerzu selbst befruchtet und durch sich selbst genährt wird. Denn selbst, wer das Zeitliche segnet, kehrt als Staub und zuvor als Nahrung für all die kleinen und kleinsten Lebewesen, die so wesentlich sind für den Kreislauf der Natur, in diese Kette, diesen Kreislauf, zurück. Und eine solche Einstellung zum Tode findet man sicherlich sehr viel eher auf dem Land, in der Provinz, wo auch das alltägliche Leben noch sehr viel stärker an den Kreislauf der Jahreszeiten gebunden ist und von diesem bestimmt wird, als dies in den Städten und Zentren der Fall ist. Énard schreibt dem Tod allerdings auch etwas Mystisches ein. Er umarmt ihn, nimmt ihm den Schrecken und setzt ihn unter die Lebenden.

Der Mittelteil des Romans, der den Titel des Buchs aufgreift, erzählt von jenem Jahresbankett der Totengräber. Es ist eine Feier des Lebens. Allein die Aufzählung der Speisen, die an diesem Abend verzehrt werden, ist die Lektüre wert. Wenn man Essen – als Substantiv oder Verb – als etwas Vitales betrachtet, als symbolischen Akt der Lebensbejahung, dann wird hier das Leben auf eine Weise bejaht, wie es selten vorkommt in der Literatur. Man denkt automatisch an Marco Ferreris Kultfilm DAS GROSSE FRESSEN (LA GRANDE BOUFFE/1973) aus den 70er Jahren und erkennt dann doch ebenso schnell den Unterschied. Denn wurde das Essen bei Ferreri zu einem Symbol der Dekadenz, ist es hier, bei Énard, genau das Gegenteil: Ein Akt der Einverleibung, die immer auch ein Mehr an Leben verspricht. „Unsterblich“ seien die Totengräber und ihre erste, wenn nicht einzige Geliebte die „Gevatterin Tod“. Und diese Gevatterin ist eben auch die Verbündete dieser Männer, deren erster Tagesordnungspunkt, den es auf ihrem Jahrestreffen zu besprechen gilt, die zukünftige Aufnahme von Frauen in ihren erhabenen Zirkel ist. Nachdem dieser Punkt geklärt scheint, wendet man sich dem Essen zu, das von Geschichten begleitet wird. Geschichten, die den Tod wieder und wieder in den schönsten Farben malt, als etwas Märchenhaftes. Es sind Geschichten voller verstohlener Erotik, womit die Nähe des Essens zu Sexualität markiert ist, es sind aber auch Geschichten vom Kreislauf des Lebens, von der Erhabenheit des Vergehens und der Wiederkunft, die, wie so Vieles in diesem Roman (und in den Romanen von Énard eigentlich immer) einen religiösen (oder theologischen?) Grund haben.

Man muß wissen, ob man sich auf solch einen Roman wirklich einlassen will. Es ist ein wilder Roman, ein Buch, das fordert, das aber auch ungeheuren Bildungswillen und Wissensdurst vermittelt und spiegelt. Énard gibt den konventionellen Erzählstil preis und verführt den Leser seinen Episoden und Entdeckungen zu folgen. Daß dafür dann die Figurenzeichnung, ihre Psychologie, leidet, daß die Protagonisten hinter der Idee zurückstecken müssen, daß hier das Konzept über Inhalt und Story steht, all das muß man in Kauf nehmen. Und auch, daß es Énard auch schon besser gelungen ist, diese Konstruktion, diese Hierarchie, zu kaschieren, bzw. in einem Konzept aufgehen zu lassen.

DAS JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER sticht sicher immer noch aus der Masse jener Romane heraus, die den Gegensatz, den Widerspruch zwischen der Stadt (die hier als Symbol der Moderne eigentlich nur als Erinnerung und in Form regelmäßiger Videochats mit der Freundin vorkommt) und dem Land thematisieren. Eben weil Énard so viel genauer hinschaut, sich so viel eindringlicher darauf einlässt, was in der Geschichte des Landes zutage tritt, wenn man nur tief genug gräbt, kann er überzeugen. Aber er erwartet viel von seinen Lesern. Sehr viel. Andererseits: Warum nicht?

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