DER DISTELFINK/THE GOLDFINCH

Donna Tartts hochgelobter und viel gelesener Schmöker erweist sich als Mogelpackung

Da hat der aufgeschlossene Rezipient nach 1022 Seiten – Wochen des Lesens – diesen gewaltigen Roman, DER DISTELFINK (THE GOLDFINCH, 2013; Dt. 2014), beendet, den Deckel geschlossen und sitzt nun da und fragt sich: Was war denn das? Das ist doch eigentlich ein Buch, wie es gefallen sollte, ein echter Pageturner, ein ‚Sucker‘, ein Werk, das die Nächte durchwachen, den Schlaf vergessen lässt, um bloß die nächste Zeile, die nächste Seite, das kommende Kapitel zu erreichen, weiterweiterweiter, nicht nachlassen, denn diese Geschichte…

…ach, wenn es doch bloß so wäre…

Das dritte Werk der Bestsellerautorin Donna Tartt, hochgelobt von der amerikanischen, der britischen und auch der hiesigen Kritik, wurde als genau das angekündigt, was oben beschrieben wurde – als Pageturner. Und genau so kommt das Buch zunächst auch daher: Tausend Seiten einer epischen Geschichte, die uns, ausgebreitet über Jahrzehnte, von Verlust und Trauer, vom Erwachsenwerden und den damit verbundenen Ängsten, von der Kunst und der Kunst des Lebens erzählt, die uns liebenswert skurrile und verachtenswert verkommene Figuren präsentiert, ein Geheimnis, verschiedene aufregende Schauplätze, Abhandlungen über das Gute und das Böse, über das Kunstwerk in den Zeiten seiner Reproduzierbarkeit, dazu Action, Räusche, Emotionen undundund…und dennoch zündet das Ganze nicht. Warum bloß?

Theo Decker erzählt uns aus seiner Perspektive, wie er als 12jähriger eine Bombenexplosion im MET, dem Metropolitan Museum of Art in New York, überlebt, bei der jedoch seine Mutter stirbt und er selbst einem alten Mann beisteht, bis auch dieser in den Trümmern sein Leben aushaucht, nicht jedoch ohne Theo zuvor einen alten Siegelring anvertraut zu haben. Den nimmt Theo an sich, so wie er auch das Gemälde Der Distelfink an sich nimmt, welches seine Mutter ihm an diesem Morgen hatte zeigen wollen. Theos Vater hat sich ein Jahr, bevor die Handlung einsetzt, aus dem Staub gemacht, so dass der Junge zunächst bei seinem besten Freund Andy, Spross einer vornehmen Familie an der Upper West Side, unterkommt, die ihn fast wie einen Sohn aufnimmt. Doch sein Vater – ein Spieler, Trinker, gescheiterter Schauspieler – taucht eines Tages auf und nimmt ihn mit nach Las Vegas, wo er zunächst einige Jahre verbringt, die er mehr oder weniger im Drogen-, Tabletten- und Alkoholrausch durchlebt, in denen er aber auch Boris – selbst der verlorene Sohn eines ukrainischen Bergbauingenieurs – kennenlernt und als Freund gewinnt. Als auch sein Vater bei einem Unfall (oder Selbstmord?) umkommt, macht sich Theo auf eigene Faust auf nach New York City, immer das wertvolle Gemälde und seinen Hund Popschick im Gepäck. In New York findet er Unterschlupf bei seinem Freund Hobie, ein Restaurator antiker Möbel, zu dem ihn einst der Siegelring des sterbenden alten Mannes geführt hatte. Hier erlernt Theo das Handwerk der Restauration ebenso, wie er sich autodidaktisch das Handwerk des Geschäfts- und Kaufmannes beibringt. Und so erzählt er uns davon, wie er erwachsen wurde, wie er Pippa liebt und Kitsey zu heiraten gedenkt, wie Boris ihm ein fürchterliches Geheimnis offenbart und sie gemeinsam versuchen, in Ordnung zu bringen, was kaum mehr in Ordnung zu bringen ist und schließlich erfahren wir von der großen Läuterung in Theos Leben…

