DIE WIEDERERFINDUNG DER NATION. WARUM WIR SIE FÜRCHTEN UND WARUM WIR SIE BRAUCHEN

Aleida Assmann liefert einen höchst gelungenen Beitrag zu einem Diskurs, der nötig und längst überfällig ist

In ihrem jüngsten Buch DIE WIEDERERFINDUNG DER NATION. WARUM WIR SIE FÜRCHTEN UND WARUM WIR SIE BRAUCHEN (2020) nimmt Aleida Assmann den Dreisatz Nation – Patriotismus – Nationalismus unter die Lupe und untersucht u.a. das Verhältnis der Linken und der Liberalen zum Thema. Und sie bemüht sich, den Begriff jenen zu entreißen, die auf ihm aufbauend ein neues völkisches Denken etablieren wollen.

Assmann erläutert einige jüngere Konzepte zur Frage der Nation – darunter das von Francis Fukuyama – und erklärt den Zusammenhang mit der Identitätsfrage. Es werden jedoch auch ältere, historische Ansätze geschildert – darunter der „Mythos des Kriegserlebnisses“, der nach dem Ersten Weltkrieg verhinderte, die Nation nicht in Gegnerschaft zu anderen, sondern als eine unter vielen zu denken, und damit direkt in die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges führte. Sie untersucht die Ansätze eines „Verfassungspatriotismus“, wie ihn einst Jürgen Habermas bestimmte und wie ihn heute eine Historikerin wie Jill Lepore auch in den USA fordert, ebenso wie den des „Bekenntnisses zur Nation“ unter Vernachlässigung jener Teile der Geschichte, die die einheitliche Erzählung stören oder unterminieren würden. Diese Problematik betrifft – Assmann gibt anschauliche Beispiele – vor allem die USA, deren Narrativ sehr lange ein exklusives gewesen ist und wo wir gerade aktuell beobachten können, welch Verwerfungen es hat, wenn eine signifikante Minderheit, in diesem Fall der schwarze Teil der Bevölkerung, sich aufmacht, das eigene Narrativ in den Pool der nationalen Erzählungen einzubringen. Und einfordert, gehört zu werden. Doch Assmann weist ebenfalls darauf hin, daß diese Problematik durchaus auch Europa und Deutschland im Besonderen betrifft. Denn auch hier gibt es Parallelerzählungen – bspw. jene der Mitbürger mit dem berühmten „Migrationshintergrund“ – und identitäre Gruppen, gerade in der LGBTQ-Gemeinde, deren Geschichten oftmals ausgespart wurden zugunsten einer einheitlichen Narration.

Assmann verdeutlicht, worauf die Frage der Nation u.a. rekurriert: Erinnerungskultur, die bereits erwähnte Identitätsfrage, die Vielfalt eigener und fremder Erzählungen und deren Korrespondenz untereinander – und der gegenseitigen Befruchtung. Sie plädiert eindringlich dafür, die Nation wieder in einen verbindlichen Diskurs zurückzuholen, den auch die Linke bedient. Denn gerade die Linke in der Bundesrepublik vor 1989 hatte ein zutiefst gespaltenes Verhältnis zum Nationenbegriff, weshalb er nicht nur aus dem Diskurs selbst verschwand, sondern er wurde auch in Universitäten, in Schulen und den Feuilletons ausgeschlossen, vernachlässigt, übergangen. So konnte es einer wieder erstarkenden Rechten und den Populisten – und damit ist nicht der Konservatismus der CDU/CSU gemeint, auch nicht jener eines Frank Schirrmacher oder anderer konservativer Denker der jüngeren Vergangenheit – gelingen, den Begriff zu besetzen und mit ihrer höchsteigenen Agenda zu füllen. Dann geht es um Thymos und eine andere, bereinigte Erinnerungskultur, dann geht es um „Schuldkult“ und eine angeblich an sich selbst krankende Nation. Oder gleich ein an sich selbst verzweifelndes Volk.

