DIE LUNGENSCHWIMMPROBE/LUNGEFLYTEPRØVEN
Ein gewaltiger Roman, der seine Leser*innen tief in die Welt des Barock einführt
Sieht man einmal von den dunklen Jahren und Jahrhunderten des Mittelalters ab, wird der Barock von Historikern und Kunstwissenschaftlern gern als jenes Zeitalter der Kulturgeschichte Europas betrachtet, welches uns heutigen am fernsten sei. Eine Zeit des Übergangs, eine Epoche, geprägt von Krieg, Tod und Not, gepeinigt von etlichen Plagen und Seuchen. Gottesfurcht wurde von den Kanzeln gepredigt und zugleich griff in der Kunst gleichsam eine Todessehnsucht, eine Todesverehrung um sich, die sicherlich vor allem aus den Dekaden des Dreißigjährigen Krieges abzuleiten war, der Europa, vor allem aber die deutschen Lande verwüstete und nahezu ein Drittel der Bewohner des Landes – oder der Landen – das Leben kostete. In diesen Zeiten – unübersichtlich, roh und gewaltsam – wähnte sich der einfache Mensch in Gottes Hand, dem Schicksal ausgeliefert. Doch entstanden in diesen Zeiten auch schon jene Gedanken und Ideen, die ein Jahrhundert später in voller Blüte stehen sollten. Jenes Jahrhundert, welches, von vielen als „Spätbarock“ bezeichnet, unter dem geläufigeren Namen „Aufklärung“ zu der Epoche werden sollte, die seither das Denken und Handeln zumindest der westlichen Kultur geprägt hat. Der Kampf der Ratio mit dem Glauben brach in den Dekaden nach dem Dreißigjährigen Krieg auf und forderte etliche Opfer, Bauernopfer sozusagen, anhand derer die verschiedenen Seiten die Richtigkeit ihrer Argumente oder auch einfach nur ihre Macht demonstrieren zu können glaubten.
Von einem solchen Fall erzählt der norwegische Romancier Tore Renberg in DIE LUNGENSCHWIMMPROBE (LUNGEFLYTEPRØVEN, 2023; Dt. 2024). Anhand des realen Falls der Anna Voigt, die 1681 beschuldigt wurde, nicht nur Unzucht mit einem Knecht getrieben, sondern willentlich und vorsätzlich ihr neugeborenes Kind mithilfe der eigenen Mutter getötet und im Kräutergarten des Anwesens der Familie verscharrt zu haben. Der Fall zog sich bis Ende des Jahrzehnts hin, es entstand ein regelrechtes Gezerre um diesen Prozess und die Angeklagte. Vater Voigt, ein wenig beliebter, weil nicht-adliger Gutsherr, verpflichtete den Anwalt Christian Thomasius, der im nahen Leipzig residierte und seinerseits daran interessiert war, mit den alten Gewohnheiten und Traditionen nicht nur des Rechts zu brechen. Er wollte ein ordentliches Verfahren, ein auf Vernunft, nicht auf den Moralvorstellungen der Kirche und der Obrigkeit gründendes Verfahren. Denn Kindstötungen waren zu jener Zeit eines der schwersten Vergehen, sie wurden strengstens geahndet und endeten für die betroffenen Frauen meist auf dem Schafott, wo die damals gut ausgelasteten Scharfrichter ihnen die Köpfe vom Rumpf trennten.
Renberg hat die verfügbaren Akten zum Fall, aber auch die Niederschriften Thomasius´, der einer der angesehensten Juristen seiner Zeit, aber auch einer der wesentlichen Frühaufklärer werden sollte, genauestens studiert. Ein per App abrufbarer Anhang zu seinem Roman zeugt von der enormen Fülle des Materials, welches dem Autor als Grundlage für sein Werk gedient hat. Renberg baut diese Studien aber auch offensiv in seinen Text ein. Immer wieder wird der Leser vom Text selbst darauf hingewiesen, es mit einem Roman, also einem fiktionalen Text zu tun zu haben. Dies geschieht hauptsächlich in Abgrenzung zu jenen Teilen im Textkörper, die eindeutig belegbar sind und oftmals durch den einfachen Satz „Das wissen wir“ markiert werden. Wer hier spricht, wird nie näher erläutert; es kann der Autor Renberg sein, es kann auch einfach der Text selbst sein, der sich seiner versichert und den Lesenden dadurch seine Redlichkeit zum Ausdruck bringt.