Donna Tartt – immer noch so etwas wie ein literarisches Geheimnis – legt, wie oben schon erwähnt, mit DER DISTELFINK gerade mal den dritten Roman in ebenso vielen Dekaden vor. Dass sie als ein Wunderkind der anspruchsvollen Belletristik betrachtet wird, kann man anhand ihres Debuts DIE GEHEIME GESCHICHTE durchaus nachvollziehen, war dieser Psychothriller damals doch wirklich ein großes Versprechen auf eine großartige literarische Karriere. Hier aber, im DISTELFINK, wird allzu offensichtlich, wo die Wurzeln der Autorin liegen – bei den Klassikern – und die Konstruktion ergötzt sich streckenweise derart an sich selbst, daß man sich in einem literarischen Selbstbedienungsladen wähnt. Da werden Dickens‘ OLIVER TWIST und auch DAVID COPPERFIELD zitiert, da steht zeitweilig Eichendorffs AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS Pate, Dostojewskijs DER IDIOT dient als Vorlage und Benjamins Essay über DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT wird gerade auf den letzten Zweihundert Seiten scheinbar in einen erzählenden Fließtext überführt.

Der Verweise wären noch einige, es seien nur diese ebenso stilbildenden wie einprägsamsten genannt. Nun ist ja nichts dagegen einzuwenden, sich auf die Schulter der Giganten zu stellen, auch das (postmoderne) Spiel mit Anleihen und Zitaten – auch wenn es im Jahr 2014 schon ein wenig überholt anmutet – ist immer willkommen. Doch sollte es einerseits dann andocken an wirklich packende Geschichte(n), andererseits sollte das, was dann entsteht, schon etwas Eigenes, etwas Originelles sein. Donna Tartt gelingt das aber nicht. Sie will den ganz großen Wurf, den langen Atem, den weiten Blick. Sie entwirft ein Konstrukt, in welchem viel Seltsames geschehen, seltsame Figuren auf-, erstaunliche Wendungen eintreten, doch bleibt das alles meist pure Behauptung. Man liest das, man staunt auch immer mal wieder, doch fällt einem dann beim Nachdenken über das Gelesene meist auf, dass die Figuren eben doch nicht so ausgeklügelt sind, nicht die vorgegebene Tiefe aufweisen, die Geschehnisse sich allzu oft als banal und seltsam belanglos erweisen, die Wendungen wie Hilfskonstruktionen einer Handlung wirken, die lange scheinbar ziellos von einem Schauplatz zum nächsten, von einem Ereignis zum nächsten mäandert.

Es werden eine Reihe gekonnter literarischer Kniffe genutzt, um die Erzählung mal zu strecken, mal zu stauchen, mal zu dehnen, es gelingen der Autorin großartige Dialog-Passagen, ebenso den Intellekt durchaus befeuernde Reflektionen über das Gute, das Schlechte und das Böse, über das Wesen des Leids und des Leidens und die Kunst und deren Wechselwirkung auf das Leben und den Menschen. Nur merkt man beim zweiten Nachdenken ständig, dass es all das schon gegeben hat: Gerade die oft so hochgelobten letzten 50-60 Seiten, die von metaphysischen Betrachtungen nur so strotzen, sind in ein durchaus (auch in der Übersetzung) ebenso schön zu lesendes wie wirksames Wortgeklingel gekleidete Banalitäten. Aus Gutem kann Böses, aus Bösem Gutes entstehen? Aha. Hinzu kommt ein nahezu über 600 Seiten gleichbleibendes Erzähltempo – gemäßigt, nicht zu rasant, immer darauf getrimmt, nicht zu lange an einer Thematik zu verweilen, also immer sich an die Leseerfahrung eines breiten Publikums anschmiegend. Der Roman fordert nichts, er überfordert niemanden und er konfrontiert uns nicht einmal mit etwas wirklich Herausforderndem.