Dabei sollte man unvoreingenommen mit dem Begriff umgehen, sollte sich verdeutlichen, wo die Nation als Sinnstiftendes, aber auch rein praktisch, immer noch das Konstrukt ist, das gewissen Problematiken und Krisen am besten begegnen kann. Die Coronakrise, in der sich Deutschland wie der Rest der Welt seit nun einem Jahr befindet, zeigt es deutlich: Obwohl Europa versucht, einheitlich und gemeinsam zu handeln, sind es letztlich die nationalen Bestimmungen, die sehr unterschiedliche Erfolge zeitigen. Und gerade in den Fragen des Impfstoffes kann man erkennen, daß das europäische Haus noch nicht wirklich funktioniert – und vielleicht auch falsch gebaut wurde, wo es zu sehr auf ökonomischen und zu wenig auf kulturellen Belangen fußt. In diese kulturellen Belange fällt auch eine gemeinsame Erinnerungskultur, ein Austausch unter Nationen. Auch ein Austausch über die Verletzungen, die es im Laufe einer letztlich ja gemeinsamen Geschichte immer wieder gegeben hat. Und es gibt diese Bemühungen ja längst, denkt man bspw. an die seit den 80er Jahren unternommenen Versuche, gemeinsam der deutsch-französischen Geschichte zu gedenken und dabei nationale Eigenheiten nicht aufzugeben.

Assmann schlägt eine ganze Reihe von Möglichkeiten vor, wie der Begriff der Nation wieder in ein gemeingesellschaftliches – nationales wie internationales – Narrativ zurückgeholt werden kann. Sie beschreibt Beispiele, wo solche Anstrengungen eben schon unternommen wurden und worauf dabei zu achten ist. Allerdings – und das ist vielleicht einer der wenigen Kritikpunkte an diesem im Übrigen gut lesbaren Buch – verengt sich diese Betrachtung dann doch wieder auf Gedenktage, Denkmäler und Museen. Sicher, Assmann weist auch eindringlich darauf hin, daß es eine neue Art der Vermittlung und Forschung eben in Schulen und Universitäten braucht, einen offeneren Diskurs, die Nation als Konstrukt, als Mythos und Erzählung zu behandeln, zu reflektieren. Doch wirkt es schlußendlich so, als liefen diese Überlegungen dann doch auf die offiziellen Termine und staatlich verordneten Gedenkmuster hinaus. Doch ist die Nation so nicht einzufangen. Wir werden uns neu mit der Frage nach dem Nationalen befassen und dabei auch angstfrei jene Bereiche berühren müssen, die zunächst abwegig und auch ein wenig unappetitlich erscheinen.

Wesentlich ist, daß es uns gelingt, Diskurse aufzubrechen, gesellschaftsfähig zu machen, weniger zu tabuisieren und offener zu gestalten, auch auf die Gefahr hin, gelegentlich „feindliches“ Terrain zu betreten und uns auch dort durchsetzen zu müssen. So schön Bekenntnisse zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ sind, so sehr dies als Utopie an einem doch noch fern erscheinenden Horizont wünschenswert wäre – noch ist das Konstrukt „Nation“ nicht überwunden und es ist doch zweifelhaft, ob dies in absehbarer Zeit so geschehen wird. Doch macht es keinen Sinn, einen solch wirkmächtigen Begriff, nicht nur historisch betrachtet, schlicht auszuschließen oder als Gegenstand zu diskreditieren; ganz im Gegenteil sollte auch die Linke ebenso wie die pluralistische, freiheitliche Gesellschaft generell, unvoreingenommener damit umgehen, eigene Ideen und Vorstellungen entwickeln und die „Nation“ so aus der Schmuddelecke der Deutschtümelnden, Völkischen, Ewiggestrigen herausführen und in einem neuen, auch positiven Bezugsrahmen setzen, wo sie ihre eigene, auch der Zukunft zugewandte Erzählung, die auch die Schattenseiten mit einbezieht und sich nicht geschichtsvergessen an sich selbst berauscht, entwickeln kann.

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