DER DICHTER DER FAMILIE/L`ÉCRIVAIN DE LA FAMILLE

Grégoire Delacourt berichtet aus dem beschädigten, dem falschen Leben

Wie war das mit dem richtigen Leben im falschen? Édouard feiert Erfolge als Werbetexter, erstaunlich glatt lief sein Aufstieg im Berufsleben. Erst in Brüssel, später in Paris, begleitet er große Kampagnen, gewinnt Preise, verdient eine Menge Geld. Und doch ist er nicht glücklich. Er entstammt der Mittelklasse, kennt keine Not, wohl aber die Kälte eines Elternhauses, das lieblos ist, weil die Liebe sich verflüchtigt hat, verschüttet wurde unter den Ruinen des Lebens, der Entfremdung der Eltern, dem Schmerz des Vaters, den Sehnsüchten der Mutter, die Édouard lange nur „die Geliebte“ nennt. Und schließlich ist da seine stille Sehnsucht, eine Sehnsucht, die aus Kindheitstagen rührt: Wollte er nicht eigentlich Dichter werden? Hatte er nicht Romane schreiben wollen, das Leben erforschen, durchdringen und reflektieren? Und wo sind sie hin, diese Träume?

Grégoire Delacourt, dessen Lebensgeschichte sich in Teilen mit der des erzählenden Protagonisten seines Debutromans DER DICHTER DER FAMILIE (L´ÉCRIVAIN DE LA FAMILLE; 2011; dt. 2017) deckt, lässt diesen Édouard aus einem beschädigten Leben berichten. In kurzen, prägnanten Sätzen, meist beschreibend, selten emotionalisierend, beschreibt Édouard das Leben seiner Familie – der Vater, der in Algerien kämpfte und dort auch tötete und der diese Schande nie verwinden konnte und in Depressionen versinkt, die Mutter, die unter der Verschlossenheit ihres Gatten leidet, die Schwester Claire, die ihre eigenen Träume träumt und doch nur im gleichen Mittelstandsleben endet wie die Eltern, und schließlich der Bruder, der ein kindliches Gemüt bleibt, der die Musik liebt, der „fliegt“, wenn er die Chansons im Radio hört, und der in ein Heim abgeschoben wird, weil die Eltern nicht wissen, wie mit ihm fertigwerden. Und er beschreibt das eigene Leben. In dem ist vieles falsch gelaufen, ohne daß Édouard wüsste, wieso es so gelaufen ist. Er heiratet Monique, ohne sie zu lieben und in eben jenem Moment, in dem er ihr das sagen und gehen will, erklärt sie, sie sei schwanger. So driften die beiden in ein Eheleben ohne Liebe. Er betrügt sie mit einer Vorgesetzten in der Agentur, in der er arbeitet, für die er flüchtig auch etwas empfindet und die ihn letztlich abserviert. Da ist die Sprachlosigkeit in seiner Familie, ein tiefsitzender Schmerz, der immer wieder an die Oberfläche drängt und kaum zu bändigen ist. Und dann ist da dieses Versprechen. Diese Aussicht, ein Dichter zu werden – eine Annahme, die die Familie – seine Eltern, auch die Schwester – einst geäußert haben, nachdem er mit einigen etwas unbeholfenen Dichtereien in der Schule und am Frühstückstisch reüssiert hatte. Lang, lang ist´s her.

Das mutet auf den ersten dieser gerade einmal 236 Seiten leicht grotesk an, zunächst meint man, Delacourt wolle dies alles als Farce erzählen, doch der Schein trügt. Nüchtern deskriptiv ist das, ein Bericht aus dem falschen Leben unter spezifisch französischen Bedingungen. Und mit viel Zeitkolorit gelingt es dem Autor wie nebenbei, einen Abriss der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts im provinziellen und hauptstädtischen Frankreich zu bieten. Zudem vermittelt er ein Gefühl für das verrinnende Leben, dafür, wie man altert, ohne wirklich zu merken, wie die Jahre vergehen und man immer tiefer in einem Alltag verankert ist, den man so nie gewollt hat. Die Wiederholungen des elterlichen Lebens im eigenen, die Trennungen und Entfremdungen, der verborgene Schmerz, die so oft nutzlosen Versuche, zu kommunizieren, irgendwie miteinander ins Gespräch zu kommen und doch immer wieder zu scheitern.

Doch Delacourt hat auch Momente der Hoffnung in petto, zudem blitzt hier und da doch immer wieder auch Humor auf, ein gewisses verhaltenes Lächeln über die Winkelzüge des Lebens, das sprachlich dem entspricht, welches das Foto des Autors im Schutzumschlag auf seinem Gesicht zeigt. Irgendwann beschließt Édouard, doch noch seinen Roman zu schreiben und wir können annehmen, daß wir das Endprodukt dieses Versuchs während der Lektüre in der Hand halten. Und da beschließt er irgendwann, nachdem er uns trotz all des Schmerzes auch einige versöhnliche Momente geboten hat, daß sein Buch mit einem Happyend schließen soll. Das Mädchen, das auf dem Auto saß, auf dem Parkplatz des Pflegeheims, in dem sein immer sprachloserer und schließlich sein Gedächtnis einbüßender Vater untergebracht ist, bietet diese Aussicht auf ein geglücktes Ende, auf einen Fortgang des Lebens, der doch noch die Liebe in Édouards Leben einlässt. Hier endet sein Bericht – irgendwo in der Mitte des Lebens, in der man schon gezeichnet ist und doch noch nicht am Ende, an einem Punkt, wo man noch berechtigte Hoffnung haben kann, die verbleibende Zeit vielleicht doch noch richtig zu verbringen, immer eingedenk der Wunden und Narben, die man mit sich trägt.

Delacourt beschreibt seine Figuren mit viel Liebe, er lässt seinen Ich-Erzähler mit viel Empathie immer wieder die Liebe beschwören, er verlangt die Liebe als letztgültiges Versprechen, als Hoffnung, wohlwissend, das auch sie flüchtig ist, wie das ganze Leben. Und so versuchen sich diese Menschen, die den Roman bevölkern, immer wieder an der Liebe, immer auch bereit, daran zu scheitern.

Der Roman liest sich – gerade ob der sprachlichen Reduktion – scheinbar leicht, doch birgt der Text immer wieder Stolperfallen, Untiefen, Momente, in denen diese Sätze in die Seele des Lesers schneiden, wie ein am Frühstückstisch ausrutschendes Messer in eine Fingerkuppe, aus der dann das Blut hervorquillt, scheinbar unstillbar. Gerade dadurch, daß Delacourt darauf verzichtet, zu dramatisieren, den Leser emotional zu manipulieren, gerade seine Zurückhaltung ist es, die diese Sätze so eindringlich und schmerzhaft machen. Da mag man ihm das Happyend, das man ihm glaubt, welches zugleich aber eben auch wie ein gewolltes Roman-Ende wirkt, worauf der Autor ja auch dezidiert hinweist, wohl verzeihen. Ein wenig aufgesetzt wirkt es dennoch, ein wenig entsteht der Eindruck, daß es hier einer sehr genau nimmt, vor dem Ergebnis zurückschrickt, den Leser aber nicht zu sehr verstören mag. Es ist ein Debutroman, also sollte man mit solchen Marginalien nicht allzu sehr ins Gericht gehen. Denn Grégoire Delacourt trifft in vielem, sehr vielem, sehr genau den Punkt.

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