Wie so oft bei den langen, den ganz langen Erzählungen, zumindest den modernen, gegenwärtigen, wäre weniger mehr gewesen. Die ersten 200 Seiten dieses Romans sind eine wirklich gelungene Geschichte darüber, wie ein junger Mensch sich bemüht, mit Verlust und Trauer umzugehen. Die Explosion im Museum – Tartt hat in mehreren Interviews betont, die Zerstörung der Buddhafiguren in Bamiyan durch die Taliban seien der Auslöser für die Grundidee des Werkes gewesen – ist natürlich auch eine Reflektion auf, eine Metapher für den 11. September 2001, den Angriff auf New York und damit auf Amerika. Theos Aufnahme in die Familie seines Freundes Andy und sein Leben in diesen Kreisen ist eine gelungene weil schmerzhaft treffende Darstellung der Upper Class New Yorks und derer Beschädigungen. Hier funktionieren die ansonsten eher im Trivialen verharrenden Figurenzeichnungen, werden wir staunende Zeugen, wie Theo – selber staunend – all die Versehrtheiten hinter der Fassade des kalten Reichtums entdeckt. Wäre es dabei geblieben – man hätte dieses Werk gar nicht genug loben mögen.

Doch spätestens mit dem Auftauchen des trinkenden Vaters und seiner Gespielin Xendra, die beide seltsam unscharf bleiben auf den dann folgenden 300 Seiten, gleitet das Buch in Kolportage ab, die ganze Las-Vegas-Story um Theo und seinen Kumpel Boris wirkt wie ein nie eingehaltenes literarisches Versprechen. Wir kriegen zwei 13-, 14-, 15jährige vorgeführt, die sich jahrelang mit so ziemlich allem zudröhnen, was sich ihnen bietet, von Aufputschmitteln bis zum Heroin, vom durchgehend konsumierten Alkohol ganz zu schweigen; doch nie scheinen diese Jungs wirklich dadurch intensiv berührt oder gar ernsthaft beschädigt. Und so wirken auch diese Passagen wenig zwingend. Weder scheinen diese Kids Probleme in der Schule zu bekommen, noch scheint sich irgendwer für deren Belange zu interessieren, was die beiden natürlich freut, in ihnen jedoch nie irgendein bleibendes Gefühl von Verlassenheit oder der Abstumpfung hinterlässt. Im Grunde, so scheint diese Geschichte uns weißmachen zu wollen, ist sie ein großes Abenteuer, diese Jugend. Doch entsteht dabei eine Art Blase – wir wähnen diese Figuren beschützt, wir bangen nicht um sie. Nicht an dieser Stelle des Romans und im Grunde auch später nicht. Muss das dann Las Vegas sein? Nein, denn gefangen in den Vororten dieser Glitzerstadt, bekommen die Jungs von dem, was die Stadt ausmacht, sowieso nichts mit. Sie könnten in jedem Kaff hocken. Dass Boris zwar einerseits ein mit allen Wassern gewaschener Kerl zu sein scheint, der immerhin schon Wochen auf den Straßen einer ukrainischen Stadt gelebt haben will, zugleich aber keinerlei Interesse an den Verlockungen der Spieler-Metropole zeigt, ist unglaubwürdig. Wie überhaupt sowohl Theos Vater, als auch Boris als Figuren blass bleiben, weil sie letztlich Klischees entsprechen.

So könnte man den Roman Seite für Seite, Absatz für Absatz durchforsten und wird immer wieder auf ähnliche Einwände stoßen. An einem Punkt merkt man dem Werk die Ratlosigkeit der Autorin auch an, wenn sie – im Anschluss erzählerisch durchaus gekonnt verwoben – einen Zeitsprung von acht Jahren einbaut und uns den mittlerweile erwachsenen Theo vorführt, der dann – gefangen in einer unglücklichen Liebesgeschichte, die den ca. zehn Millionen unglücklichen Liebesgeschichten, die man bereits kennt, ebenfalls nichts Neues hinzuzufügen versteht – durch das Wiedersehen mit seinem Freund Boris in eine wilde Räuberpistole verwickelt wird, in der es um den Diebstahl des aus dem Museum entführten Bildes geht, das Theo seit Jahren in seinem Besitz wähnt, wo es doch eigentlich längst…aber es soll nicht zu viel verraten werden. Jedenfalls finden sich die Leser*innen nach ca. 600 Seiten in einem Krimi wieder.

