DIE VERBORGENEN
Linus Geschke führt in die Welt der stillen Mitbewohner ein
Phrogger sind stille Mitbewohner. Menschen, die sich in Häuser einschleichen und, ohne dass deren Bewohner es merken, eine Zeit lang an deren Leben teilnehmen. Versteckt in Kellern oder auf Dachböden, in Verstecken, die selten aufgesucht werden und deshalb relativ große Sicherheit bieten, nicht entdeckt zu werden. Selten ist ihnen daran gelegen, ihren „Wirten“ Schaden zuzufügen, eher wollen sie Teil haben an deren Geheimnissen.
In Linus Geschkes Roman DIE VERBORGENEN (2023) geht es um einen solchen Phrogger. Doch ist dessen Anliegen eben doch ein anderes als reiner Voyeurismus. Vielmehr dringt er tiefer und tiefer in die Geheimnisse der Familie Hoffmann ein und legt es sehr bewusst darauf an, diese ans Licht zu zerren und damit einen Keil in die Familie zu treiben. Und wie es eben so ist mit den bürgerlichen Familien und ihren sauberen Fassaden: Die Geheimnisse sind meist dreckig, gemein und oftmals banal. Geschke führt genüsslich eine solche bürgerliche Familie vor und ebenso genüsslich lässt er deren Fassade nach und nach in sich zusammenfallen. Erweitert und garniert ist sein Psychothriller aber noch um die Dimension eines wirklichen Kriminalfalls, wird doch in dem ostfriesischen Küstenstädtchen, wo die Handlung spielt, die junge Rebecca vermisst.
Reihum lässt Geschke Sven, Franziska und Tabea Hoffmann – Vater, Mutter und die kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag stehende Tochter – in der Gegenwartsform erzählen. Hinzu kommt eine weitere Stimme, die lediglich mit „Du“ gekennzeichnet ist und dem Phrogger selbst gehört. Später, im zweiten Teil des Romans, kommt noch Marco hinzu, ein Freund des heimlichen Mitbewohners der Hoffmanns. Durch die Vielstimmigkeit gelingt es Geschke, eindringlich von den Gedanken und eben auch Geheimnissen des Ehepaars zu erzählen, zugleich aber auch ein Spannungsverhältnis zwischen den Eheleuten aufzubauen, indem manche Situation unmittelbar aufeinanderfolgend aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert werden. Zudem bringt er mit Tabeas Perspektive eine glaubwürdige Teenager-Sicht auf ihre Eltern und die häusliche Situation sowie das Verschwinden von Rebecca, die an der Schule in Tabeas Stufe war, ins Spiel. Und durch das Stilmittel der Präsenserzählung steigert Geschke die Spannung noch zusätzlich, da – wir ahnen es von Beginn an – den Erzählenden alles zustoßen und nichts ausgeschlossen werden kann.
Was besonders auffällt und den Roman wahrlich meisterhaft wirken lässt, ist Geschkes Befähigung, mit den Versatzstücken einer banalen Ehekrise zu arbeiten und diese erstaunlich frisch aufzubereiten, vor allem aber sehr, sehr glaubwürdig zu bleiben. Das gelingt vor allem, weil hier nichts überdramatisiert, im Grunde nicht einmal dramatisiert wird. Geschke mischt scheinbar vollkommen voneinander unabhängige Aspekte und Handlungsstränge so gekonnt miteinander, dass nicht einen Moment der Eindruck entsteht, es hier mit einem überkonstruierten Roman zu tun zu haben. Wobei man es aber genau damit zu tun hat – einem durch und durch konstruierten Roman. Das ist wahrlich hohe Thriller-Kunst. Alles ist organisch miteinander verwoben, scheinbar eine Kleinstadtanekdote aus der deutschen Provinz. Die Hintergründe der Figuren sind glaubwürdig, ihre Geschichten, ihre Motive, ihre Ziele und Träume sind nachvollziehbar. Ebenso sind es die Entwicklungen, die die Geschichte nimmt. Denn im Grunde ist dies bei aller Spannung die Geschichte einer ehelichen Entfremdung und ein Bericht davon, wie wir uns nach und nach unsere Lebenslügen eingestehen müssen, wollen wir noch eine Chance auf die Zukunft haben.
Das ist mitreißend geschrieben und just in dem Moment, in dem die Leser*in denkt, nun flacht das Ganze aber etwas ab, nun wird die Sache vorhersehbar, gelingt Geschke dann ein echter Twist. Überraschungen im Text gelangen ihm auch zuvor schon, doch dieser Twist ist wahrlich unerwartet und beschäftigt die Leser*in eine ganze Weile, obwohl er, wenn man es genau nimmt, an der eigentlichen Handlung nicht viel ändert. Der dann beginnende zweite Teil des Romans ist mehr von Aktion und herkömmlichen Spannungsbögen geprägt, doch auch die meistert der Autor bravourös, so dass wirklich nie Lageweile aufkommt.
Geschke, spätestens seit den Jan-Römer-Romanen und deren Verfilmung einem breiteren Publikum bekannt, ist mit DIE VERBORGENEN ein ausgesprochen guter, ausgesprochen gut konstruierter Psychothriller in der Tradition von Barbara Vine und ähnlichen Kalibern gelungen. Bestens zu empfehlen.