Wesentlich jedoch ist die Tatsache, dass dies ein Roman ist, der sich seiner Romanhaftigkeit ununterbrochen bewusst zu sein scheint und damit eigentlich alle Voraussetzungen erfüllt, unter „postmodern“ eingeordnet zu werden, dem es aber zugleich nicht darum zu tun ist, einen postmodernen Diskurs über Literatur zu führen – zumindest nicht vordergründig. Vielmehr will dieser Roman als Roman Wirklichkeit vermitteln. Die Wirklichkeit einer lang vergangenen Zeit, der wir uns nur annähern, die wir wahrscheinlich aber nicht werden erfassen können.
Tief denkt sich Renberg als Autor des Romans in die Psychologie der handelnden Figuren hinein, allen voran seinem heimlichen Helden, Thomasius, welcher wesentliche Arbeiten zur frühen Aufklärung beitrug und so u.a. dafür verantwortlich zeichnete, die Strafprozessordnung zu modernisieren, der Folter als Mittel zur Wahrheitsfindung Einhalt zu gebieten und der auch dazu beitrug, die Hexenprozesse in Deutschland zu beenden. Vor allem aber brach er mit scheinbar unbezwingbaren, unwiderlegbaren Wahrheiten der Kirche und machte sich ganz nebenbei um den Nutzen der deutschen Sprache in der Lehre wie in der Kirche verdient. Renberg zeichnet diesen Mann aber nicht nur als edlen Gelehrten, als Philosophen und mutigen Recken wider die kirchliche Macht, sondern auch als Geck, als Stutzer, sich seiner Intelligenz und seiner Sendung voll bewusst; sich seiner Umgebung und den meisten seiner – eben meist kirchlichen – Widersacher geistig, intellektuell überlegen; als einen Mann, der sich unter allen Umständen auf der richtigen Seite der Geschichte verortet.
Als Sohn des nicht minder berühmten Jakob Thomasius, Leiter der Leipziger Universität, aber auch Schuldirektor und -gründer, ein Humanist und als solcher u.a. Lehrer von Gottfried Wilhelm Leibniz, verstand Christian Thomasius sich als „Mann der neuen Zeit“, des „Kommenden“, während sein Vater in seinen Augen ein Mann des „Gestern“ gewesen ist. Thomasius respektierte die Altvorderen und deren Leistung, nicht aber die kopflose Gläubigkeit der christlichen Konfessionen.
Deren Vertreter, im Falle der Anna Voigt vor allem der Theologe Johann Benedikt Carpzov, setzten alles daran, Thomasius´ Wirken Einhalt zu gebieten, 1690 gelang es ihnen, Thomasius soweit zu bezwingen, dass dieser Leipzig verließ und nach Halle übersiedelte. Allerdings – und da schon sieht man, wie romanhafte Fiktion und die historische Wirklichkeit oftmals ihre eigenen Wege beschreiten – mag weniger die Auseinandersetzung um die vermeintliche Kindsmörderin Anna Voigt, als vielmehr der Prozess um den pietistischen Theologen und Pfarrer August Hermann Francke und Thomasius´ wiederholte Angriffe auf die theologische Obrigkeit, sowie auf den sächsischen Adel und dessen Gebaren in politischen, also öffentlichen, und privaten Angelegenheiten für die Vertreibung aus seiner Heimatstadt verantwortlich gewesen sein.
Renberg verweist immer wieder auf Thomasius spätere Werke und sein späteres Wirken, vermag also durchaus zu vermitteln, dass dieser Mann keineswegs auf diesen Prozess zu reduzieren sei. Im Gegenteil. Die meisten Begebenheiten, die ihn für die deutsche Geistesgeschichte so wesentlich machen, fanden erst nach den Begebenheiten der 80er Jahre des 17. Jahrhunderts statt. Doch gelingt es dem Autor, diesen jungen Thomasius so glaubhaft, so wirklich, so authentisch erscheinen zu lassen – auch und gerade durch seine Fehler – dass es nicht schwerfällt, darin schon den Mann zu entdecken, der er später werden sollte. Und so kann der Roman erklären, wie einer der wesentlichen Frühaufklärer in Deutschland möglicherweise zu dem wurde, der er dann war.
Zu den im Roman durchaus mit Sympathie und doch auch kritischer Distanz beschriebenen Fehlern dieses Mannes gehört ein gewisser Hang zum Opportunismus, was zunächst seltsam wirken mag in Anbetracht seines Mutes, sich immer wieder mit der Obrigkeit anzulegen. Doch neigte Thomasius wohl durchaus dazu, verlorene Dinge aufzugeben. So auch den Fall der „Voigterin“, wie Anna Voigt faktengerecht im Buch genannt wird. Je länger sich das Verfahren zog, je weniger er eine Möglichkeit sah, dass die Indizien und Beweise, die seiner Meinung nach eindeutig die Unschuld der jungen Frau bewiesen, vor Gericht Bestand haben würden, desto mehr zog Thomasius sich aus dem Verfahren zurück. Und überließ Anna und ihre Familie sich selbst.