Die Idee, das berühmte Bild des Distelfink als Leitfaden der Erzählung zu nutzen, ist charmant, kann die Autorin daran doch sowohl emotionale Entwicklungen ihres Hauptprotagonisten aufzeigen, Reflektionen auf seine Mutter, auf seinen Werdegang, die Verlorenheit und das Gefangensein in einem Dasein, das wir uns nicht aussuchen können, wie sie ebenso darauf abheben kann, dem Leser lange kunsthistorische und -theoretische Abhandlungen zu bieten. Letzteres dann vor allem im letzten Viertel des Buchs. Überhaupt ist vieles hier charmant, klug und durchdacht. Was dem Leser aber auch alle naslang durch das Werk selbst mitgeteilt wird. Dass Tartt schreiben kann, steht ja vollkommen außer Frage. Es ist eher der Wulst dieses Romans, dieser scheinbar überbordende Inhalt, der heillos überfrachtet wirkt, dann aber eben zu Vieles angeschnitten beiseitelässt, was den Lesegenuss stört.

Gerade bei den vielen Wendungen der Handlung drängt sich der Vergleich mit Dickens geradezu auf und es steht zu befürchten, dass das so auch gewollt und gedacht war. Schnell kommt dann die Überlegung auf, dass man, anstatt dieser immer unglaubwürdigeren und auch zusehends weniger packenden Handlung zu folgen, einfach zum Original greifen könnte. Warum soll man ein Werk lesen, das sich an Dickens orientiert, wenn man in der gleichen Zeit einfach eines von dessen umfangreicheren Werken lesen könnte? Interessanterweise bietet sich gerade bei diesem Vergleich noch ein ganz anderer an: Dickens war in der Lage, selbst ein 1000-Seiten-Werk in relativ kurzer Zeit zu verfassen. Dadurch bleiben seine Erzählungen bei allen manchmal doch arg bemühten Zufällen und Koinzidenzen in sich kohärent. Das hat einmal damit zu tun, dass bei ihm das Szenische so ausgeprägt ist, zum andern aber auch und vor allem an den Figuren, die sich in ihrer karikierenden Skizzenhaftigkeit dem Leser einprägen, manche – Mr. Bubbles, Uriah Heep, Fagin oder the Artful Dodger, um nur einige zu nennen – für ein ganzes literarisches Leben. In dem vorliegenden Werk gibt es diese Figuren nicht. Zumindest nicht in dieser nachhaltigen Einprägsamkeit. Vielleicht liegt das daran, dass es schier unmöglich anmutet, eine in sich geschlossene Erzählung über zehn Jahre aufrecht zu erhalten, wenn man es auf einen realistischen Roman anlegt. Und damit haben wir es hier zu tun. Dies ist kein abstraktes Werk.

Donna Tartt hat also zehn Jahre an diesem Text geschrieben und vielleicht hat dem genau das nicht gut getan. Zu inkohärent, zu uneinheitlich, zu unentschlossen, worauf das alles hinauslaufen soll, die Figuren zwar ausgeprägt, dann aber doch zu harmlos und oberflächlich, hat man es mit einem Konvolut von einem Roman zu tun, der zu viel auf einmal sein will und dabei irgendwann mitten auf halber Strecke sogar anfängt zu langweilen. So bleibt nur das Hoffen auf das nächste Werk, das wohl in zehn Jahren vorliegen könnte. Dieses hier durchmisst von atemberaubend bis atemberaubend öde die ganze Latte literarischer Erfahrung, kann partiell durchaus fesseln, hält aber leider auf die ganze Strecke betrachtet nicht durch. Und wirkt auch schlicht zu anbiedernd, gelegentlich. Dieses Buch sollte mit aller Macht genau der Pageturner werden, als der es angekündigt wurde – und ist gescheitert.

 

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