Zu den Beweisen, die Thomasius als unumstößlich ansah, gehörte die titelgebende Lungenschwimmprobe. Dieser vom Arzt Johannes Schreyer durchgeführte Versuch sollte beweisen, dass ein Kind tot geboren wurde – wenn denn die dem toten Körper entnommene Lunge in einem Wasserbad sofort sank. Damit, so die Theorie, wäre bewiesen, dass nie Luft in diese Lunge eingeatmet wurde. Doch will die geistliche Obrigkeit diesen – letztlich wissenschaftlichen – Beweis natürlich nicht akzeptieren. Und zögert das Verfahren und das daraus resultierende Urteil immer weiter hinaus – letztlich wird es nahezu zehn Jahre dauern, bis über Anna Voigt, die bis dahin eine Tortur sowohl im konkreten als auch im übertragenen Sinne durchlebt hat, ein Urteil gesprochen wird.
Renberg schildert diesen Niedergang einer jungen Frau scheinbar distanziert, doch gerade durch die Distanz in der Erzählung, die auch die zeitliche Distanz in das ferne 17. Jahrhundert markiert, schimmert auch die Verlorenheit der Anna Voigt, aber auch die der Familie hindurch, wird fass- und fühlbar, ohne dass der Roman je Gefahr liefe, sentimental oder gar kitschig zu werden. Renberg nimmt die Perspektive des Scharfrichters ebenso ein, wie die des Vaters Voigt, dessen Rachefeldzug in den 90er Jahren in Zwischenkapiteln (jeweils „Buch“ genannt) geschildert wird; Renberg gibt aber auch Thomasius´ Gegnern, allen voran Carpzov, eine Stimme und lässt die Leser*innen dadurch von allen Standpunkten auf den Fall Anna Voigt blicken.
So erfahren wir vom Verfall der jungen Frau, die in den neun Jahren ihrer Haft nicht nur physisch gefoltert, sondern psychisch an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben wird. Wir erfahren durch die Rachegedanken des halbirren Vaters davon, wie die Familie zerfiel, auch aber, wie dieser Mann – selbst nicht hoch angesehen, da er aus dem Blickwinkel der Obrigkeit unlauter an seine Besitztümer gelangte – selbst wiederum auf andere herabblickte. Seinen treuen Gehilfen, ein Landsknecht des Dreißigjährigen Krieges, sieht er kaum als menschliches Wesen, eher ist der ihm reiner Handlanger, Werkzeug seiner Rache. Und auch die Sicht des Scharfrichters macht Renberg seinem Publikum deutlich – vielleicht die verstörendsten Aspekte des Romans – wenn er diesen kühl und ohne sonderliches Mitgefühl, aber auch frei von jeder Emotionalität über seinen Beruf und dessen Notwendigkeit resümieren lässt. Denn der Scharfrichter, ein wohlhabender und durchaus angesehener Mann in der Gesellschaft des Barock, war nicht nur für die Hinrichtungen verantwortlich, sondern auch für die Befragung, sprich: Folter, die Unterbringung und Versorgung der Delinquenten.
So entsteht, unaufgeregt und fern von jeglicher Sensationslust oder gar Lust am Spektakel, nach und nach das Panorama einer Gesellschaft, die noch geprägt ist von den zurückliegenden Dekaden, brutalisiert und oftmals gnadenlos, zugleich gottesfürchtig und obrigkeitsgläubig. Zugleich aber auch eine Gesellschaft, in der sich bereits etwas regt, das Neue sichtbar wird, ein Aufbruch zu spüren ist. Für dieses Neue, für diesen Aufbruch steht Christian Thomasius wie kaum ein anderer. Ein perfekter „Held“ für einen Roman, der so nah an der Wirklichkeit bleibt, wie irgend möglich und sich zugleich die Freiheiten nimmt, die dem Roman zustehen und der Literatur eben so wertvoll macht. Gerade weil Literatur in der Lage ist, uns etwas über die Wirklichkeit zu verraten, was einem Geschichtswerk, einem Sachbuch immer verwehrt bleiben wird. Und so ist dieser Roman eben doch auch eine versteckte Abhandlung über das Wesen der Literatur und über ihre Möglichkeiten. Und als solcher – aber nicht nur als solcher – ein wahrlich großer Wurf.